Mein erster Blick auf Sarajevo geschah vom Taxi aus, das gerade den letzten Hügel vor dem Tal erklomm, in welchem die Stadt liegt. Schwere Gewitterwolken gaben der Szenerie etwas Unwirkliches, die Luft war von Feuchtigkeit getränkt. Ich staunte über die steilen Gassen, die das Auto hinab manövrierte, der Taxifahrer erklärte derweil dem indisch-britischen Paar auf dem Rücksitz den Weg zur besten Buregdzinica (Lokal, in dem Burek, also gefüllte Teigfladen, verkauft werden) und dass Sarajevo inzwischen sehr sicher sei, keine Scharfschützen mehr zu fürchten, viele Touristen seien da noch besorgt.
Es war ein überwältigendes Gefühl, in diesem Land nun anzukommen, über das ich in den letzten Wochen so viel gelesen und nachgedacht hatte und in dem ich nun 2 Monate verbringen sollte. Ich nutzte die 1,5 Tage bis zum Beginn meiner Famulatur dazu, die Stadt zu erkunden, landete am ersten Abend im Kino Bosna, einer verrauchten großen Bar in einem ehemaligen Kino, wo Montag abends traditionelle bosnische Musik live gespielt wird und sich die junge Szene trifft. Der ganze Saal hat mitgesungen, mitgetanzt.
Am nächsten Tag besuchte ich zwei Free Walking Tours, eine davon zur Kriegsvergangenheit Sarajevos und lernte über die Rosen von Sarajevo, mit rotem Harz aufgefüllte Einschusslöcher von Granaten im Asphalt, die daran erinnern sollen, dass dort Menschen gestorben sind, über das Denkmal für die 1600 ermordeten Kinder in der Stadt während der Zeit der Belagerung, über die schlechte Lebensmittelversorgung, die Angst, aber auch die Resilienz der Bewohner. Gleich zu Beginn wühlte mich diese Stadt, ihr Gesicht und ihre Geschichte auf. Ich hatte ein Zimmer bei einer jungen Künstlerin gemietet, die mit einer Freundin ebenfalls in der Wohnung wohnte. Das Haus stand direkt an einem großen Park und lag ziemlich ideal genau zwischen Innenstadt und Kinderklinik, in welcher ich famulierte. Ich genoss die Spaziergänge zur Klinik, ging auf dem Heimweg häufig noch auf dem großen Markt vorbei, auf dem man alles von Kleidung und Schuhen über Küchengeräte und Schulbücher bis hin zu Fisch, Fleisch, Blumen, Obst und Gemüse bekommt. Gerade im Sommer war die Auswahl großartig: Frische Feigen in Hülle und Fülle, Pflaumen, Wassermelonen, Beeren, saftige Tomaten… In den Supermärkten gab es davon meist nur eine bescheidene Auswahl, jedoch ca. 20 verschiedene Trinkjoghurt-Varianten im Kühlregal, vor denen ich regelmäßig überfordert verweilte.
Am ersten Tag der Famulatur las mich eine Ärztin auf, mit der ich mein etwas eingerostetes Französisch wieder auspacken konnte, und die mich mit zur Morgenbesprechung nahm. Ich wurde herzlich begrüßt und von der Chefärztin mit auf die Intensivstation genommen. Anschließend verbrachte ich den Tag auf der Neonatologie, wo ich die ganze erste Woche blieb und wo eine junge Ärztin arbeitete, die hervorragendes Englisch sprach und mir neben Medizinischem vieles über die Klinik und das Gesundheitssystem erklärte. Die Situation habe sich seit 1,5 Jahren verschlechtert, Gehälter seien gekürzt worden, viele Oberärzte seien deshalb ins Ausland gegangen oder hätten ihre eigene Privatpraxis aufgemacht. Es gebe keine Cafeteria im Krankenhaus, angeblich damit die Ärzte keine Pause machen können. Ich konnte den Druck spüren, der von der Verwaltung ans medizinische Personal weitergegeben wird. In der zweiten bzw. dritten Woche meiner Famulatur kamen 3 weitere Student*innen hinzu, eine Griechin, ein Türke und ein Amerikaner, der in Polen studiert. War gerade nichts zu tun, tauschten wir uns über unsere verschiedenen Länder und Gesundheitssysteme sowie über unsere Erfahrungen in Bosnien aus. Dieser Austausch tat gut und war hilfreich, auch weil an vielen Tagen nach Morgenbesprechung und Visite auf der Rheumatologie/Allergologie/Kardiologie, wo wir nun die meiste Zeit verbrachten, da sich dort ein junger Assistenzarzt sehr für uns engagierte, nicht mehr viele Untersuchungen zu sehen oder Aufgaben für uns zu erledigen waren.
Ich hatte mich bereits darauf eingestellt, dass es mir vermutlich nicht möglich sein würde, viel Praktisches zu tun, aber an manchen Vormittagen schienen tatsächlich alle Ärzte mit Arztbriefen und Entlassungen beschäftigt zu sein und wir wussten nicht, wohin mit uns. Dann wiederum konnten wir aber auch immer wieder andere Abteilungen und Stationen besuchen, waren zum Beispiel einen Tag lang bei der Physiotherapie, wo uns stolz ein Fotobuch gezeigt wurde, das die Zusammenarbeit mit einem deutschen Verein dokumentiert, der speziell angefertigte Rollstühle für Kinder in Bosnien finanziert und baut. Auch die Ambulanz, die Echokardiographie und Endoskopie durften wir kennenlernen und wurden überall mit viel Herzlichkeit empfangen.
Nach fünf Wochen ging meine Zeit in Sarajevo zu Ende. Ich war traurig, die Stadt zu verlassen und konnte mir kaum vorstellen, dass gerade mal die Hälfte meiner Zeit vorbei war. Auf der anderen Seite empfand ich Sarajevo auch zunehmend als anstrengend, das Gefühl, im Talkessel eingeschlossen zu sein, löste manchmal klaustrophobische Gefühle in mir aus, auch weil gerade die Innenstadt immer so voll war, voller Touristen und Autos und mit wenigen tatsächlich ruhigen Orten zum Ausruhen. Erst als ich einen der Berge hochstieg und auf die Stadt herunterblickte, schwand das Gefühl und ich genoss die frische Luft der dicht bewaldeten Hügel, die jedoch auch noch in Teilen stark vermint sind. Ab und zu traf ich auf eine überwachsene, besprühte Bob- und Rodelbahn der Olympischen Winterspiele von 1984.
In Sarajevo konnte man wunderbar Kaffee trinken, in englischsprachigen Buchhandlungen stöbern, in Museen und Kunstausstellungen gehen. In Tuzla, meiner nächsten Station, war das etwas anders. Es ist keine europäische Hauptstadt mit rasantem Tourismus-Anstieg in den letzten Jahren, sondern eine Studenten- und Arbeiterstadt. Die Hauptattraktion besteht aus drei künstlich angelegten Salzseen im Zentrum, in denen es sich hervorragend schwimmen lässt, gerade im Spätsommer war es wunderbar dort. Auch sonst gefiel mir Tuzla sehr gut, im empfand die Atmosphäre als angenehm und es scheint auch eine der offensten und liberalsten Städte Bosniens zu sein. Ich wohne zusammen mit einer ebenfalls gerade erst angereisten FSJlerin aus Berlin und einer Studentin aus Slowenien in einer schönen Wohnung mit Balkon, die in der selben Straße wie unser gemeinsames Sozialprojekt lag.
Snaga Žene, übersetzt „Power-Frauen“ bietet Frauen, Jugendlichen und Kindern (Geflüchteten, Vertriebenen und Rückkehrern) psychologische, soziale, medizinische, Bildungs- und Rechtshilfe. Zweimal die Woche fuhren wir in die zwei Flüchtlingssiedlungen, die seit dem Krieg außerhalb von Tuzla existieren. Eigentlich nur als Übergangslösung gedacht sind viele der Häuser dort inzwischen baufällig, die hygienischen Bedingungen sind schlecht, durch fehlendes Einkommen herrscht Armut. Inzwischen lebt teilweise schon die 3. Generation dort und mit den Kindern und Jugendlichen zwischen 2 und 18 Jahren wird jede Woche gebastelt und gespielt. Für die Frauen dort gibt es Gesprächskreise, Unterstützung durch Sozialarbeiter*innen, Psychotherapie.Die Anbindung an die übrige Bevölkerung ist schlecht, viele der Einwohner von Tuzla wissen nicht, dass die Siedlungen noch immer existieren.
Die meisten der Familien in den beiden Dörfern wurden während des Krieges im Zuge der ethnischen Säuberungen aus ihren Häusern und Wohngegenden vertrieben, die nun in der Republika Srpska liegen. Diese ist die überwiegend von Serben bewohnten Entität des Landes, neben der bosnisch-kroatischen Föderation, die 51% des Landes einnimmt und in der Tuzla und Sarajevo liegen. Diejenigen Frauen und Familien, die nach dem Krieg wieder in ihre Häuser zurückgekehrt sind, begleitet Snaga Žene ebenfalls. Für sie hat die Rückkehr häufig eine Retraumatisierung bedeutet, viele ihrer Verwandten wurden dort getötet, viele der Frauen vergewaltigt. Als mögliche Therapie, aber auch als Möglichkeit zum Lebensunterhalt wurden dort zunächst ein Blumen- dann auch ein Teeprojekt ins Leben gerufen. Die Frauen bauen Lavendel- Ringelblumen- und Aroniatee an, der dann in den Supermärkten in Tuzla verkauft wird. Auch Gewächshäuser zur Selbstversorgung wurden gebaut, Schafwolle wird verarbeitet, Kissen bestickt und Teppiche geknüpft. Während meiner Zeit beim Projekt wurde zum insgesamt zweiten Mal ein Markt in Tuzla veranstaltet, bei dem Frauen aus insgesamt 11 verschiedenen bosnischen Städten ihre selbst produzierten Waren verkauften. Um diesen Markt zu organisieren fuhren wir an einem Wochenende mit Mitarbeiter*innen von Snaga Žene nach Srebrenica.
Die Begegnung mit den Frauen dort hat mich tief bewegt und mir wie wenige andere Erfahrungen in meinem Leben den Zusammenhang zwischen Frieden und Gesundheit verdeutlicht. Gerade auch die Gespräche mit Branka, der Ärztin, die während des Krieges in Deutschland gelebt hat und die Präsidentin der Organisation ist, haben mein Verständnis für diese Zusammenhänge sehr verbessert und mich oft nachdenklich zurückgelassen. Auch wenn ich es leider nicht geschafft habe, während meines Aufenthaltes mehr als sehr rudimentäres Bosnisch zu lernen, habe ich erfreulicherweise vieles vom Projekt mitnehmen und lernen können. Einige der Mitarbeiter*innen haben Englisch gesprochen und viele Gespräche übersetzt und Zusammenhänge erklärt. Von Sevdah, der Mitarbeiterin in der Küche von Snaga Žene haben wir gelernt Burek zu backen und bosnischen Kaffee zu kochen und hatten mit ihr ein tägliches Kaffeeritual, während wir häufig den Lavendel sortiert haben, der nach dem Ernten noch weiterverarbeitet werden musste.
Mit den Kindern in den Flüchtlingssiedlungen und den Vorschulgruppen im Haus der Organisation ging das Spielen auch ohne viele Worte. Einen Tag lang sind wir zu viert nach Konjic gefahren, um dort an einer Nachhaltigkeits-Messe der Heinrich-Böll-Stiftung teilzunehmen und das Projekt vorzustellen. Nachmittags, wenn die Arbeit bei Snaga Žene vorbei war, bin ich häufig noch mit Branka in ihre Praxis gefahren, in der sie täglich weitere 3-4 Stunden als Infektiologin arbeitet.
Insgesamt habe ich die Zeit in Bosnien und besonders bei Snaga Žene als sehr intensiv und bereichernd empfunden. Mir sind die Menschen dort sehr ans Herz gewachsen, das Land hat mich oft fasziniert, manchmal begeistert, sprachlos zurückgelassen, auch zeitweise überfordert und sehr traurig gemacht. Vor allem hat mir der Aufenthalt eine ganz neue Perspektive auf Südosteuropa, auf traumaspezifische Therapie, auf ein Gesundheitssystem mit knappen Ressourcen und eine Gesellschaft mit nach wie vor tiefen Spaltungen gegeben. Die Erfahrungen und Begegnungen, die ich dort gemacht habe, werden mich jedenfalls noch lange begleiten.
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