Medizin unter Belagerung

Eine Visite in Gaza

09.06.2008 Eine mit High-Tech-Überwachungstechnologie üppig ausgestattete, klimatisierte, zwar großdimensionierte aber nahezu menschenleere  Schalterhalle, das ist „Erez Crossing“, der Übergang, durch den wir Anfang Juni von Israel nach Gaza einreisten – in die hermetisch abgeriegelte Region, die von der israelischen Regierung als „feindliches Gebiet“ deklariert wurde, seitdem dort die islamistische Hamas die Verwaltung übernommen hat. Gemeinsam mit einer in der katholischen Friedensbewegung Pax Christi aktiven Journalistin wollte ich etwas über die gesundheitliche Situation und medizinische Versorgung  im Gaza-Streifen erfahren, unter den Bedingungen der Belagerung und einschneidenden Drosselung von Versorgungsgüter-Lieferungen, welche als Maßnahmen gegen den Beschuss mit „Qassam“-Raketen verhängt worden waren.

Eindrücke
Nach Passieren der Kontrollen und etwa einem Kilometer Fußweg, vorbei an zerbombten früheren Fabrik-Anklagen, empfängt uns unser Gastgeber, Dr. Husam Al-Najar, ein in Deutschland ausgebildeter Umweltingenieur. Erste Eindrücke von den Embargo-Folgen gewinnen wir über unser Geruchsorgan: wegen des Mangels an Dieseltreibstoff haben viele Autofahrer auf   Pflanzenöl umgestellt, welches auf den Straßen einen charakteristischen Geruch verbreitet. Ein spezifischer Duft geht auch von dem großen Klärteich im Norden der Stadt Gaza aus, Dr. Al-Najar erläutert, dass wegen Mangel an Ersatzteilen für die entsprechenden Pumpen die Belüftung der Abwässer in diesem Reservoir nicht funktioniert, wodurch Methangas  freigesetzt wird. Besonders unangenehm sind die zahlreichen kleineren oder größeren Müllberge auf den Straßen, deren Zersetzung in der Gaza-typischen Hitze einen  scharfen Gestank erzeugt. Die städtische Müllabfuhr verfügt nur noch über 60% des benötigten Kraftstoffs für den Abtransport, und die nun eingesetzten Esel- und Pferdekarren können die fehlende Kapazität nicht kompensieren.

Die persönlichen Kontakte mit Dr. Al-Najar und seinen Freunden und Kollegen geben uns einen Einblick, wie die Blockade Gazas die Lebenspläne der Menschen beschädigt: der Umweltingenieur kann die dringend erforderliche Erweiterung der Kläranlage, für die Gelder von der deutschen Kreditanstalt für Wiederaufbau  bereitstehen, nicht realisieren, weil Zement zu den Gütern gehört, die „aus Sicherheitsgründen“ nicht nach Gaza durchgelassen werden. Der Student Taer kann sein Studium in Kanada nicht fortsetzen, weil er nach einem Besuch bei seiner Familie im Gazastreifen nicht wieder ausreisen durfte. Fuad, der als Fliesenleger 30 Jahre in Tel Aviv gearbeitet hat, ist nun, wie etwa 50% der ökonomisch Aktiven, arbeitslos und weiß nicht, wie er seine Familie über Wasser halten soll.

Beim Besuch im der anglikanischen Kirche gehörenden Ahli Arab Hospital, einem sehr gepflegten, offensichtlich mit großem Engagement betriebenen  Krankenhaus in Gaza-City, erläutern uns die Direktorin Suhalia Tarazi zusammen mit dem Chefarzt Dr. Maha Ayyad die enormen Schwierigkeiten beim Betrieb ihres 100-Betten- Hauses, das auch eine große Facharzt-Ambulanz für die unterversorgte Bevölkerung aus den armen Schichten der Region unterhält. Finanziell wird der Betrieb des Hospitals immer schwieriger, da die Patienten kaum noch in der Lage sind, eigene Zuzahlungen zu leisten. Es bedeutet eine große Anstrengung, ausreichend Lebensmittel und Medikamente für die stationären Patienten bereitzustellen. Die stundenlangen Stromausfälle und der Mangel an Dieseltreibstoff für die Notfall-Generatoren hatten die Leitung einige Tage zuvor beinahe gezwungen, das ganze Haus zu schließen, so wie dies für die Ambulanz im Vormonat tatsächlich erforderlich wurde. Das Personal kommt wegen des Treibstoffmangels für den öffentlichen Transport oft zu spät zum Dienst. Histopathologische Untersuchungen von Operationspräparaten sind enorm erschwert, da dies in Gaza nicht mit der erforderlichen Qualität geleistet werden kann, und der Transport nach Jerusalem bürokratisch behindert wird: für jedes einzelne Präparat muß eine gesonderte Genehmigung beantragt werden! Dringende Renovierungsarbeiten an dem 100 Jahre alten Gebäude können wegen Zementmangels nicht ausgeführt werden. Die Reisemöglichkeiten sind so eingeschränkt, dass sogar der anglikanische Bischof mit Sitz in Jerusalem kürzlich keine Genehmigung zum Besuch in Gaza erhielt. Das bittere Resümee von Direktorin und Chefarzt: „1,4 Millionen Menschen in einem Käfig zu halten, ist inhuman; die ganze Welt sieht uns zu, und niemand macht etwas.“

Befunde
Der Gaza-Streifen bedeckt eine Fläche, die ungefähr halb so groß ist wie die des Stadtstaats Hamburg. Hier leben etwa 1,4 Millionen Menschen, eine der weltweit höchsten Geburtenraten lässt bis zum Jahr 2030 eine Verdoppelung der Bevölkerungszahl erwarten. Der wirtschaftliche Niedergang, beschleunigt durch die seit Januar 2006 mehrfach verschärfte Blockade, hat dazu geführt, das inzwischen rund 80% der Bevölkerung in Gaza von Nahrungsmittelhilfen der UN  abhängig sind, organisiert insbesondere durch UNRWA, die seit 1948 in der Region tätige UN-Hilfs- und Arbeitsagentur für palästinensische Flüchtlinge. Im April diesen Jahres musste die UNRWA selbst für 4 Tage die Lebensmittelverteilung an 650.000 Bedürftige einstellen, weil sie nicht die nötigen Treibstofflieferungen für die Fahrzeuge erhalten hatte.
Gemeinsam mit vier weiteren UN-Institutionen bildet UNRWA die Koordinierungsstelle OCHA, die regelmäßig Berichte über die Lage in den besetzten palästinensischen Gebieten herausgibt. So ist im „Gaza Strip Inter-Agency Humanitarian Fact Sheet“ vom Juni über die Folgen der Einschränkung von Strom- und Treibstofflieferungen zu lesen, dass die Gemüseproduktion beeinträchtigt wurde, weil Bauern nicht genügend Treibstoff für die Bewässerungspumpen erhielten. Eine UN-Untersuchung über die Ernährungssituation ergab, dass die Menschen in Gaza weniger essen: im Vergleich zum Januar 2008 reduzierte die Hälfte der Befragten ihre Ausgaben für Nahrungsmittel, 89% durch Erwerb qualitativ weniger wertvoller Waren, 75% durch geringere Mengen. - Die Wasser- und Abwasserbearbeitung erhielt im April nur 31% ihres Bedarfs an Treibstoff, was zu gravierenden Einschränkungen führte: 15% der Bevölkerung hatten nur 4 bis 6 Stunden pro Woche fließendes Wasser, 25% alle vier Tage, und nur 60% verfügten täglich über Trinkwasser. Keine der drei Abwasseranlagen funktionierte normal, Ersatzteil- und Energiemangel führten dazu, dass 77 Millionen Liter  Abwässer überhaupt nicht oder unzureichend geklärt täglich in das Mittelmeer geleitet werden mussten. Eine Studie des palästinensischen Gesundheitsministeriums und der WHO ergaben dann auch, dass elf der 30 Strände des Gaza-Streifens mit Fäkal-Bakterien verunreinigt waren.

Im April-Bericht von OCHA wird erwähnt, dass auf Grund des Strom- und Treibstoffmangels  drei Krankenhäuser im südlichen Gaza im April für zwei Wochen alle elektiven Operationen absagen mussten. Schwierig ist es auch, unentbehrliche medizinische Geräte wie z.B. Inkubatoren oder Dialysegeräte trotz der Blockade und daraus folgendem Ersatzteilmangels in Funktion zu halten.

Im Gespräch mit Dr. Basem Naim, dem in Gaza amtierenden Gesundheitsminister, der in Erlangen studiert hat und folglich recht gut deutsch spricht, erfuhren wir dann von weiteren bedrängenden Problemen: von einer Liste der 450 essenziellen Medikamente sind für das palästinensische Gesundheitswesen aktuell zwischen 50 und 150 Substanzen nicht ständig verfügbar. Die ärztliche Fortbildung, die auf Reisemöglichkeiten und internationalen Austausch angewiesen ist, ist seit etwa drei Jahren unterbrochen. Es sei eine tragische Situation, dass mit Hilfe der EU ein relativ gut funktionierendes Gesundheitswesen aufgebaut wurde, welches nun allmählich zerstört würde. Er erwähnt außerdem Angriffe auf medizinische Versorgungseinrichtungen bei militärischen Operationen der israelischen Armee. Beim Besuch des El-Wafa-Rehabilitationskrankenhaus waren denn auch an der Außenmauer Einschüsse zu sehen, die von einem Angriff israelischer Panzer im April her stammen, wie uns die Kollegen dort berichten.  

Brücken gegen Mauern
Als dieser Bericht verfasst wurde, war ein allerdings bisher keineswegs stabiler Waffenstillstand zwischen Hamas und der israelischen Regierung in Kraft getreten, von dem zu hoffen ist, dass er die Not der Menschen in Gaza lindern kann. Denn wie die Direktorin des anglikanischen Krankenhauses sagte: „Hass zu produzieren, wird niemals Sicherheit bringen“.  Kollektive Bestrafung ist weder ein legitimes, noch ein zielführendes Mittel, Frieden voranzubringen.
Von Januar bis April fielen dem häufigen Beschuss mit „Qassam“- Flugkörpern vom nördlichen Gaza-Streifen aus vier israelische Zivilisten zum Opfer. Im gleichen Zeitraum starben bei Luft- und Panzerangriffen der israelischen Armee über  300 Palästinenser im Gaza-Streifen , 61 davon Kinder (FR 11.6.08).

In der Region gibt es trotz allem, auf beiden Seiten der Mauer, Initiativen im Gesundheitswesen, die gegenüber Hass und Gewalt auf bewundernswerte Weise Vernunft und Humanität propagieren und  praktisch umsetzen, und dabei sehr gut kooperieren. Das Gaza Community Mental Health Programme (GCMHP) betreut nicht nur eine große Zahl psychisch traumatisierter Patienten, und leistet damit einen Beitrag zur Prävention zukünftiger Gewalt, sondern wirkt auch unmittelbar in politisch-soziale Zusammenhänge hinein, sei es durch Kurse in Schulen, die Konfliktlösungswege trainieren, sei es in der Organisierung von Frauengruppen, die ihre Stellung in der  patriarchalen Familie und Gesellschaft stärken sollen. Es werden auch Schulungen mit palästinensischen Polizisten und Gefängnisbeamten durchgeführt, um die Menschenrechte im Bewusstsein dieser Berufsgruppen stärker zu verankern. Und Dr. Tawahina, Direktor des Programms, hat uns zu einer internationalen Konferenz eingeladen, die im Oktober zu den psychosozialen Folgen der Belagerung gemeinsam mit der WHO in Gaza durchgeführt wird: „Siege and Mental Health…Walls versus Bridges“.
Ein israelischer  Konterpart für Verständigung und Humanität sind die „Physicians for Human Rights - Israel“(PHR), die auf unterschiedlichen Feldern für das Recht auf Gesundheit streiten, sei es durch unmittelbare ärztliche Hilfe für mittellose Migranten in Israel, sei es durch unbezahlte fachärztliche Konsultationen im Westjordanland, oder im entschiedenen politischen und auch juristischen Eintreten für das Recht schwerkranker Palästinenser, israelische Spezialbehandlungen in Anspruch zu nehmen,  soweit diese in den besetzten Gebieten nicht zugänglich sind. In Tel Aviv berichtete uns Miri Weingarten von den schwierigen Auseinandersetzungen mit den Regierungsinstitutionen um jeden einzelnen Patienten, der z.B. wegen einer Krebserkrankung Bestrahlung braucht oder wegen einer komplizierten Herzoperation eine Ausreisegenehmigung aus Gaza benötigt. Immer wieder werden solche Genehmigungen verweigert oder auch so lange verzögert, bis der Betroffene an der Erkrankung und fehlenden Therapie verstirbt, wie dies nach Schätzungen in über 100 Fällen in Gaza geschehen ist. Ihren politischen Mut haben PHR erst unlängst erneut unter
Beweis gestellt, als sie Fälle veröffentlichten, bei denen der israelische Geheimdienst Schwerkranke bei der Ausreise aus Gaza nötigen wollte, als Informanten zu kooperieren, und andernfalls die bereits genehmigte Durchreise zu verhindern drohte. - Unmittelbare Zusammenarbeit mit dem GCMHP betreiben die PHR in der Kampagne zur Beendigung der Belagerung von Gaza, und haben es auch da wieder nicht bei Worten belassen, sondern vor einigen Monaten einen Hilfskonvoi mit medizinischen Bedarfsgütern dorthin auf den Weg gebracht.

Der israelisch-palästinensische Konflikt hat wesentliche Wurzeln in Europa, und ist für uns Europäer in seinen regionalen und globalen Wirkungen von erheblicher Relevanz. Als Teil des „Quartetts“ hat die EU und damit auch Deutschland de facto die Blockadepolitik um Gaza unterstützt, und trägt Mitverantwortung für die gravierenden humanitären Folgen. Gerade im Gesundheitssektor sollten wir solchen Folgen gegenüber aufmerksam sein, und für uns zugängliche Möglichkeiten der Brückenbildung in angebliche „Feindgebiete“ nutzen.

Matthias Jochheim, Mitglied des Vorstands der deutschen IPPNW (e-mail: ippnw[at]ippnw.de)

 

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Ansprechpartnerin

Angelika Wilmen

Angelika Wilmen
Referentin für Friedenspolitik
Tel. 030 / 698074 - 13
Email: wilmen[at]ippnw.de

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