Yin und Yang – weshalb Japan sich trotz Hiroshima und Nagasaki auf Atomenergie einließ

70 Jahre Hiroshima und Nagasaki

11.08.2015 Am 6. August 1945 detonierte über Hiroshima die Atombombe „Little Boy“ und verwandelte die Stadt in ein brennendes Inferno. Drei Tage später, am 9. August 1945, erlitt Nagasaki das selbe Schicksal. Zehntausende Menschen starben noch am Tag der Explosionen, knapp 200.000 bis Ende des Jahres. Weitere Hunderttausende Menschen blieben ihr Leben lang gezeichnet – durch Verletzungen, Verbrennungen, den Folgen der Strahlenexposition, dem Verlust von Familienmitgliedern und Heimat, dem Trauma und der Stigmatisierung.

Die Bombardierungen von Hiroshima und Nagasaki, deren 70. Jahrestag wir diesen August begehen, haben sich wie kein anderes Ereignis in das kollektive Gedächtnis Japans eingebrannt. Die Überlebenden der Atombombenabwürfe, die Hibakusha, und mit ihnen der Großteil der japanischen Gesellschaft, setzt sich seither für eine Ächtung und Abschaffung aller Atomwaffen ein und solidarisiert sich mit Opfern der mehr als 2.000 Atomwaffentests in aller Welt. Diesen November wird in Hiroshima sogar erstmals ein „Nuclear Victims Forum“ stattfinden, in dem alle Geschädigten der Nuklearen Kette zu Wort kommen sollen, also auch die Anwohner verstrahlter Uranbergbaugebieten und den Opfern ziviler und militärischer Atomunfälle.  

Umso erstaunlicher ist es, dass Japan heute eine der größten und mächtigsten Atomindustrien der Welt hat. Das sogenannte Nuclear Village (Atomdorf), wie die japanische Atomlobby auch genannt wird, übt in Japan seit vielen Jahrzehnten maßgeblichen Einfluss auf Politik und Gesellschaft aus, ist eng verbandelt mit der regierenden Partei und die wohl einflussreichste wirtschaftliche Lobbygruppe im Land. Wie es dazu kommen konnte, dass sich ein Land, das so massiv unter den Folgen der militärischen Atomindustrie gelitten hat, dazu entscheidet, die zivile Atomindustrie zum Rückgrat seiner Wirtschaft zu machen, ist eine Frage, die wir diesen Monat mehrere unserer japanischen Kontakte gestellt haben.

Dr. Robert Jacobs, der am Hiroshima Peace Institute arbeitet, erklärt, dass die Japaner die gesamte Atomtechnologie in den Jahren nach den Atombombenabwürfen initial vehement ablehnten. Die USA, die nach dem Krieg mit Japan verbündet waren, berichten gar über eine „irrationale Angst der Japaner vor der Atomkraft“. Ähnlich dürfte es den meisten Menschen auf der Welt gegangen sein, hatte man doch die zerstörerische Kraft des Atoms im August 1945 erlebt. Doch die USA hatten ein Interesse daran, dieser globalen Ablehnung entgegenzuwirken. Das amerikanische Atomwaffenarsenal avancierte zum wichtigsten Standbein der Militärdoktrin im beginnenden Kalten Krieg und Atomwaffenstützpunkte sollten auch im Pazifik, bestenfalls auch in Japan, entstehen, um die Flugstrecke zur Sowjetunion möglichst zu verkürzen. Es galt also, die „irrationale“ Angst der Japaner in Akzeptanz zu verwandeln. Zu diesem Zweck initiierte der amerikanische Präsident Dwight Eisenhower 1953 das „Atoms for Peace“ („Atome für den Frieden“) Programm. Im Rahmen der Herstellung von waffenfähigem Plutonium entstanden nämlich große Mengen an Energie – Energie, die auch zur Stromproduktion genutzt werden konnte. Die weltweite Verbreitung dieser „friedlichen“ Atomenergie sollte das schlechte Image der Atomtechnologie übertünchen und den Weg für eine breite gesellschaftliche Akzeptanz ebnen.

Auch in Japan fand diese Idee rasch Anhänger – nicht zuletzt durch Politiker und Wirtschaftsunternehmen, die Einfluss, Macht und große Gewinne witterten. Politik und Wirtschaft sind in Japan traditionell sehr eng miteinander verwoben – im Fall der Atomkraft ist die Nähe zwischen Unternehmen, Politikern und Kontrollbehörden jedoch jenseits aller akzeptablen Grenzen. Zunächst mussten jedoch große gesellschaftliche Vorbehalte überwunden werden. Die Vertreter der Atomenergie wussten um die Bedeutung der Semantik im japanischen Denken und so modifizierte man zuallererst die Sprache: Während das Wort „Atom“ im Bezug auf Atomwaffen mit dem japanischen Begriff „kaku“ („Kern“) übersetzt wurde, wählte man für die „friedliche“ Atomenergie den Begriff „genshi-ryoku“ („Atom-Kraft“). Allein durch diese linguistische Differenzierung war es bereits möglich, die zivile von der militärischen Atomindustrie in den Köpfen vieler Japaner gedanklich zu trennen, auch wenn beide in Realität eng verzahnt waren, wie die Atomwirtschaft der USA zeigte.

Ein nächster symbolischer Schritt sollte die Errichtung eines ersten japanischen Atomkraftwerks mitten in der wieder aufgebauten Stadt Hiroshima sein – als deutliches Zeichen, dass dem „bösen“ Atom, welches die Stadt zerstört und so viele Leben gekostet hatte, nun das „gute“ Atom folgen sollte, welches helfen würde, die Stadt wieder aufbauen und Japan und seiner Wirtschaft neues Leben geben würde. Dieser Yin-Yang Gedanke dürfte bei vielen Japanern Anklang gefunden haben und selbst für einige Hibakusha eine Antwort auf die Frage gewesen sein: „Wozu musste das geschehen?“. Doch die überwiegende Mehrheit der Hibakusha und der Bevölkerung Hiroshimas blieb bei der Ablehnung der Atomtechnologie und so scheiterten die Pläne eines Atomkraftwerks in Hiroshima am vehementen Widerstand der örtlichen Bevölkerung. Zwei Drittel aller Hibakusha lehnen die Atomenergie laut einer neuen Studie der Zeitung Asahi Shimbun bis heute ab.

Um die zivile Atomenergie dennoch in Japan zu verwurzeln, finanzierten die USA eine groß angelegte Öffentlichkeitskampagne, die unter dem Titel „Friedliche Verwendung von Atomkraft“ zwischen 1955 und 1957 durch zehn japanische Städte tourte und sogar mehrere Jahre lang einen festen Platz im Friedensmuseum von Hiroshima beanspruchte – sehr zum Unmut vieler Hibakusha, die zusehen mussten, wie Artefakte der Atombombenangriffe und Teile der permanenten Ausstellung zugunsten der Atomenergie-Werbung entfernt wurden. Flankiert wurde diese intensive Propaganda der Atomlobby von euphorischen Berichten in regierungsnahen Fernsehsender und Zeitungen. Der Slogan „Die friedliche Atomkraft wird unsere Wirtschaft stärken“ war bald allgegenwärtig und verfehlte nicht seine Wirkung in der fortschritts- und technologiefreundlichen Bevölkerung. Der Begriff „kaku“ wurde in Japan fortan mit dem schrecklichen Massenmord von Hiroshima und Nagasaki assoziiert, der Begriff „genshi-ryoku“ mit wirtschaftlichem Wachstum und Zufriedenheit.

Ab 1956 entstand in der kleinen Stadt Tokai-mura nordöstlich von Tokio das japanische Atomenergie-Forschungsinstitut. Es folgten Fabriken zur Herstellung von atomarem Brennstoff, Anlagen zur Wiederaufbereitung von Brennelementen und Japans erstes Atomkraftwerk. Tokai-mura wurde zum Herzstück der japanischen Atomwirtschaft - aber auch zum Sinnbild für eine korrupte, unterregulierte und unfallgewohnte Industrie, die vor den Reaktorunglücken von Fukushima 58 Atomreaktoren an mehr als 20 Standorten umfasste. Zahlreiche Lecks, Explosion und Brände, die jeweils mit zum Teil massiven Austritten von Radioaktivität einhergingen prägten das Bild der japanischen Atomindustrie bereits lange vor dem mehrfachen Super-GAU von Fukushima.  „Viele einfache Japaner fragen sich heute, wie man sich in einem Land, welches regelmäßig von Erdbeben, Tsunamis und Vulkanausbrüchen heimgesucht wird, so blauäugig auf die Atomenergie einlassen konnte und hinterfragen heute die wirtschaftlichen und politischen Kräfte, die diese Gefahren seit damals wider besseren Wissens ignorierten,“ so Dr. Jacobs vom Hiroshima Peace Institute. Hinzu kam eine Kultur des Wegsehens und der Kollusion zwischen Politik, Wirtschaft und Kontrollbehörden, die ursächlich zu den Atomkatastrophen von Tokai-mura und Fukushima führte. So kam der Untersuchungsausschuss des japanischen Parlaments im Juni 2012 zu dem Schluss, dass es sich bei der Atomkatastrophe von Fukushima weniger um die Folge einer Naturkatastrophe, als vielmehr um ein “Unglück von Menschenhand” handelte, verursacht durch die “Fahrlässigkeit der Aufsichtsbehörden und des jahrelangen Versagens in der Implementation ausreichender Maßnahmen für den Fall eines Atomunglücks, sowie der Untätigkeit vorheriger Regierungen und Aufsichtsbehörden bezüglich eines Krisenmanagements.”

Gerade diese Erkenntnis, dass es diesmal kein äußerer Feind, sondern eigenes staatliches und gesellschaftliches Versagen war, welches die Bevölkerung erneut hoher Mengen an Radioaktivität ausgesetzt hat, führt bei vielen der Hibakusha zu Resignation und Fassungslosigkeit. Jacobs schreibt, dass die Hibakusha ein Ende der nuklearen Ära herbeisehnen, eine Abschaffung von Atomwaffen und eine Welt, in der niemand mehr das erleiden muss, was ihnen widerfahren ist. Stattdessen sehen sie sich nun, nach der Atomkatastrophe von Fukushima, mit Bildern konfrontiert von Frauen, Kinder und Alten die in Flüchtlingslagern leben, weil ihre Heimat verstrahlt wurde, die mit Dosismessgeräten zur Schule gehen, lebenslang zu Vorsorgeuntersuchungen gehen müssen und die, wie sie, erhöhte Krebsraten, genetische Effekte ihrer Nachkommen und gesellschaftliche Stigmatisierung fürchten. Diese Bilder stellen das exakte Gegenteil von der Zukunft dar, auf die sie eigentlich hinarbeiten. Die Psychologin Frau Prof. Norika Kubota von der Iwaki Meisei Universität in Fukushima ergänzte: „Hiroshima leidet bis heute unter den Folgen der Strahlenbelastung von vor 70 Jahren. Aus diesem Grund haben die Menschen dort eine besonders sentimentale Beziehung zu denjenigen in Fukushima, die derzeit ebenfalls mit Strahlenbelastung zu kämpfen haben.“

Weiterlesen:
·   Robert Jacobs: „How Nuclear Power Followed Nuclear Weaponry into Japan“
·   Noriko Kubota: „Hiroshima and Fukushima“
·   Hibakusha Worldwide: „Tokai-mura“

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