Mazedonien

von Hannah Schmidt

Und unsere Heimat ist da, wo unsere Liebe ist.

August Joseph Altenhöfer (1804 - 1876), deutscher Übersetzer, Journalist

Heimat – als ich nach Mazedonien aufbrach, das kleine Land in der Mitte des Balkans, hätte ich nie gedacht, dass mich dieses Thema so sehr und auf so vielfältige Weise beschäftigen würde.

Von fremden Menschen familiär aufgenommen und vorbehaltlos angenommen zu werden, so dass man sich ganz zuhaus fühlt; dass man ein Land so lieben lernt, obwohl alles neu und unvertraut ist; den Herkunftsort und die Familie schmerzlich vermissen; einen anderen Blickwinkel auf das gewohnte zuhaus zu gewinnen; eine winzige Vorstellung davon zu bekommen, was es heißt, aus seiner Heimat vertrieben zu werden, fliehen zu müssen; Menschen zu treffen, die vereint sind durch ihre Werte und Ziele und die sich gegenseitig eine Heimat geben – all diese Erfahrungen durfte ich im vergangenen Sommer in Mazedonien machen.

Ankunft in der Wärme

Als ich den Anruf bekam, dass ich nach Mazedonien gehen könnte, war ich zunächst sprachlos vor Freude. Schnell kamen aber auch Sorgen und Fragen auf, denn auf Mazedonien hatte ich mich gedanklich noch gar nicht so richtig vorbereitet und wusste zunächst nicht viel. Nach der Lektüre des einzigen deutschsprachigen Reiseführers, den ich auftreiben konnte, und regem Austausch mit meinen Vorgängerinnen brach ich dann aber guten Mutes Richtung Skopje auf. Als die Landschaft während des Landeanfluges immer näher kam, erinnerte sie mich stark an die Toskana. Sanfte Hügel in gelblichen und grünen Tönen überziehen viele Abschnitte Mazedoniens. Auf dem Rollfeld empfing mich auch direkt angenehme Wärme. In Skopje wurde ich dann auch ganz herzlich vom Medizinstudenten Darko und dem Arzt Sead in Empfang genommen und in den richtigen Bus nach Stip, die Stadt in der ich wohnen sollte, gesetzt. Dort holten mich der Vermieter und seine deutschsprachigen Verwandten ab. Da meine Mazedonisch-Kenntnisse (nach wie vor) sehr begrenzt sind, war es ein großer Segen für mich, dass Lidija und Bobbi für mich übersetzen konnten und mir das Kennen lernen mit Ivce (dem Vermieter) und seiner Familie erleichterten, die mir auch direkt anboten, statt im Studentenwohnheim doch bei ihnen im Haus zu wohnen. Ich war von Anfang an überwältigt von der Gastfreundlichkeit der Mazedonier - sie machten mir das Ankommen und Eingewöhnen leicht. Der nächste Tag nach meiner Ankunft war ein Feiertag, den ich im Kreise der mazedonischen Familie und ihrer Verwandten und Freunde verbringen durfte und so wurde ich schon zu Beginn ein wenig in die mazedonische Kultur und vor allem in die köstliche Küche eingeführt.

Famulatur

Meine Zeit im Krankenhaus war insgesamt sehr lehrreich, wenn auch vielleicht nicht in der Weise, wie man es hier als „fachlich bildend“ bezeichnen würde. Ich verbrachte die vier Wochen auf verschiedenen Stationen (Pädiatrie, Gynäkologie, Infektiologie, Innere Medizin und Neonatologie), wo ich immer sehr freundlich und interessiert aufgenommen wurde. Da es in Stip auch eine medizinische Fakultät gibt, waren einige Male auch andere Studenten auf den Stationen. Meistens begleiten die Studenten die morgendliche Visite, übernehmen dann kleine Arbeiten wie Blutdruck messen oder schauen noch bei Untersuchungen zu. Ab und zu stellen die Ärzte auch Fragen zu den Krankheitsbildern von Patienten und es wird noch einmal etwas durchgesprochen. In der Regel wird man aber zum Mittag hin nach Hause geschickt, was mich zunächst überraschte, aber dann genoss ich es, so viel Zeit zu haben, um Land und Leute kennen zu lernen.

Was praktische Tätigkeiten anbelangt, habe ich nicht so viel selber gemacht bzw. neu gelernt, dafür aber viel über die Mängel dort im Krankenhaus und mit welchem Einfallsreichtum die Schwestern und Ärzte ihnen entgegentreten. Das Krankenhaus in Stip ist ziemlich alt und baufällig. Wenn ich es richtig verstanden habe, wurden einige Teile in den 1930er Jahren gebaut und seitdem nicht renoviert. Wenn ich konnte, vermied ich es, denn Aufzug zu nutzen. An den allgegenwärtigen Zigarettenrauch (ja, auch IM Krankenhaus) und die Ameisen und auch einige Kakerlaken gewöhnte ich mich. Was mir allerdings bis zum Ende Bauchschmerzen bereitete, waren die nicht vorhandenen Handschuhe und das fehlende Desinfektionsmittel. Sogar auf der Infektionsstation gab es das nicht, obwohl dort auch Patienten mit Hepatitis A und E lagen. Für die öffentlichen Krankenhäuser in Mazedonien, besonders in ländlicheren Gebieten, fehlt schlicht das Geld. Das führt dazu, dass die Ärztinnen und Ärzte dann eben schauen müssen, wie sie mit ihrer winzigen Menge Furesis zurechtkommen oder was sie tun können, wenn das Kontrastmittel im Herzkatheterlabor fehlt.

Bemerkenswert fand ich die Routiniertheit der meisten Ärzte, die oft fast auf den ersten Blick sagen konnten, ob der Patient eine bedrohliche oder mit den vorhandenen Mitteln gut zu beherrschende Erkrankung hatte. Oder den Einfallsreichtum: Als das Sonographie-Gerät kaputt war, wurde es kurzerhand von einer der Pädiaterinnen aufgeschraubt und in Absprache mit ihrer Schwester, die Elektrotechnik studiert hatte, übers Handy wieder in Gang gesetzt.

Im Krankenhaus herrschte stets eine familiäre und freundliche Atmosphäre. Der Tag wurde immer mit einer Runde Kaffee begonnen, wo man sich dann zunächst etwas Persönliches erzählen konnte. Mein Eindruck war, dass alle Mitarbeiter diese Zusammenkunft sehr genossen und danach entspannter in den Tag starteten. Die Sprachprobleme waren weniger groß als zunächst von mir befürchtet. Meine wenigen mazedonischen Sätze und Floskeln sorgten meist für große Freude und danach bemühten sich alle ganz toll, mir die Sachverhalte auf Englisch zu erklären. Besonders die jüngeren Ärztinnen und Ärzte sprechen sehr gut Englisch und so habe ich nicht nur viel verstanden, sondern konnte meine eigenen Sprachkenntnisse noch verbessern. Insgesamt war meine Zeit im Krankenhaus sehr beeindruckend und ich bin froh und dankbar über die gemachten Erfahrungen, die mich auch unser deutsches Gesundheitssystem in einem anderen Licht sehen lassen.

Reisen

Da ich während der Famulaturzeit oft früh nach Hause geschickt wurde oder durch Feiertage ein verlängertes Wochenende hatte, nutze ich die Zeit, um das Land zu erkunden und viele unglaublich nette Leute kennen zu lernen. Mit den sehr günstigen Busverbindungen kam ich gut in verschiedene größere und interessante Städte. So nutze ich ein Wochenende, um von Prilep aus durch die bergige Landschaft zu wandern, traf dabei einen netten Ziegenhirten, der mit mir in der Mittagshitze seinen Baumschatten teilte und - da ich zunächst den Wanderweg überhaupt nicht fand - brachte mich eine ältere Frau direkt dorthin, anstatt mir den Weg zu erklären.

Am Ohridsee, der zwischen Mazedonien und Albanien liegt, traf ich viele Reisende aus anderen Ländern. Wenn es eine „touristische“ Region in Mazedonien gibt, dann ist es nämlich dort. Trotzdem lohnt sich ein Besuch an diesem traumhaften Ort mit dem klaren Wasser und den schönen Stränden. Auch die Umgebung war wunderschön, was ich bei mehreren Wanderungen und einer Radtour um den See erleben durfte.

Besonders toll für mich waren die Besuche bei den anderen f&e-Studentinnen auf dem Balkan. Sabrina besuchte mich in Skopje, wo wir einen schönen Tag verbrachten. Am folgenden Wochenende durfte ich erst mit ihr Prishtina anschauen und dann ging es gemeinsam weiter zu Lena nach Sarajevo, wo auch Franzi aus Belgrad dazu kam. Die anderen Städte kennen zu lernen, war wirklich super und mit den günstigen Busverbindungen von Skopje aus war die Anreise kein Problem. Als die europäische IPPNW-Konferenz in Belgrad stattfand, trafen wir uns auch dort alle noch einmal. Es tat richtig gut, sich schon während des f&e-Aufenthalts mit Leuten auszutauschen, die in einer ähnlichen Situation waren - wir hatten tolle Wochenenden zusammen.

Freizeit in Stip und Gedanken über Heimat

Auch in Stip kam der Spaß nicht zu kurz. Da wegen der Wärme das Leben erst wieder so gegen 19 Uhr erwachte, verbrachte ich viele Abend in den Coffee Bars. Kaffee wird dort wirklich zu jeder Tages- und Nachtzeit getrunken. Oft nahmen mich Lidija und Bobbi oder die Tochter der Familie, Manuela, mit. Oder ich war mit den Leuten unterwegs, die ich nach einiger Zeit in Stip kennen gelernt hatte. Ich wurde wirklich unglaublich lieb umsorgt, immer fragte jemand, ob ich etwas unternehmen wolle oder lud mich zu sich nach Hause ein.

An den Nachmittagen hatte ich es mir zu Angewohnheit gemacht, mich mit einem leckeren Gebäckstück in den Park neben der Klinik zu setzen, wo eigentlich nie jemand war außer einem Esel und zwei Pferden, die dort morgens von einem Mann zum Grasen hingebracht wurden. Dort genoss ich es, Zeit zu haben, um endlich einmal in Ruhe nicht-medizinische Bücher zu lesen. Zwei davon handelten vom Zweiten Weltkrieg und sehr ausführlich wurden Flucht und Vertreibung aus den Gebieten jenseits der Oder und vor allem auch die schwierigen Jahrzehnte danach geschildert. Für viele Menschen war ihre Heimat unwiederbringlich verloren, sie konnten nie wieder in ihrem alten Haus leben, ja es zum Teil nicht mal mehr besuchen. All die vertrauten Dinge aus der Kindheit, die Gerüche, die umgebende Natur, die Nachbarn, das war alles weg. Die Fakten und Daten, die in den Geschichten gestreift wurden, waren mir meist bekannt, aber als ich dort in dem schönen Park, in der wärmenden Sonne saß, fern meiner Heimat und Familie, da konnte ich mir den Schmerz und den Verlust auf einmal viel stärker vorstellen.. Zu dieser Zeit stieg die Zahl der Flüchtlinge auf der Balkanroute immer weiter an und diese Gedanken, wie sehr der Verlust der Heimat wohl schmerzen muss, ließen mich während der Zeit dort nicht mehr los

Unruhe im Land

Nach den Erlebnissen und Gesprächen im Kosovo, Sarajevo und Belgrad kam mir Mazedonien noch sehr viel friedlicher und ruhiger vor. Ich bekam zwar einige Vorurteile gegen Albaner und Sinti und Roma zu hören, besonders von älteren Leuten, insgesamt war mein Eindruck aber, dass die meisten Mazedonier einfach in Ruhe und Frieden leben möchten. Einige Freunde, die ich auf dieses Gefühl ansprach, sagten mir, dass die Mazedonier eher Leute seien, die keinen Ärger wollen und dass es besonders in den jüngeren Generationen immer weniger Probleme zwischen den Ethnien gäbe. Ein viel größeres Problem sehen die meisten Leute in der wirtschaftlichen Lage des Landes und in der Regierung, die es bevorzugt, Geld für Prestige-Projekte auszugeben, als sich um wichtige Infrastrukturmaßnahmen oder um die öffentliche Gesundheitsversorgung zu kümmern. 

Die Arbeitsmarktsituation ist zum Teil katastrophal. Oft bekam ich zu hören, dass die jungen Studentinnen und Studenten am liebsten zum Arbeiten ins Ausland gehen würden, da sie in ihrem Heimatland keine Perspektive sähen. In all den Wochen dort hat mich nie jemand gefragt, ob ich Heimweh habe oder mein Zuhause vermisse. Solche Fragen stellt man dort nicht, wo es völlig normal ist, dass man Monate von Zuhause weg ist, um zum Beispiel in Deutschland bei McDonalds zu arbeiten, und wo so viele junge Menschen nach ihrem Abschluss das Land verlassen, um überhaupt Chancen auf einen guten Job zu haben. Auch Lidija und Bobbi hatten im Alter von 18 Jahren Mazedonien verlassen, um in Deutschland ein besseres Leben zu haben.

Soziale Projekte

Ich hatte schon vorher gehört, dass es während der Zeit der „Sommerflaute“ auf dem Balkan eventuell schwierig sein könnte, Sozialprojekte zu finden. Zum Glück ergab sich für mich noch Einiges vor Ort. So konnte ich mir die Arbeit des Roten Kreuzes in Stip anschauen, was sich allerdings etwas schwierig gestaltete, da mein Mazedonisch einfach nicht ausreichte und niemand dort Englisch sprach. Eine Woche konnte ich mit einer Ärztin aus dem Krankenhaus in einer Drogenberatungsstelle verbringen. Dort konnten sich Drogenabhängige die Ersatzsubstanz Methadon abholen, wurden untersucht und medizinisch versorgt. Ich lernte eine Menge über die gesetzlichen Vorschriften und Regeln, die in so einer Institution eingehalten werden müssen und hier war es auch sehr interessant für mich, die Ärztin im Gespräch mit den Patienten zu beobachten. Da ich nicht so viel vom Gesprächsinhalt verstand, konnte ich mich auf die nonverbale Kommunikation konzentrieren. Es war wirklich faszinierend, wie geübt die Ärztin darin war, die teilweise aggressiven und aufgeregten Patienten zu beruhigen und sie zu einer Untersuchung zu überreden.

Da sich während der IPPNW-Konferenz in Belgrad die Situation der Flüchtlinge in der Stadt sehr verschärft hatte und ich für die nächste Woche keine Projekt in Mazedonien organisieren konnte, entschied ich, bei Franzi zu bleiben, die vor Ort bereits in der Flüchtlingshilfe aktiv war. An dieser Stelle nochmal ein großes Dankeschön, dass ich so lange bei dir wohnen durfte, Franzi! Die ersten Tage halfen wir in einem Zentrum für die Flüchtlinge, indem wir Kleidung sortierten, Essen ausgaben oder abends in den Parks Suppe verteilten. Nach einiger Zeit bildete sich ein Team von vielen internationalen Freiwilligen heraus, das von Ali, einem Schweden, der selber vor einigen Jahrzehnten aus dem Iran geflohen war, koordiniert wurde. Mit diesem Team fuhren wir einen Konvoi mit Lebensmitteln an die Grenzübergänge zu Ungarn und Kroatien. Und dank Alis toller Organisation und den großartigen Helfern gelang es auch, sehr viele Menschen vor Ort mit dem Nötigsten zu versorgen.

In dieser kurzen Zeit dort machte ich eine sehr prägende Erfahrung für mich: Wenn viele Leute mit denselben Zielen zusammenarbeiten, dann ist es egal, woher jemand kommt oder welche Sprache er spricht, dann gibt es keine Unterschiede. Trotz der vielen traurigen Erlebnisse, die es dort gab, war es ein Geschenk für mich, diese vielen tollen Leute kennen zu lernen, für die nur  Mitmenschlichkeit zählt. Das hat mit unglaublich viel Mut und Ansporn gegeben. Parminder, ein Sikh, der in Großbritannien seinen Polizeijob ruhen lässt, um zu helfen, war mit der mit der Organisation Khalsa Aid vor Ort. Deren sehr treffender Leitspruch ist: „Recognise the whole human race as one.“

In diesem Sommer mit f&e habe ich unglaublich viele tolle, bewegende und für mich persönlich sehr wichtige Erfahrungen machen dürfen. Dafür danke ich der IPPNW ganz herzlich! Und ganz besonders möchte ich Ulla danken, die es mir ermöglicht hat, diese Chance zu bekommen!

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