Aus IPPNW-Forum 175/2023

Militärangriffe auf Atomanlagen müssen verboten werden

Die IPPNW fordert die Mitgliedsstaaten des Nichtverbreitungsvertrages zum Handeln auf

Nur elf Tage nach Kriegsbeginn, am 4. März 2022, wurde das ukrainische AKW Saporischschja von russischem Militär besetzt. Nach der völkerrechtswidrigen Annexion der ukrainischen Region Saporischschja ordnete Präsident Putin an, dass das AKW mit seinen sechs Reaktoren in russischen Besitz übergeht.

Der russische Atomkonzern Rosatom hat am 3. Oktober 2022 mit einem Gründungskapital von zwei Milliarden Rubel die „JointStock Company Zaporozhye NPP Operating Organization (ZNPP OO JSC)“ ins Leben gerufen. Die Aktiengesellschaft mit Rosatom als Hauptaktionär soll als neue Betreibergesellschaft für das Kernkraftwerk fungieren. Aus russischer Sicht ist das AKW damit russisches Eigentum geworden – ein Akt, der gegen das Völkerrecht verstößt. Das Betriebspersonal besteht weiterhin aus ukrainischen Ingenieuren und Fachpersonal, denn ein Austausch ist nicht so einfach möglich. [1]

Im August 2022 kam es zu Luftangriffen. Die Bombardements hätten laut Behörde Energoatom ein Hilfsgebäude sowie eine Stick- und Sauerstoffstation „schwer beschädigt“. Durch die Luftangriffe sei das „Notfallschutzsystem“ ausgelöst und einer der Atomreaktoren heruntergefahren worden. [2] Die Kampfhandlungen halten seitdem an.

Beide Seiten beschuldigen sich, Verursacher der Artilleriebeschüsse zu sein und damit terroristische Anschläge auf das AKW zu planen. Die Sprengung des nahegelegenen Kachowka-Staudamms spitzte die Lage weiter zu: Das Wasserreservoir dient der kontinuierlichen Befüllung des Kühlungsreservoirs am AKW. Im Juli 2023 haben Expert*innen der Internationalen Atomenergieorganisation IAEO Minen am AKW entdeckt. So sind das AKW und seine Sicherheit zu einem Faustpfand im Ukrainekrieg geworden. Die Gefahr der Kernschmelze im AKW wächst. Doch die Menschen in der Ukraine und in den angrenzenden Ländern Europas haben ein Recht darauf, von nuklearer Verseuchung verschont zu bleiben.

Diese Situation war der Ausgangspunkt dafür, dass alle IPPNW-Sektionen einen Auftrag an Dr. Nikolaus Müllner vom Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften [Universität für Bodenkultur, Wien) gaben, um die Auswirkungen und Verbreitung der Kontamination durch eine Kernschmelze am AKW Saporischschja zu beschreiben. In Wien sollte während der zweiwöchigen Vorbereitungskonferenz zum NVV (Nichtweiterverbreitungsvertrag für Atomwaffen) eine internationale Pressekonferenz zur Studie durchgeführt werden. Gleichzeitig sollte die achtköpfige internationale IPPNW Delegation auf der Konferenz Lobbyarbeit bei den Delegierten machen.

Das Ziel: Die Mitgliedsstaaten des Atomwaffensperrvertrages sollten in ihrer Abschlusserklärung eine deutliche Verurteilung jeglicher Angriffe auf Atomanlagen, einschließlich Reaktoren, Lager für abgebrannte Brennelemente und andere kritische Infrastruktur oder Personal beschließen. Atomkraftwerke dürften nicht als Lager für schwere Waffen oder als Stützpunkt für militärisches Personal genutzt werden. Alle Mitgliedsstaaten müssten zudem den Schutz aller Strukturen, Systeme und Komponenten, die für den sicheren Betrieb der Atomkraftwerke wesentlich sind, verbindlich vereinbaren.

Ergebnisse
Für seine Modellierung nahm Dr. Müllner an, dass es in einem der Reaktoren zu einer Kernschmelze käme und 20 Prozent des radioaktiven Isotops Cäsium-137 aus dem Reaktorkern entweichen würden. Dessen Ausbreitung glichen er und sein Team mit langjährigen Wetterdaten ab. Die Begrenzung auf nur einen Reaktor ergab sich aus der Tatsache, dass es für dieses Szenario schon umfangreiche Datensätze aus früheren Untersuchungen am Institut gab, die Dr. Müllner für diese Kurzstudie nutzen konnte. Eine genauere Auswertung von neuen Berechnungen für den Fall, dass alle sechs Reaktoren von einer Kernschmelze betroffen wären und auch das Abklingbecken für die abgebrannten Brennelemente miteinbezogen wäre, ist für den späten Herbst dieses Jahres geplant.

Generell sind bei einem Angriff auf Atomkraftwerke in Kriegssituationen zwei unterschiedliche Szenarien zu unterscheiden: Ein militärischer Angriff mit dem Ziel, das Atomkraftwerk zu zerstören oder ein militärischer Angriff mit dem Ziel, das Atomkraftwerk zu kontrollieren. Im Ukrainekrieg ist das Ziel offensichtlich die Kontrolle des AKW, nicht dessen Zerstörung.

In seiner Studie stellte Dr. Müllner die Kontamination mit Cäsium 137 für zwei Zonen [3] vor: 1.480 KBq / m2 (entsprechend der Sperrzone bzw. Evakuierungszone in Tschernobyl) und 185 KBq / m2 (entsprechend der Zone von hoher Kontamination, wo nach Tschernobyl landwirtschaftliche Produktion nicht mehr möglich war). Zur Sperrzone würde nach seinen Berechnungen eine Zone mit mindestens 30 km Entfernung rund um das AKW gehören. Mit geringerer Wahrscheinlichkeit könnte sich diese Zone in gewissen Richtungen bis zu 200 Kilometer erstrecken. In diesem Fall müsste auch dort eine Evakuierung der betroffen Bevölkerung organisiert werden – im Krieg wohl kaum möglich.

Von der ausgeprägten Cäsium-Kontamination mit 185 KBq wären mit hoher Wahrscheinlichkeit die Ukraine sowie Nachbarländer wie Russland oder Moldau betroffen. Mit einer niedrigeren Wahr-scheinlichkeit von 1:100 bis 3:100 könne es zu solchen Folgen auch in Polen, der Slowakei, Tschechien, Ungarn oder Rumänien kommen. Dies hätte katastrophale Folgen für Millionen in diesem Radius lebenden Menschen – und die Landwirtschaft, deren Erzeugnisse dadurch auf dem Binnen- und Weltmarkt fehlen.

In unserer IPPNW-Präsentation und in den Lobbygesprächen fokussierten wir auf die Auswirkungen solch schwerer Kontamination auf Umwelt und Gesundheit. Denn jede Kernschmelze, ob durch militärische Aktivitäten verursacht oder in Friedenszeiten durch technische Sicherheitsdefizite bedingt, führt zu schweren dauerhaften Schäden für die Umwelt und die menschliche Gesundheit.

Eine Kernschmelze im AKW Saporischschja ist am ehesten mit der Fukushima-Kernschmelze zu vergleichen. Dort dauerte es 26 Tage, bis die Kernschmelze unter Kontrolle gebracht werden konnte – in Friedenszeiten. Wie lange es in einem Kriegsgebiet dauern würde, ist nicht einzuschätzen. Eine Cäsium-Kontamination alleine über der Ukraine würde die Landwirtschaft und damit die Ernährung der ukrainischen Bevölkerung zunichtemachen, ganz zu schweigen von dem Stopp der landwirtschaftlichen Exporte. Inwieweit eine Hungersnot für die Bevölkerung verhindert bzw. eingedämmt werden könnte, ist nicht abzusehen. Die zu erwartenden gesundheitlichen Schäden betreffen Leukämie und andere nichtmaligne Erkran-kungen bei Kindern und Jugendlichen. Erhebliche Störungen bei Schwangerschaft und Geburt mit schweren Missbildungen und ein Anstieg von Krebserkrankungen sowie Herz-/Kreislauferkrankungen bei Erwachsenen wären die Langzeitfolgen.

Bezüglich unserer Lobbyarbeit mit den Delegierten stießen wir dieses Jahr auf der NPT PrepCom auf großes Interesse und Wohlwollen. Der Co-Präsident der IPPNW, Carlos Umaña, forderte die Vertragsstaaten in einer allgemeinen Erklärung auf, „die Verwundbarkeit von Atomreaktoren als militärische Ziele“ anzuerkennen und das „Prinzip der Ausweisung von entmilitarisierten Zonen um alle Atomkraftwerke einzuführen.“ Denn die Gleichgültigkeit gegenüber den Risiken von Atomwaffen und Atomenergie bedrohe alle drei Säulen des Nichtverbreitungsvertrages, so Umaña.

So gesehen ist es ein Erfolg, dass unser Appell an die Delegierten im zusammenfassenden Dokument [4] und noch deutlicher in der Stellungnahme des Vorsitzenden der Konferenz [5] aufgenommen wurde. Leider konnte sich das Vorbereitungskomitee der Konferenz jedoch nicht auf ein gemeinsames Abschlussdokument einigen, wie es auch schon 2022 der Fall war.

„Saporischschja ist eine Karte in einem perfiden Erpressungsspiel“, fasst die Wissenschaftsjournalistin Dagmar Röhrlich im Deutschlandfunk die verfahrene Lage zusammen. Ihr zufolge steht zu befürchten, dass Atomanlagen in Zukunft zu einem legitimen Ziel der Kriegsführung werden könnten. [6] Damit das nicht passiert, treten viele IPPNW-Sektionen der Nutzung von Atomenergie entschieden entgegen – im Rahmen ihrer Lobbytätigkeiten, ihrer Kampagnen und bei internationalen Protestaktionen an allen Teilen der nuklearen Lieferkette.

Quellen:

[1] https://www.rnd.de/politik/ukraine-akw-saporischschja-von-russischem-staatskonzern-rosatom-uebernommen-2CHA73WEKFAONPN4GGK45MC2ZQ.html
[2] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/saporischschja-atomkraftwerk-ukraine-krieg-russland-100.html
[3] Anmerkung: Jod 131 ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten, weil alle sechs Reaktoren schon in abgeschaltetem Zustand sind: 5 Reaktoren im Zustand Kalter Abschaltung, ein Reaktor im Zustand heißer Abschaltung, d.h. dass er schnell wieder hochgefahren werden kann.
[4] https://reachingcriticalwill.org/images/documents/Disarmament-fora/npt/prepcom23/documents/CRP3.pdf
[5] https://reachingcriticalwill.org/images/documents/Disarmament-fora/npt/prepcom23/documents/6.pdf
[6] https://www.deutschlandfunk.de/kommentar-bewertung-akw-saporischschja-gefahr-suendenfall-dlf-9055ef0f-100.html


Dr. Angelika Claußen ist Vorsitzende der deutschen IPPNW.

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