Indien

von Lena Weng

„Warum wolltest du nach Indien kommen?“ war eine Frage, die ich in den letzten Wochen oft beantworten musste - und ich habe das immer sehr ehrlich getan. Ich wollte gar nicht nach Indien kommen, bzw. es war nicht meine Entscheidung. Als ich mich für „famulieren & engagieren“ der IPPNW bewarb und Wünsche angeben durfte, wohin es für mich sehr gerne oder auf gar keinen Fall gehen sollte, habe ich kein Land favorisiert oder ausgeschlossen. Neu und unbekannt wäre alles für mich gewesen. Und wenn man die Chance auf einen Austausch bekommt, mit einem Monat Famulatur und einem weiteren, um das Land, seine Menschen und ein Friedens-, Gesundheits- oder Bildungsprojekt besser kennen zu lernen, ist es vielleicht auch ganz schön, sich von etwas bzw. jemand anderem leiten zu lassen, als von den eigenen wagen Ideen und Wünschen. So dachte ich mir das. Und war dann doch sehr überrascht, als ich das Angebot bekam, mich nach Indien auf zu machen. Aus einem unbestimmten Gefühl heraus, was dies das einzige Land, vor dem mir ein bisschen mulmig war. Aber inzwischen kann ich sagen, es war eine sehr gute Entscheidung – wenn auch nicht meine.

Zu Beginn wusste ich das noch nicht und startete meine Zeit und Famulatur in Nashik mit gemischten Gefühlen. Das Erste was mir in den Sinn kommt, wenn ich an die Ärzt*innen im Krankenhaus denke, sind die Worte produktiv und unermüdlich. Alle halten fast immer ein Handy in der Hand und zwar nicht nur, um damit Fotos spannender Hautbefunde zu machen. Nein, in Momenten, in denen man nicht in Patient*innenversorgung involviert ist, werden wissenschaftliche Paper gelesen, Unklarheiten nachgeschlagen oder abfotografierte Notizen wiederholt.
Ich verbrachte jeweils zwei Wochen in der Dermatologie und Orthopädie. Besonders bei den Dermatolog*innen konnte ich sehr von der Lehre für die Assistenzärzt*innen profitieren und war ganz beeindruckt vom Fachwissen aller und wie gut sie Zusammenhänge erklären können.
Darüber hinaus war es für mich natürlich schwer zu folgen, da ich kein Wort der Patient*innengespräche verstand, ohne Kenntnisse der zahlreichen, mir angebotenen Sprachen. Durch die Dokumentation auf Englisch, konnte ich aber hin und wieder einen Blick auf die Notizen zur Anamnese werfen. Und Dermatologie und Orthopädie suchte ich mir nicht ohne Grund aus, habe sie doch den Vorteil, dass man viel sehen kann. Wenn es mir auch lieber ist, mich mit Patient*innen unterhalten zu können, so bin ich doch sehr dankbar, dass ich in Nashik dafür umso mehr Krankheitsbilder anschauen durfte.
Strenge Hierarchien, die Frage, ob sich die Hilfesuchenden Diagnostik und Therapie überhaupt leisten können und das unablässige Arbeiten ohne feste Arbeitszeiten für die Assistenzärzt*innen haben mir aber bei aller berechtigter Kritik am eigenen System auch seine Vorteile vor Augen gehalten.
Ebenfalls eine neue Erfahrung war es für mich, in einem Studentinnenwohnheim auf dem Campus zu leben, wo alle sehr um mein Wohlergehen besorgt waren. Sich um nichts kümmern zu müssen und jeden Tag bekocht zu werden - das hatte ich schon seit langer Zeit nicht mehr. Wirklich wohl habe ich mich dort aber bis zu Letzt nicht gefühlt und war sehr dankbar, dass ich im zweiten Teil meines Aufenthaltes noch einen anderen Ort kennen lernen durfte.
Ich machte mich also auf Richtung Süden nach Bengaluru. Dort durfte ich an der großartigen Azim Premji University spannende Kurse des Fachbereichs Development besuchen, einen Einblick in ihre Forschung erhalten und außerdem bei den Medical Peace Work-Onlinekursen mitarbeiten.  Obwohl es sich nicht um eine medizinische Uni handelt, habe ich mich in diesem zweiten Monat viel mit der Betrachtung von Gesundheit aus einem sozial- und gesellschaftswissenschaftlichen Blickwinkel beschäftigt. Von den Dozent*innen und Student*innen wurde ich freundlich aufgenommen und trotz der kurzen Zeit, habe ich mich meist nicht als Besucherin und Beobachterin gefühlt, sondern einfach als eine weitere Studentin, wie auch alle anderen mit einer anderen Muttersprache, einem anderen Grundstudium, anderen Erfahrungen. Das Mitdenken und Mithelfen bei den Medical Peace Work-Onlinekursen war und ist ein weiterer prägender Teil des f&e-Programms für mich. Ich habe selbst viel gelernt und v.a. auch dabei wieder Kontakt zu ganz unterschiedlichen und beeindruckenden Menschen auf der ganzen Welt haben dürfen. Gerade dieser zweite Monat war sehr bereichernd, ich habe wunderbare, inspirierende Menschen getroffen, viel von ihnen über Indien, das Leben und mich selbst gelernt und wäre am Ende gerne noch länger geblieben.

Aber auch hier geht das Leben weiter und so habe ich mich - zwar immerhin mit der Aussicht auf ein weiteres Jahr, in dem ich bei f&e dabei sein und mitwirken kann – aber doch schweren Herzens auf den Weg zurück nach Deutschland gemacht. Es hat mich selbst überrascht.
How do you like India? – Je länger ich da war, desto schwerer fiel mir die Antwort. Ich wollte gerne länger bleiben, weil ich das Gefühl hatte, noch nicht fertig zu sein. Es gäbe noch so viel zu lernen, zu verstehen und v.a. zu fragen.
Ich weiß nicht viel mehr als vorher, bin sogar verwirrter als zuvor. Wobei das vielleicht auch eine der wichtigen Erkenntnisse des Sommers ist. Neues kennenzulernen führt nicht zwangsläufig dazu, dass man das Gefühl hat, mehr zu wissen, sich seiner Sache sicherer wird, Antworten findet – sondern im besten Falle dazu, mehr Fragen dazu zu gewinnen.
Und auch dafür kann ich – neben vielem anderen - inzwischen sehr dankbar sein.

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