Aus dem Atom-Energie-Newsletter November 2020

Erneuerbare Energien vs. Atomkraft – ein abschließendes Urteil?

Als die Bundesregierung im Jahr 2000 den deutschen Atomausstieg auf den Weg brachte, startete die Atomindustrie eine groß angelegte Werbe- und Lobbykampagne, um den gerade beschlossenen Atomkonsens rückgängig zu machen. Angesichts der zunehmenden Sorgen um den weltweiten Treibhauseffekt und seine Folgen für das Klima, legte man den Schwerpunkt dieser Kampagne auf die vermeintlich umweltfreundlichen Aspekte der Atomenergie. Man versuchte, die Uranproduktion und die Atommüllproblematik auszublenden und konzentrierte sich auf die relativ CO2-freie reine Stromproduktion. Mit grün hinterlegten Plakaten und Slogans wie „Atomstrom ist Klimaschutz“ wurde versucht, die Bevölkerung für eine Laufzeitverlängerung zu erwärmen, die dann 2010 gegen massiven Widerstand durchgedrückt wurde. Richtig überzeugen konnte die Kampagne damals die Mehrheit der Menschen jedoch nicht.

 

Zu offensichtlich waren die Widersprüche und Löcher der sogenannten „nukleare Klimaverbesserungshypothese“. Mit dem mehrfachen Super-GAU von Fukushima fanden die Träume der Atomlobby schließlich ein jähes Ende. Spätestens seit 2011 ist der gesellschaftliche Konsens in Deutschland gefestigt, dass Atomenergie keine rationale Alternative zu fossilen Brennstoffen darstellt.

Während die Debatte über Atomenergie hierzulande also bereits überwunden zu sein scheint, wird sie vielerorts fortgeführt, unter anderem in den USA oder im Vereinigten Königreich, wo selbst ehemalige Umweltaktivisten wie George Monbiot sich für die Atomindustrie stark machen. So wird aktuell im Südwesten Großbritanniens, in Hinkley Point, ein neuer Europäisches Druckwasserreaktor gebaut, der Strom zwar nachweislich deutlich teurer, dafür aber angeblich sauberer machen soll. Umwelt- und Klimaaktivist*innen kritisieren den Bau seit langem und argumentieren, dass Atomenergie zwar CO2-ärmer ist als fossile Brennstoffe, jedoch hinderlich ist für den nachhaltigen Umbau des Energiesektors. Inmitten dieser Debatte erhalten sie nun prominente Rückendeckung aus der Wissenschaft.

In einer Studie in Nature Energy untersucht das Team von Energieforscher Professor Dr. Benjamin Sovacool von der Universität Sussex rückwirkend die Effekte verschiedener Energieformen auf die Emissionen von CO2. Für die Studie wurden Datensätze aus insgesamt 123 Ländern über einen Zeitraum von 25 Jahren systematisch auf Muster untersucht, inwieweit Länder, die Atomkraft und Erneuerbare Energien unterschiedlich nutzen, in der Lage waren, ihre CO2-Emissionen zu senken.

Die Forscher fanden bei Ländern, die in erneuerbare Energieformen investiert hatten, also vor allem in on- und off-shore Windparks und Photovoltaik, einen signifikanten Effekt auf die Senkung der CO2-Emissionen. Bei den Ländern, die in Atomenergie investiert hatten, fanden sie keinen nachweisbaren Effekt. Zudem fanden sie einen negativen Zusammenhang zwischen dem Umfang der nationalen nuklearen und erneuerbaren Anlagen, also, dass sich nukleare und erneuerbare Anlagen gegenseitig verdrängen. Die Aussage der Studie lässt sich wie folgt zusammenfassen: Atomkraft trägt nicht dazu bei, die Kohlenstoffdioxid-Emissionen eines Staates zu senken – die Verwendung von Erneuerbaren Energien hingegen schon.

"Dass wir wirklich keinerlei Effekt der Kernkraft auf eine Reduktion der Kohlenstoffdioxid-Emissionen gefunden haben, ist ziemlich überraschend", so Sovacool. "Wir haben darüber hinaus herausgefunden, dass sich Erneuerbare Energien und Kernkraft nicht gut 'vertragen', eines scheint auf die Kosten des anderen zu gehen. Ein Land kann nicht beides gleichzeitig gut machen."

Das ist insbesondere für Länder wie Frankreich oder Großbritannien eine wichtige, wenngleich unvermeidbare Erkenntnis: Klimaschutz geht nur mit einer Stromversorgung aus 100% erneuerbaren, und dazu braucht es einen Atomausstieg.

Während es auf nationaler Ebene bereits zahlreiche Studien gab, die die Vor- und Nachteile einzelner Energieformen für Klima und Energienetz untersucht haben, ist dies die erste groß angelegte internationale Studie. Zudem werden nicht Hypothesen für die Entwicklung von CO2-Emissionen oder Energiesystemen aufgestellt, sondern existierende öffentlich verfügbare Datensätze der Jahre 1990-2014 untersucht. Durch Regressionsanalysen konnten die Forscher herausfinden, inwiefern die Kohlenstoffdioxid-Emission eines Landes mit der Methode der Energieerzeugung zusammenhängen – also ob die Art der Energieerzeugung mit höheren oder niedrigeren Kohlenstoffdioxid-Emissionen einhergeht. Ein weiterer Vorteil der Studie ist die wissenschaftliche Neutralität. Während andere Studien von der Industrie, Parteien oder Umweltorganisationen in Auftrag gegeben wurden, handelt es sich hier um eine unabhängige Untersuchung, frei von möglichen Interessenskonflikten.

Die Ergebnisse der Studie decken sich mit den Feststellungen der atomkritischen Ärzteorganisation IPPNW, die schon seit vielen Jahren eine Energiewende weg von der fossilen und atomaren Energieerzeugung und hin zu 100% Erneuerbaren Energien propagiert, gekoppelt mit der technischen Weiterentwicklung und politischen Förderung von Maßnahmen des Energiesparens, der Energiekonservierung und der Energieeffizienz sowie einem neuen, nachhaltigeren Umgang mit den begrenzten Ressourcen unseren Planeten. Technologien wie Atomenergie, die seit Jahrzehnten keine technologischen Fortschritte gemacht haben und zudem viel zu zentral und unflexibel sind, haben in einer zukunftsfähigen Energieversorgung keinen Platz.

Es bleibt zu hoffen, dass die neuen Erkenntnisse dieser Studie die Debatte in Ländern wie dem Vereinigten Königreich voranbringen und den politischen Entscheidungsträger*innen die wissenschaftliche Grundlage für ihre Entscheidungen erweitern. Dann wäre schon viel gewonnen.

 

Dr. med. Alex Rosen ist Kinderarzt und Co-Vorsitzender der deutschen IPPNW


Studie:

Sovacool BK et al. „Differences in carbon emissions reduction between countries pursuing renewable electricity versus nuclear power.“ Nature Energy volume 5, pages 928-935(2020). www.nature.com/articles/s41560-020-00696-3

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Materialien

Öffentliches Fachgespräch im Bundestag zum Thema „Austausch über die Atomkatastrophen in Tschernobyl und Fukushima sowie die aktuelle Situation in Saporischschja“ vom 15. März 2023

Statement von Dr. Angelika Claußen "Atomkraft ist eine Hochrisikotechnologie – zivil wie militärisch"

Titelfoto: Stephi Rosen
IPPNW-Forum 174: Der unvollendete Ausstieg: Wie geht es weiter für die Anti-Atom-Bewegung?
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