Israel, Palästina, Nahost – es gibt wahrscheinlich wenige Regionen dieser Welt, die eine ähnlich starke Polarisierung auf solch engem Raum verzeichnet. Für mich war es nahezu unmöglich, die Name dieser Länder zu hören und nicht unweigerlich an die Worte „Konflikt“, „Besatzung“, „Eskalation“ und „Krieg“ zu denken. Obwohl mir natürlich bewusst ist, dass es viele ebenso tragische Konflikte an anderen Orten dieser Welt gibt, habe ich den Nahostkonflikt in meiner Kindheit und Jugend durch meine Familie, die Schule und die Medien unbewusst immer als einen „der Konflikte“ dieser Welt kennen gelernt, der immer eine Art Sonderstellung inne hatte. Diese Sonderstellung, die dieser Konflikt in der Art und Weise der Berichterstattung in den deutschen Medien einnimmt hängt vermutlich damit zusammen, dass die Geschichte der Entstehung des Staates Israels und daraus erwachsen die Entstehung des israelisch-palästinensischen Konfliktes untrennbar mit der Geschichte Deutschlands verwoben ist und die Deutschen und auch insgesamt die westliche Welt eine zentrale Rolle bei der Entstehung und Entwicklung des Konfliktes und somit eine Schuld trug und trägt.
Aus diesem Grund war es mir schon lange ein Wunsch, diese Region selbst zu bereisen und mir damit den einen ersten Schritt auf dem Weg einer Auseinandersetzung mit diesem so komplexen Thema zu gehen. In welches der beiden Länder mich die Reise führen würde, ließ ich der IPPNW offen und gab beide Länder als meine erste Präferenz an.
Ende Juli flog ich nach Tel Aviv und als ich dort den Flughafen verließ wurde ich von einer unglaublichen Hitze empfangen – ich glaube, mir war noch nie so heiß, wie in den ersten Stunden nach meiner Ankunft. Ich nahm vom Flughafen einen Zug und wurde dann von meiner Gastmutter Sharon vom Bahnhof abgeholt. Der Tag an dem ich ankam, war ein Sonntag und das ist in Israel der Tag, an dem alle Soldat*innen nach dem Wochenende bei ihren Familien zurück in ihre Militärstützpunkte aufbrechen. Dementsprechend war der Bahnhof voller Soldat*innen. Sharon muss immer noch laut lachen, wenn wir darüber sprechen, wie ihr erster Eindruck von mir war. Sie meinte, sie hätte mich direkt erkannt, wie ich dort so verloren und mit bereits verbranntem Gesicht zwischen all den Soldat*innen gesessen hätte.
Die folgenden zwei Monate wohnte ich bei Sharon und ihrer Familie im Norden von Tel Aviv. Sharon arbeitet auch bei Amcha, der Tagesstätte für Holocaustüberlebende - so kam der Kontakt zustande und ich bin so glücklich darüber, diese tollen Menschen kennen gelernt haben zu dürfen. Ich wurde mit einer Wärme und Herzensoffenheit empfangen, die mich tief berührt hat. Zur Familie gehören außer Sharon ihre drei Kinder Omer 23, Eilam 20 und Alma 15. Die älteste Tochter Omer war über den Sommer in den USA, wodurch die Familie die Möglichkeit hatte mich aufzunehmen. Da Omer ungefähr in meinem Alter ist, bin ich vielleicht ein kleines bisschen in ihre Rolle geschlüpft, wodurch die Begegnung mit Eilam und Alma von Anfang an sehr natürlich war. So war Alma mein mobiles Nagelstudio („You need nails in Israel“) und manchmal waren wir in der Stadt und sind herumspaziert, haben Eis gegessen, waren am Strand und haben Pretty woman auf Englisch mit hebräischem Untertitel angeschaut.
Aber insbesondere Sharon und ich haben uns sehr gut verstanden. Ihr Großvater war Radiologe an der Berliner Charité und ihre Großmutter Mezzosopran bei den Berliner Philharmonikern, beide waren sehr stark in Berlin verwurzelt und Deutschland war ihre Heimat. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten waren sie gezwungen das Land zu verlassen und emigrierten ins damalige Mandatsgebiet Palästina. Es muss für die beiden ein unvorstellbarer Schmerz gewesen sein, da der Angriff, vielleicht anders als für nichtdeutsche Juden, „von innen“ kam, von ihren Mitbürgern, Nachbarn, aus der eigenen Mitte. Sharons Großeltern fühlten sich in Israel nie ganz zu Hause und sprachen auch in Israel weiterhin deutsch. Ihre Großeltern leben leider nicht mehr, aber für Sharon ist die Auseinandersetzung mit dem Land Deutschland eine Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Geschichte. Seit ein paar Jahren reist sie einmal im Jahr nach Berlin und so bin ich in der Wohnung auf „I love Berlin“ Kaffeebecher und Nagelfeilen gestoßen.
Das schöne an der Beziehung zu Sharon war und ist, dass es ein Austausch war, der für beide Seiten ungemein bereichernd war. So erzählte ich viel von Deutschland, wie ich das Land erlebe, über die politische Situation und über die Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Und von Sharon lernte ich so unglaublich viel über die jüdische Kultur, über die Feiertage mit den verbundenen Ritualen, den Shabbat, den israelischen Performancekünstler Ohad Naharin und welche Kriterien ein koscheres Essen erfüllen muss.
Aber am meisten sprachen wir über die politische Situation. Sharon war selbst lange friedenspolitisch aktiv, in einer Organisation namens „Shalom ashav!“- oder auf Englisch „Peace now!“ und von ihr durfte ich ein sehr lebendiges und zutiefst hoffnungsvolles Narrativ des Konfliktes und seinen Einfluss auf das tägliche Leben in Israel kennen lernen. Dafür bin ich sehr dankbar.
Famulatur
Meine Famulatur absolvierte ich einer Klinik names Shalvata Mental Health Center. Diese rein psychiatrische Klinik liegt etwas versteckt, abseits von Großstadtlärm und -tempo in der Kleinstadt Hod HaSharon, nördlich von Tel Aviv. Der Aufbau der Klinik erinnert stark an einen Kibbuz, es sind mehrere kleinere Gebäude in einer Art Dorfstruktur zusammengefasst, wodurch bei mir ein Gefühl von Geborgenheit und Ankommen entstanden ist. Die Hälfte meiner Famulaturzeit verbrachte ich in der gerontopsychiatrischen Ambulanz und empfing Patient*innen zusammen mit Daphna, der F&E Koordinatorin in Shalvata. Ich habe Daphna als eine energiereiche, toughe, direkte und gleichzeitig sehr empathische und fürsorgliche Person erlebt. Trotz teilweise sehr getaktetem Programm, fand sie immer die Zeit mir vor der Begegnung mit der Patient*in einen Überblick über ihre Biographie zu geben. Obwohl ich es vorher rational wusste, hat es mich berührt und war schmerzhaft für mich zu sehen, zu hören, aber vor allem zu spüre, welches unfassbare Leid den Menschen durch den Holocaust angetan wurde und wie stark die Überlebenden auch heute noch unter den Erfahrungen und Erinnerungen leiden.
So war meine Zeit in der Gerontopsychiatrie für mich eine Auseinandersetzung mit der Geschichte, die das Land mir durch seine Menschen erzählt. Die zweite Hälfte verbrachte ich in der Kinder- und Jugendpsychiatrie auf einer Station für Jugendliche im Alter von 12 – 21 Jahren. Obwohl ich meine Zeit in der Gerontopsychiatrie auch sehr genossen habe, schlug mein Herz doch für die Jugendlichen. Jeder einzelne dort versprühte eine unglaubliche Energie und Lebendigkeit, die gefühlt das gesamte Team mitriss und mir jetzt, wenn ich diese Zeilen schreibe, ein Lächeln ins Gesicht zaubert. Mir gefiel besonders, dass ich viel Zeit hatte, die Jugendlichen nicht nur in einem therapeutischen Setting, sondern auch in einem ganz alltäglichen Rahmen, zu erleben. So spielte ich Basketball, bastelte Bleistiftboxen, wurde Expertin für Freundschaftsarmbänder, backte Cookies, tanzte, spielte leidenschaftlich Backgammon und lernte auf Hebräisch bis zehn zu zählen und das berühmte Pessach Lied „Echad mi yodea“ zu singen. Durch dieses wirkliche Erleben habe ich zu einigen der Jugendlichen eine enge Beziehung aufgebaut und mit manchen von ihnen durfte ich regelmäßige Gespräche während ihres Aufenthaltes etablieren. Die Gespräche fanden auf Englisch statt, was problemlos möglich war, da die meisten über ein sehr gutes Englisch verfügten. Der Schwerpunkt der Gespräche bestand in einer Art erweiterten Anamnese mit biographischem Schwerpunkt, aber wir sprachen auch oft über Themen, die die Jugendlichen einbrachten. Mit den behandelnden Therapeuten stand ich im Austausch über den Verlauf und die Entwicklungen dieser Gespräche. Diese intensive Zusammenarbeit mit den Jugendlichen war für mich an einigen Stellen herausfordernd und ich hatte oft das Gefühl zu improvisieren, aber es hat mir unglaublich viel Spaß gemacht und ich war und bin berührt von dem Vertrauen, das mir sowohl von Seiten der Jugendlichen, als auch von Seiten des Teams entgegen gebracht wurde. Der Abschied dort fiel mir nach zwei Monaten wirklich schwer.
Freizeit
In meiner Freizeit habe ich viel Zeit mit meiner Gastfamilie verbracht, mich hat sehr gefreut, dass sie mich in jede ihrer Aktivitäten ganz selbstverständlich eingeschlossen haben. So haben wir Wochenendausflüge zu Freunden in den Norden Israels gemacht, waren in Museen und im Kino, auf Geburtstagsfeiern und Familientreffen. Aber auch Daphna, und insbesondere die Kolleg*innen von der Kinder-und Jugendpsychiatrie haben mich zum allwöchentlichen Shabbatessen am Freitagabend zu sich nach Hause eingeladen. So durfte ich einmal ein Shabbatessen in einer religiösen Familie kennen lernen, wobei ich sehr viel über den jüdischen Glauben und die mit ihm verbundenen Rituale und Traditionen gelernt habe. Insgesamt hat mich die Offenheit und Gastfreundlichkeit, die mir entgegengebracht wurde, sehr berührt. Ich hatte das Gefühl, dass sich fast das ganze Krankenhaus für mich verantwortlich gefühlt hat. So hat mich beispielsweise eine Ergotherapeutin direkt am Anfang angesprochen, dass ihre Tochter in meinem Alter wäre und ob ich nicht Lust hätte mit ihr etwas in Tel Aviv zu unternehmen. Daraus ist eine Freundschaft entstanden und sie kommt mich bald in Deutschland besuchen. Ansonsten habe ich meine Freizeit genutzt, um das Land zu bereisen.
Gesher Clinic
Jeden Dienstag verbrachte ich die Nachmittage in der Gesher Clinic im Süden Tel Avivs. Vier Mal in der Woche findet hier eine psychiatrische Sprechstunde für Geflüchtete statt. Die Lebenssituation für geflüchtete Menschen in Israel ist derzeit politisch gewollt sehr schlecht. So ist zwar einerseits dem Staat Israel verboten die Geflüchteten zurück in die Heimatländer zu schicken – andererseits werden den Geflüchteten an allen Ecken und Enden Steine in den Weg gelegt. So mangelt es an Wohnraum, an medizinischer Versorgung, von psychologischer Unterstützung ganz zu schweigen. Momentan werden immer noch mehrere tausend Menschen im Lager Holot, einer Art Gefängnis für Geflüchtete, in der Negev-Wüste festgehalten. Die Geflüchteten, die anderorts in Israel leben, laufen permanent Gefahr wortwörtlich von der Straße eingesammelt und zurück nach Holot gebracht zu werden. Die beiden Hauptherkunftsländer der Patient*innen der Gesher Clinic sind der Sudan und Eritrea. Ein Großteil der Menschen, die Israel erreichen, erlitt unmenschliches Leid auf der Flucht, viele von ihnen erlebten Entführungen, Folter oder sexuelle Gewalt. Das Team der Gesher Klinik besteht aus ehrenamtlichen Psycholog*innen, Pfeger*innen und Ärzt*innen und leistet in erster Linie eine Art akutpsychiatrische Krisenintervention. Ich empfinde eine Hochachtung vor der Arbeit, die diese Menschen leisten, insbesondere vor ihrem nicht versiegenden Engagement angesichts einer meiner Meinung nach derart unmenschlichen Flüchtlingspolitik, die ihnen tagtäglich die Arbeit erschwert.
Begegnung mit Holocaust Überlebenden
Eine meiner intensivsten Erfahrungen in Tel Aviv war die Begegnung mit Menschen, die den Holocaust überlebten. Es fällt mir sehr schwer in Worte zu fassen, was in diesen Begegnungen passiert ist. In erster Linie empfinde ich diesen Menschen gegenüber eine tiefe Dankbarkeit für ihre herzenswarme und vorurteilsfreie Haltung, die sie mir uneingeschränkt entgegenbrachten. Meine deutsche Nationalität nimmt in meiner Identität kaum Platz ein und ich bin jeder Form von Nationalismus und Patriotismus sehr skeptisch und intuitiv ablehnend gegenüber. Ich habe jedoch die Erfahrung gemacht, dass es unabhängig von solchen Einstellungen kaum möglich ist in einer solchen Begegnung nicht in irgendeiner Form repräsentativ für Deutschland zu stehen und somit die Schuld, die auf unserem Land lastet zu fühlen und zu tragen. Es war nicht leicht für mich diese Rolle anzunehmen, aber es hat eine Auseinandersetzung mit der Frage, was es für unsere Generation, die Enkelgeneration der Täter der NS-Zeit, bedeutet, mit dieser Schuld zu leben, angestoßen. Ich bin so dankbar und habe Hochachtung davor, dass diese Menschen bereit waren, den Schmerz, den das Erinnern auslöst, auf sich zu nehmen, um mit mir ihre Geschichte zu teilen.
Israel-Palästina Begegnungsfahrt
Zum Ende meines Aufenthaltes in Tel Aviv schloss ich mich der Israel-Palästina Begegnungsfahrt der IPPNW an, die uns für knapp zwei Wochen in die Westbank und nach Jerusalem führen sollte.
Diese Reise war derart intensiv und erkenntnisreich für mich, dass ich einen eigenen Bericht nur über diese zwei Wochen schreiben könnte. Ich versuche es an dieser Stelle ein bisschen kürzer zu fassen: Durch diese Reise habe ich die Möglichkeit erhalten, auch die andere Seite des israelisch-palästinensischen Konfliktes kennen zu lernen. Ich denke, ich kann im Namen aller Mitreisenden sprechen, wenn ich beschreibe wie tief erschütternd ich das Ausmaß und die Dimension des Leides wahrgenommen habe, dass die palästinensische Bevölkerung durch die israelische Besatzung erfährt. Auf dieser Reise ist mir noch einmal ganz anders deutlich geworden, wie stark sich das System der Unterdrückung auf den Alltag der Palästinenser*innen auswirkt und welche Schikanen diese Menschen tagtäglich erleiden müssen.
Ich muss aber auch sagen, dass die IPPNW-Reise für mich nicht einfach war. In einem derart polarisierten Gebiet beide Seiten des Konfliktes kennen zu lernen, stellt eine unglaublich bereichernde Perspektive einerseits dar, aber ist andererseits emotional sehr herausfordernd und ich bin unweigerlich in einen Loyalitätskonflikt geraten. Es hat mir sehr geholfen, dass ich mit Sharon über meine Erlebnisse in Palästina sprechen konnte. Es ist für mich nach wie vor unbegreiflich und ich empfinde es immer noch als intuitiv ungerecht, dass ich als Europäerin die Möglichkeit habe, sowohl Israel, als auch Palästina zu bereisen und mir ein eigenes Bild zur Situation zu machen und es gleichzeitig den Israelis fast unmöglich ist, in die Westbank zu reisen und den Palästinenser*innen, die über keine Arbeitserlaubnis in Israel verfügen, unmöglich ist nach Israel zu gelangen, wo doch die Begegnung von Menschen und das wortwörtliche Überwinden von Mauern dieser beiden Parteien meiner Meinung nach die Voraussetzung für jeden Schritt in Richtung Frieden ist.
Insgesamt habe ich dieses Jahr einen einzigartigen Sommer erlebt. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so viel in so kurzer Zeit gelernt habe. Gelernt in zwei unterschiedlichen Sinnen: Zum einen war meine Reise, was den geschichtlich-politischen Hintergrund zur Entstehung des Nahostkonfliktes anbelangt, eine echte Bildungsreise und ich verstehe jetzt so viel mehr als zuvor, zum anderen habe ich auch auf einer ganz persönlichen Art sehr viel gelernt durch die wunderbaren und so intensiven Begegnungen, die ich machen durfte. Das F&E Land Israel ermöglicht seiner Austauschstudent*in die Chance unterschiedliche Geschichten und Narrative der Menschen dieses Landes kennen zu lernen.
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