Artikel von Dr. Angelika Claußen

Die humanitäre Situation im Gazastreifen ist außer Kontrolle

Nach dem brutalen Angriff von Hamas-Kämpfern auf Israel mit über 1.200 toten Zivilist*innen und Sicherheitskräften und mehr als 5.400 Verletzten hat die israelische Regierung angekündigt, die Terrororganisation Hamas vollständig zu zerstören. Gleichzeitig beteuert die israelische Armee, die Zivilbevölkerung im Gazastreifen schützen zu wollen. Sie beschuldigt die Hamas, Palästinenser*innen als menschliche Schutzschilde zu missbrauchen, was völkerrechtlich verboten ist. Das israelische Militär informiert die Menschen mit Telefonanrufen und wirft Flugblätter ab, mit denen es die Bewohner*innen vor Angriffen warnt. Am 1. Dezember 2023 veröffentlichte das israelische Verteidigungsministerium eine detaillierte Online-Karte, in der der Gazastreifen in Hunderte von kleinen Gebieten aufgeteilt ist. Die Gebiete, die für die Evakuierung vorgesehen sind, umfassen fast 30 Prozent des Gazastreifens. Doch die wiederholten Unterbrechungen der Telekommunikation und der Mangel an Strom erschweren es den Menschen auf diese Informationen zuzugreifen.

Zudem stellt sich die Frage, wohin die Menschen in Gaza überhaupt fliehen sollen. Es gibt keine sicheren Orte oder Schutzräume. Laut UN-Generalsekretär António Guterres sind mehr als 80 Prozent der Bevölkerung im Gazastreifen inzwischen zu Binnenflüchtlingen geworden. Das israelische Militär hat seit Beginn des Krieges im Gazastreifen vor gut zwei Monaten laut eigenen Angaben schon mehr als 22.000 Ziele angegriffen - in einem Gebiet, das nur etwas größer ist als die Stadt München. Im Gazastreifen wurden laut Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza mehr als 19.000 Palästinenser*innen getötet und etwa 50.000 verletzt.

Zu den Zielen gehörten auch Krankenhäuser. Viele Völkerrechtler bewerten den Schutz von Zivilist*innen und zivilen Einrichtungen als vorrangig. Die Konfliktparteien müssen alles tun, um medizinische Einrichtungen und ihr Personal zu schützen, auch wenn aus einem Krankenhaus heraus gegnerische Soldaten feuern. Wenn die Hamas die Regeln des humanitären Völkerrechts missachtet, so ist das kein Freifahrtschein für die israelische Armee, das Völkerrecht ebenfalls zu missachten.

Die New York Times beschreibt die Zahl der zivilen Todesopfer für einen Krieg als extrem hoch. Im Gazastreifen würden mehr Zivilist*innen getötet als selbst in den tödlichsten Momenten der US-geführten Angriffe im Irak, in Syrien und Afghanistan. Zum Vergleich: Im Kampf um die Rückeroberung der syrischen Stadt Raqqa von ISIS zwischen Juni und Oktober 2017 töteten die US-geführten Koalitionstruppen laut einem Bericht von Amnesty International und Airwars (2019) über 1.600 Zivilist*innen.

Die israelische Regierung zieht Vergleiche zwischen der Militärintervention im Gazastreifen und dem Kampf gegen ISIS von 2016 bis 2017 in Mossul im Irak. Dort lag die Zahl der zivilen Todesopfer während der neunmonatigen Schlacht zwischen 9.000 und 11.000 Toten. Im Gegensatz zum Gazastreifen konnten die Menschen sowohl aus Raqqa als auch aus Mossul fliehen.

Laut einer aktuellen Untersuchung des unabhängiges, gemeinnütziges Online-Magazin +972, das von einer Gruppe palästinensischer und israelischer Journalisten betrieben wird, führen eine erweiterte Erlaubnis der israelischen Armee, nicht-militärische Ziele zu bombardieren sowie der Einsatz eines Systems künstlicher Intelligenz zu mehr zivilen Opfern. Im Vergleich zu früheren israelischen Angriffen auf den Gazastreifen habe die Armee die Bombardierung von Zielen, die nicht eindeutig militärischer Natur sind, erheblich ausgeweitet. Dazu gehörten private Wohnhäuser ebenso wie öffentliche Gebäude, Infrastruktur und Hochhäuser. So habe die israelische Militärführung in einem Fall wissentlich die Tötung Hunderter palästinensischer Zivilisten genehmigt, bei dem Versuch, einen einzelnen hochrangigen Hamas-Militärkommandeur zu ermorden. Mehrere der Quellen, die mit den Journalist*innen unter der Bedingung der Anonymität sprachen, bestätigten, dass die israelische Armee über Dateien zu den meisten potenziellen Zielen im Gazastreifen verfügt, in denen die Anzahl der Zivilist*innen angegeben ist, die bei einem Angriff auf ein bestimmtes Ziel wahrscheinlich getötet werden. Die Untersuchung basiert auf Gesprächen mit sieben aktuellen und ehemaligen Mitgliedern des israelischen Geheimdienstes sowie auf palästinensischen Zeugenaussagen, Daten und Unterlagen aus dem Gazastreifen und offiziellen Erklärungen des IDF-Sprechers und anderer israelischer staatlicher Institutionen.

UNO-Generalsekretär Guterres hat die Situation im Gaza-Streifen als "humanitäre Katastrophe epischen Ausmaßes" beschrieben. Dort gebe es keinen sicheren Ort. In einem Brandbrief an den Sicherheitsrat schrieb er: "Nirgendwo in Gaza ist es sicher. Inmitten von Dauerbombardierung durch die israelischen Streitkräfte, und ohne Obdach oder das Nötigste zum Überleben, erwarte ich, dass die öffentliche Ordnung bald komplett zusammenbricht." Auch der UN-Hochkommissar Ulrich Türk erklärte nach der Wiederaufnahme der Bodenoffensive: "Infolge der israelischen Feindseligkeiten und des Befehls, den Norden und Teile des Südens zu verlassen, werden Hunderttausende in immer kleineren Gebieten im südlichen Gazastreifen ohne angemessene sanitäre Einrichtungen, Zugang zu ausreichender Nahrung, Wasser und medizinischer Versorgung zusammengepfercht, während um sie herum Bomben regnen". Laut dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell ist die Lage im Gazastreifen apokalyptisch und entspreche der Zerstörung von deutschen Städten im Zweiten Weltkrieg.

Luise Amtsberg, Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung betonte: "Die humanitäre Lage im Gazastreifen ist außer Kontrolle geraten. Es fehlt an allem." Nicht nur das Kriegsgeschehen selbst führe zu Tausenden von Toten. Auch die humanitäre Situation habe sich mittlerweile so entwickelt, dass Krankheiten und der Verlust von Infrastruktur das Leben der Menschen bedrohe. Der Generaldirektor der WHO Tedros Adhanom Ghebreyesus hat vor einem Zusammenbruch des Gesundheitssystems in Gaza gewarnt und eine erneute Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas gefordert. Seit dem 7. Oktober wurden mindestens 286 Gesundheitshelfer*innen getötet und 57 Krankenwagen getroffen und beschädigt, so das Gesundheitsministerium in Gaza. Der Guardian veröffentlichte am 1. Dezember 2023 eine Untersuchung zu den Schäden an Krankenhäusern, Gesundheitseinrichtungen und Krankenwagen im nördlichen Gazastreifen im Zeitraum von 21 Tagen der israelischen Offensive gegen die Hamas. Dafür sammelten und analysierten die Journalist*innen mehr als 200 Beweise, darunter Videos, Fotos, Nachrichtenmaterial und Satellitenbilder aus der Zeit zwischen dem 21. Oktober und dem 11. November 2023 und sprachen mit internationalen humanitären Organisationen. Von den 10 Krankenhäusern sind laut dieser Untersuchung nur noch zwei in Betrieb. Beide Kinderkrankenhäuser in Gaza seien nicht mehr funktionsfähig, ebenso wie das einzige spezielle Krebskrankenhaus und das psychiatrische Krankenhaus im Gazastreifen.

Noch immer befinden sich etwa 145 Geiseln in Gaza - darunter vermutlich noch 15 Frauen und Kinder. Seit Beginn der israelischen Bodenoperationen wurden mehr als 100 israelische Soldat*innen in Gaza getötet, weitere 559 wurden nach Angaben des israelischen Militärs verletzt. Laut Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu haben sich in den letzten Tagen Dutzende Hamas-Kämpfer den israelischen Streitkräften ergeben, tausende seien bereits getötet worden. Es ist überfällig, den Kreislauf der Gewalt zu stoppen. Die Waffen müssen schweigen, damit der Verhandlungsprozess für eine politische Lösung des Konflikts mit allen beteiligten Konfliktparteien eingeleitet werden kann. Dazu müssten die USA und die EU Staaten ihre Waffenexporte an Israel jetzt aussetzen, um ihrer Forderung nach Waffenstillstand die nötige Ernsthaftigkeit zu verleihen.


Dr. Angelika Claußen, Vorsitzende der internationalen Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzt*innen in sozialer Verantwortung

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