Atomenergie-Newsletter vom 2. November 2022

Ohne Not und Nutzen – Die Bundesregierung plant AKW-Laufzeitverlängerungen

Der deutsche Atomausstieg, noch steht er schwarz auf weiß und rechtsverbindlich im Atomgesetz mit dem endgültigen Abschaltdatum 31. Dezember 2022 festgeschrieben. Somit wäre eigentlich mit Jahresende 2022 für die drei noch am Netz befindlichen deutschen AKW endgültig Schluss. Doch nach der als Machtwort bekannt gewordenen Ankündigung von Bundeskanzler Scholz, seine Regierung werde den gesetzlichen Rahmen für einen Weiterbetrieb aller drei am Netz verbliebenen AKW bis maximal 15. April 2023 schaffen, steht eine Änderung des Atomgesetzes an. Auch die Debatte um einen Ausstieg aus dem Ausstieg droht in der Folge wieder eröffnet zu werden.

Der sogenannte Stresstest1, den die Stromnetzbetreiber durchgeführt haben, dient hier fälschlicherweise als Begründung für die Entscheidung zum Weiterbetrieb. Dabei zeigt eben dieser Stresstest klar und deutlich, dass die Stromversorgung in Deutschland auch ohne Atomkraftwerke gewährleistet ist. Tatsächlich gibt es hierzulande kein Problem mit den Strommengen und effektiv müsste es auch kein Netzstabilitätsproblem geben. Denn kurioserweise sind die im Stresstest beschriebenen Herausforderungen am größten, wenn sehr viel Strom im Angebot ist. Der Grund dafür ist, dass das gegenwärtige Strommarktdesign keine Rücksicht auf die Leitungskapazitäten nimmt2. So können Stromkund*innen im Ausland beispielsweise bei starkem Wind in Norddeutschland auch dann den günstigen Windstrom an den Strombörsen einkaufen, wenn sie diesen mangels entsprechender Leitungen gar nicht beziehen können. Im Effekt wird daraufhin der nicht transportierbare Strom im Norden abgeriegelt, während im Süden Kraftwerke hochgefahren werden, um den Strom ersatzweise dort erzeugen, von wo er weitertransportiert werden kann. Dieses sogenannte „Redispatch“-Prinzip bezahlen letztlich die Stromkund*innen. Den Strommarkt an die tatsächlichen Leitungskapazitäten anzupassen, könnte hier Abhilfe schaffen. Ein Weiterbetrieb der AKW hingegen löst die Probleme nicht.

Ausgelöst wurde die Debatte um einen Weiterbetrieb der AKW aufgrund der Aussicht auf einen Gasmangel im Winter in Folge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Dabei kann Atomkraft weder in der Wärmeproduktion einspringen, noch können AKW durch Schnelles Hoch- und Runterfahren in der Spitzenlast flexibel eingesetzt werden. Insgesamt ist der Beitrag der Atomkraft in Deutschland ist 2022 auf 6% gesunken. Die Lücke, die die drei Ende 2021 abgeschalteten AKW Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen hinterließen, konnte erfolgreich mit Erneuerbaren gefüllt wurden. Dennoch soll nun das Atomgesetz geändert werden und alle drei verbliebenen AKW sollen ohne Not und Nutzen, aber verbunden mit großen Risiken und vielen Problemen bis in den April 2023 hinein weiterlaufen dürfen.

Die Risiken und Probleme sind vielfältig. Für alle drei AKW gilt zum Beispiel, dass die letzte sogenannte Periodische Sicherheitsüberprüfung (PSÜ) bereits 13 Jahre zurückliegt. Die PSÜ ist eine große Sicherheitsüberprüfung die die AKW eigentlich alle zehn Jahre auf den Stand von Wissenschaft und Technik bringen sollen. Aufgrund des für Dezember 2022 geplanten Atomausstiegs wurde die 2019 fällig gewordene Überprüfung ausgesetzt. Der Änderungsentwurf der Ampel-Regierung zum Atomgesetz würde diese Überprüfung erneut aussetzen. Dabei bestehen gegenwärtig bereits ohne die PSÜ, die laut Bundesumweltministerium dazu dient, „ergänzend zu den laufenden Kontrollen insgesamt ein AKW quasi auf Herz und Nieren zu prüfen“ 3 erhebliche Mängel durch Materialermüdung.

In Neckarwestheim werden bereits seit einigen Jahren gefährliche Risse in Röhren der Dampferzeuger festgestellt. Es handelt sich um dieselben Alterungseffekte, die in Frankreich seit dem letzten Winter dafür sorgen, dass viele der AKW im Land still stehen. Wenn nur ein einziges der ca. 16.000 Rohre abreißen oder zerbrechen sollte, könnte dies einen Unfall zur Folge haben, der bis zur Kernschmelze führen kann4. Der Verwaltungsgerichtshof in Mannheim verhandelt am 14. Dezember in Anwesenheit von Sachverständigen eine Klage, die Anwohner*innen bereits 2020 gegen den Weiterbetrieb des AKW eingereicht hatten. Somit wird dem AKW Neckarwestheim möglicherweise noch in diesem Jahr die Betriebsgenehmigung entzogen. Nun den Streckbetrieb für den Riss-Reaktor zu planen, greift der gerichtlichen Entscheidung vor und übergeht die bekannten Sicherheitsmängel.

Ähnlich unzuverlässig ist die Situation um das AKW Isar 2. Es musste zunächst heruntergefahren werden, um für den Weiterbetrieb bis in den April 2023 bereitzustehen. Grund dafür sind Leckagen an inneren Ventilen5. Die eigentlich ebenso wichtige Überprüfung weiterer sicherheitsrelevanter Bereiche, wie zum Beispiel eine Kontrolle der Rohre in den Dampferzeugern auf Risse, wie sie in AKW gleichen Typs in Frankreich, Neckarwestheim und im AKW Emsland vielfach festgestellt wurden, scheint nicht vorgenommen zu werden6. Auch das AKW Emsland in Lingen wird, im Fall eines Weiterbetriebs über den 31. Dezember hinaus, zunächst für 14 Tage heruntergefahren werden, um danach mit stark gedrosselter Leistung weiterzulaufen7. Damit würde ein veritabler Stromnetz-Verstopfer im Norden Deutschlands weiter am Netz verbleiben. Denn zu dessen Gunsten muss Windstrom vom Netz genommen werden, damit der AKW-Weiterbetrieb die Stromnetze nicht überlastet8. Tatsächlich trägt ein Weiterbetrieb von Isar 2, Neckarwestheim 2 und dem AKW Emsland nicht nennenswert zur Versorgungssicherheit bei, sondern stellt eine weitere, risikoreiche Sabotage der Energiewende dar. Die Abgeordneten des Bundestages werden in öffentlicher Sitzung am 11. April 2022 darüber abstimmen, ob sie ohne Not und Nutzen, allen Problem und Risiken zum Trotz eine Laufzeitverlängerung bis zum 15. April 2023 mittragen.

Patrick Schukalla, Referent für Atomausstieg, Energiewende und Klima

1 https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Downloads/S-T/20220905-sonderanalyse-winter.pdf?__blob=publicationFile&v=8

2 https://www.ausgestrahlt.de/themen/energiewende-retten-atomkraftwerke-abschalten/stresstest/

3 https://www.bmuv.de/faq/welche-bedeutung-haben-die-sogenannten-periodischen-sicherheitsueberpruefungen

4 https://www.ausgestrahlt.de/themen/atomunfall/gefahr-neckarwestheim/

https://www.ippnw.de/startseite/artikel/de/akw-weiterbetrieb-gefaehrdet-unser-a.html

5 https://www.tagesschau.de/inland/akw-isar-103.html

6 https://www.ausgestrahlt.de/presse/uebersicht/akw-isar2-nicht-nur-wackel-ventile-mussen-uberpruf/

7 https://www.zeit.de/news/2022-10/28/akw-emsland-wird-anfang-2023-zwei-wochen-heruntergefahren

8 https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/akw-laufzeiten-gesetz-gruene-mihalic-101.html

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Materialien

Öffentliches Fachgespräch im Bundestag zum Thema „Austausch über die Atomkatastrophen in Tschernobyl und Fukushima sowie die aktuelle Situation in Saporischschja“ vom 15. März 2023

Statement von Dr. Angelika Claußen "Atomkraft ist eine Hochrisikotechnologie – zivil wie militärisch"

Titelfoto: Stephi Rosen
IPPNW-Forum 174: Der unvollendete Ausstieg: Wie geht es weiter für die Anti-Atom-Bewegung?
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IPPNW-Information: Radioaktive „Niedrigstrahlung“. Ein Blick auf die Fakten (PDF)

IPPNW Forum: 10 Jahre Leben mit Fukushima
IPPNW-Forum "10 Jahre Leben mit Fukushima": 
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