17.06.2011 RWE hat gestern erklärt, das Atomkraftwerk Biblis "nicht mehr zur regulären Stromerzeugung einzusetzen". Damit hat der Atomkonzern lediglich das Vorhaben aufgegeben, den Atommeiler bis zum Inkrafttreten der Atomgesetznovelle nochmals für wenige Wochen ans Netz zu nehmen.
Keineswegs vom Tisch ist der potenzielle Einsatz von Biblis B als so genannte Kaltreserve, die nicht als "reguläre Stromerzeugung" zu werten ist.
Derzeit verhandelt die Bundesnetzagentur mit der Atomindustrie und der Politik darüber, Biblis B, Neckarwestheim-1 oder Philippsburg-1 als Kaltreserve heranzuziehen. Biblis B könnte also nochmals in zwei Wintern ans Netz gehen, obwohl das Reaktorschutzsystem von Biblis B nicht den Anforderungen des kerntechnischen Regelwerks entspricht (siehe gestrige IPPNW-Pressemitteilung "Biblis B: In 15 Minuten zum Super-GAU").
Die IPPNW hat sich gestern an die Bundesnetzagentur gewandt und darauf hingewiesen, dass Biblis B aus sicherheitstechnischer wie auch aus rechtlicher Sicht als Kaltreserve nicht in Betracht kommt. Die Behörde wurde aufgefordert, generell auf die Empfehlung einer nuklearen Kaltreserve zu verzichten (siehe Schreiben unten).
Die zahlreichen Sicherheitsmängel der zweiten Druckwasserreaktor-Generation (Biblis B, Neckarwestheim-1) und der Siedewasserreaktoren der Baureihe 69 (u.a. Philippsburg-1) werden hinter den Kulissen sehr ernst genommen. Anders als öffentlich der Eindruck erweckt wird, geht es dabei keineswegs primär um das Thema Flugzeugabsturz. Damit versucht man nur das Publikum seit zehn Jahren zu langweilen.
Die extremen Gefahren, die beispielsweise von der "kritischen Schweißnaht" am Reaktordruckbehälter der Baureihe 69 ausgehen, dürften mit ausschlaggebend dafür gewesen sein, diese Anlagen stillzulegen. Siehe dazu u.a. die IPPNW-Pressemitteilung "Brisanter Schwachstellenbericht" vom 27. Oktober 2010:
http://www.ippnw.de/startseite/artikel/1f8648cb56/brisanter-schwachstellenbericht.html
Umso unverständlicher ist es, Philippsburg-1 nun als Stand-By-Atomkraftwerk auch nur in Erwägung zu ziehen.
Schreiben der IPPNW an die Bundesnetzagentur vom 16. Juni 2010:
Sehr geehrter Herr Kurth,
Sehr geehrte Frau Dr. Henseler-Unger,
Sehr geehrter Herr Kindler,
Sehr geehrter Herr Dr. Patt,
Sie erwägen, die Nutzung des Atomkraftwerksblocks Biblis B als so genannte Kaltreserve für die Stromversorgung in Süddeutschland zu empfehlen.
Ich möchte Sie in diesem Zusammenhang auf die nachfolgende Pressemitteilung der atomkritischen Ärzteorganisation IPPNW hinweisen, wonach diese Anlage eine extrem gefährliche Sicherheitslücke aufweist. Die in der Pressemitteilung dargelegten Fakten sind offiziellen Dokumenten entnommen und Gegenstand eines beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof anhängigen Verfahrens.
Die zuständigen Behörden dürften Ihnen auf Nachfrage bestätigen, dass die Sachverhalte zutreffend dargestellt sind.
Die Nutzung von Biblis B als Kaltreserve kommt vor diesem Hintergrund sowohl aus sicherheitstechnischer als auch aus rechtlicher Sicht nicht in Betracht. Ein Atomkraftwerk, welches nicht den Anforderungen des kerntechnischen Regelwerks entspricht, darf nicht weiterbetrieben werden.
Ich bitte Sie, dies bei Ihren Erwägungen zu berücksichtigen.
Ich erachte es als unwahrscheinlich, dass man tatsächlich auf einen Atomkraftwerksblock als Reserve zurückgreifen muss. Es stellt sich zunächst die Frage, welches Maß an Konservativitäten man hierbei sinnvollerweise anlegt.
Weiterhin ist meines Erachtens neben dem Einsatz konventioneller Kraftwerke auch ein eventueller kurzzeitiger Stromimport zielführend. Das "europäische Verbundnetz" dient doch u.a. dem Zweck, die Versorgungssicherheit auch im Kurzfristbereich zu erhöhen bzw. zu gewährleisten. Warum sollte man darauf nun plötzlich nicht zurückgreifen dürfen.
Möglicherweise werden auch zu konservativen Annahmen hinsichtlich der Grundlastfähigkeit der erneuerbaren Energien in Süddeutschland gemacht.
Nicht zuletzt wäre auch die Möglichkeit kurzzeitiger Stromverbrauchs-Drosselungen in Betracht zu ziehen. Warum, sollte es tatsächlich einmal für drei Stunden hart auf hart kommen, kann man nicht die Industrie, das Gewerbe und die Privatverbraucher dazu auffordern, in dieser Zeit ihren Verbrauch zu drosseln? Ich bin überzeugt davon, selbst die industriellen Verbraucher würden mit Freude in hinreichendem Maße kurzzeitig Stromverbrauchsspitzen vermeiden können und wollen, wenn Sie damit beitragen können, auf ein gefährliches Stand-By-Atomkraftwerk zu verzichten.
Ich bitte Sie, von der Empfehlung einer nuklearen Kaltreserve abzusehen, da auch Philippsburg-1 und Neckarwestheim-1 gefährliche Sicherheitsdefizite aufweisen und ebenso wie Biblis an erdbebengefährdeten Standorten errichtet wurden. Zuletzt gab es im Dezember 2010 ein mittelschweres Erdbeben im Rheingraben bei Mainz und die genannten Anlagen sind nur unzureichend gegen die an den jeweiligen Standorten möglichen Erdbeben ausgelegt.
Mit freundlichen Grüßen
Henrik Paulitz
Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärze in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW)
Email: paulitz[at]ippnw.de
Tel. 0621-39 72 668
www.ippnw.de
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