Geschichte der internationalen IPPNW

In zwei Jahrzehnten erreichten die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) weltweite Beachtung. Zeitweise war sie die am schnellsten wachsende medizinische Organisation mit über 250.000 Mitgliedern in 85 nationalen Sektionen.

Noch eindrucksvoller als diese Zahlen ist jedoch ihre tiefgreifende Wirkung auf die öffentliche Meinung zum Thema nukleare Bedrohung. Zu der Zeit, als die Ost-West-Verständigung einen Tiefstand erreicht hatte, halfen sie, Vertrauen zu schaffen durch die Förderung einer phantasievollen Bürgerdiplomatie, die sich nicht um ideologische Grenzen kümmerte.

Physicians for Social Responsibility

Die erste Ärzteorganisation, die sich in den USA mit den medizinischen Auswirkungen des Atomkrieges beschäftigte, war Physicians for Social Responsibility (PSR = Ärzte in sozialer Verantwortung), die 1961 in Boston gegründet wurde. Sie entstand im Zusammenhang mit der Verschärfung des Kalten Krieges in der Zeit nach John F. Kennedys Präsidentschafts-Wahl im Jahre 1960. Die Verschlechterung der Beziehung zu Russland im folgenden Jahr führte zu großer Betroffenheit über Folgen eines Konfliktes mit konventionellen Waffen, ebenso wie die Kuba-Krise, der Bau der Berliner Mauer und die ober-irdischen Atomtests.

Am 31. Mai 1962 veröffentlichte die Gruppe, unter ihnen das spätere Gründungsmitglied der IPPNW Bernard Lown, eine vielbeachtete Artikelserie in New England Journal of Medicine mit dem Titel: "Die medizinischen Folgen des thermonuklearen Krieges".

Der Aktivität der PSR war es maßgeblich zu verdanken, dass im Jahr 1963 der überirdische Atomwaffenteststopp-Vertrag von den USA unterzeichnet und das Zivilschutz-Programm unter Präsident Carter abgesetzt wurde. Trotz wachsender Atomwaffen-Arsenale in den folgenden Jahrzehnten schlief die Bewegung zunächst wieder ein.

1979 befassten sich Ärzte in den USA mit der gesundheitlichen Gefährdung durch Atomwaffen und Atomkraftwerke. Die aus Australien stammende Kinderärztin Helen Caldicott und Eric Chivian, Psychiater am Massachusetts Institute for Psychology belebten die PSR wieder und die dynamische Caldicott wurde ihre Präsidentin. PSR veröffentlichte eine Anzeige im New England Journal of Medicine, dieses Mal über die Gesundheits-Gefahren der Atomkraft-Werke und radioaktiven Abfalls, die Gefahr durch atomare Unfälle und die Verbreitung von Atomwaffen. Die ÄrztInnen forderten wegen dieser Gefahren die Abschaffung von Atomwaffen, einen Baustopp und schrittweise Stilllegung für Atomkraft-Werke, usw. Einen Tag vor Erscheinen der Anzeige ereignete sich die Atomkatastrophe von Three Mile Island. In ihrer Folge standen der Neubeginn der US-amerikanischen Ärzte-Bewegung und ihre Verbreitung im ganzen Land. PSR wuchs innerhalb von zwei Jahren von 10 auf 11.000 Mitglieder in 85 Ärztegruppen.

Obwohl die Frage der Atomkraft-Werke einen großen Teil der medizinischen Untersuchungen auf sich zog, wurde vielen MitarbeiterInnen der PSR klar, dass die größte Gefahr für die Menschheit ein Atomkrieg ist. Als Ergebnis beschloss man, eine Aufklärungsveranstaltung für ÄrztInnen über die Gefahren eines Kernwaffen-Krieges zu organisieren, die im Februar 1980 unter dem Titel "Die medizinischen Folgen der Atomwaffen und des Atomkriegs" in Boston stattfand. Dieses Symposium zog die Aufmerksamkeit der Presse auf sich, und die Schlussfolgerung wurde in einem offenen Brief an Präsident Carter und an Minister-Präsident Breschnev gerichtet, veröffentlicht in der New York Times und von 700 ÄrztInnen, WissenschaftlerInnen, prominenten US-BürgerInnen einschließlich vier Nobelpreis-TrägerInnen unterzeichnet. Carter veranlasste aufgrund dieses Briefes eine Diskussion im Weißen Haus und Breschnev veröffentlichte den Brief auf der ersten Seite der Prawda.

Internationale Ärztebewegung wird gegründet

Ein Jahr vor der Wieder-Belebung von PSR schlug der junge Arzt aus Boston, James Muller, der fließend Russisch sprechen konnte, seinem Vorgesetzen, dem Kardiologen Prof. Bernard Lown, vor, sowjetische KollegInnen anzusprechen, um eine gemeinsame Konferenz zu organisieren. Daraufhin schrieb Lown einen Brief an den stellvertretenden Gesundheits-Minister der Sowjetunion, Dmitri Venediktov, aber bekam keine Antwort. Im Februar und Juni des folgenden Jahres schrieb er wiederum an einen Abgeordneten im Gesundheits-Ministerium, Prof. Evgenij Chazov, jedoch erst im Oktober erhielt er eine positive Rückmeldung für eine Konferenz von sowjetischen, japanischen und US-amerikanischen ÄrztInnen.

Als der offene Brief von PSR in Moskau diskutiert wurde, erwähnte Chazov Lowns Vorschlag für eine gemeinsame Konferenz. In der Folge kam ein Treffen zwischen Prof. Bernard Lown und zwei Abgeordneten im Gesundheits-Ministerium der UdSSR, Prof. Evgenij Chazov und Prof. Blokhim, zustande. Chazov war ebenfalls Kardiologe und persönlich betreuender Arzt von Breschnev.

Im Dezember 1980 gründeten in Genf drei US-Kardiologen und drei Sowjet-Kardiologen die internationale Ärzte-Organisation "International Physicians for the Prevention of Nuclear War". Sie waren: Bernard Lown und James Muller, Kardiologe an der Harvard Medical School, Eric Chivian, Psychiater am Massachusetts Institute of Technology (MIT) Evgenij Chazov, Generaldirektor des kardiologischen Forschungs-Zentrums der UdSSR und behandelnder Arzt der sowjetischen Führung, Mikhail Kuzin, früher Dekan des Ersten Moskauer Medizinischen Instituts und Direktor des Vischnevsky-Instituts für Chirurgie und Leonid Ilyin, Direktor des Instituts für Biophysik des Gesundheits-Ministeriums und Vorsitzender der Nationalen Strahlenschutz-Kommission. Es wurde entschieden, sich nur mit medizinischen Fragen und Atomkrieg und auf keinen Fall mit politischen Fragen zu beschäftigen. Sie veröffentlichten ein Statement, das im US-amerikanischen und sowjetischen Fernsehen ausgestrahlt wurde.

Die Weltkongresse

Der erste Weltkongress fand im März 1981 in Airlie, Virginia. statt, der zweite Welt-Kongress im März 1982 in Cambridge und der dritte in Amsterdam 1983. Beim ersten Kongress in Airlie war das Ziel, eine Resolution an weltpolitisch bedeutende Führer, die Kolleginnen und Kollegen und die Öffentlichkeit abzufassen. An Reagan und Leonid Breschnev ergingen daraufhin öffentliche Appelle. Auf dem Kongress wurde ein "Aufruf an alle Ärzte der Welt" verabschiedet. Es wurde vereinbart, einmal pro Jahr einen Kongress zu veranstalten, solange die nukleare Bedrohung noch weiterbesteht. Das Medien-Echo war sehr groß und generell zustimmend, trotz einiger Skepsis im Hinblick auf die Möglichkeiten fruchtbarer Zusammenarbeit mit den Sowjets.

Die internationale Satzung und die Struktur der IPPNW wurden in Amsterdam 1983 verabschiedet. Als Leitungsgremium wurde der "International Council" (internationaler Rat) gegründet, in dem die damals 30 IPPNW-Sektionen mit je einem Delegierten vertreten waren. In Ergänzung zum Eid des Hippokrates wurde ein neuer Eid, eine ärztliche Verpflichtungs-Formel, verabschiedet. Es folgten Kongresse in Helsinki (1984), Budapest (1985), Köln (1986), Moskau (1987), Montreal (1988) und Hiroshima (1989).

Nach dem Hiroshima-Kongress wurden die IPPNW-Kongresse nur jedes zweite Jahr abgehalten. 1991 wurde in Stockholm die IPPNW-Agenda erweitert und das IPPNW-Dreieck als Symbol des Zusammenwirkens von Krieg, Armut und Umweltzerstörung angenommen. Beim 11. Welt-Kongress in Mexiko 1993 wurde das Amt des nord-amerikanischen Co-Präsidenten von Vic Sidel übernommen, Bernard Lown verabschiedete sich nach 13 Jahren an der Spitze der internationalen Ärzte-Föderation. Zudem wurde ein Co-Präsident aus dem "Süden" gewählt, Carlos Pazos Beceiro aus Kuba - ab jetzt gibt es drei Co-Präsidenten. In Melbourne 1998 brachten die schweizerische und die deutsche IPPNW eine Resolution über die Verbindung zwischen Atomenergie und Atomwaffen ein. Sie wird verabschiedet. Damit spricht sich die internationale IPPNW zum ersten Mal auch gegen die zivile Nutzung der Atomenergie aus. Mit dem Pariser Nuklear-Mediziner Abraham Béhar wird in Paris 2000 erstmals in der 30-jährigen Geschichte der IPPNW ein Europäer an die Spitze der Föderation als Co-Präsident gewählt.

Die Kampagnen

Eines der Hauptziele der IPPNW-Aktivitäten international wie in Deutschland war die Durchsetzung eines Atomwaffentest-Stopp, zunächst durch ein Atomtest-Moratorium. Die IPPNW-Analyse ergab, dass der atomare Rüstungs-Wettlauf nicht zum Stillstand gebracht werden könne, bevor nicht die Tests eingestellt waren. Nach langjähriger Arbeit und Protesten wurde 1996 ein umfassender Teststopp-Vertrag abgeschlossen.

Das Projekt Weltgerichtshof (World Court Project) wurde 1992 in Genf von der IPPNW, zusammen mit dem Internationalen Friedensbüro (IPO) und der Internationalen Vereinigung von Juristen gegen Kernwaffen (IALANA) gestartet. Das Projekt erzielte ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) über den Rechts-Status der Atomwaffen und ihren Einsatz. Der IGH veröffentlichte sein Gutachten über den Völkerrechts-Status der Atomwaffen am 8. Juli 1996. Er erklärte: "Die Androhung mit und der Einsatz von Atomwaffen sind generell völkerrechtswidrig."

IPPNW forderte zusammen mit anderen Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO) von Delegierten bei der vierwöchigen Überprüfungs- und Verlängerungs-Konferenz des Atomwaffen-Sperrvertrags in New York 1995 die sofortige Aufnahme von Verhandlungen über eine "Atomwaffen-Konvention" (ein Abkommen über die Abschaffung aller Atomwaffen). Sie veröffentlichten eine Erklärung (Abolition 2000 Statement), die innerhalb einer Woche von 200 Organisationen unterzeichnet wurde. Diese Erklärung hat inzwischen über 2000 Organisationen und Kommunen als Unterzeichner und gilt als Basis für die Mitgliedschaft im Abolition 2000-Netzwerk, das IPPNW mitbegründet hat.

Die IPPNW fordert auf nationaler und globaler Ebene ein Verbot der Produktion, des Exports, der Verbreitung und des Einsatzes von Landminen. Ein weltweites Bündnis aus Nichtregierungs-Organisationen, das Internationale Bündnis gegen Landminen (International Campaign to Ban Landmines = ICBL), an dem IPPNW sich aktiv beteiligt, übte einen dermaßen effektvollen Druck auf die Öffentlichkeit und die Politiker aus, dass im Dezember 1997 ein international verbindliches Abkommen gegen Anti-Personen-Minen zur Unterschrift auslag. Die ICBL erhielt 1997 den Friedens-Nobelpreis. Im Januar 1997 startete die IPPNW eine langfristige Aufklärungs-Kampagne über die Folgen des Einsatzes von Landminen. Sie organisierte eine Reihe von Veranstaltungen zu dem Thema in Russland, Kenya, Japan, Georgien, Armenien, Uganda und Zambia. IPPNW-Mitglieder und Regional-Gruppen beteiligen sich zudem am deutschen Bündnis gegen Landminen.

Die Verhinderung des Krieges ist ein Schwerpunkt für die IPPNW in den 90iger Jahren und auch jetzt im 21. Jahrhundert. Viele Sektionen sehen die Konflikt-Bearbeitung und -Lösung als ihre Hauptarbeit, besonders die Sektionen in Konflikt-Regionen. Da die meisten Kriege mit Kleinwaffen geführt werden, beteiligt sich die IPPNW an einer internationalen Kampagne gegen Kleinwaffen.

Mehr Informationen zu der internationalen IPPNW-Föderation und ihrer Arbeit finden Sie in englischer Sprache auf der Homepage www.ippnw.org


Quellen:

Armbruster-Heyer, Regine: Geschichte der Internationalen Ärztebewegung zur Verhinderung des Atomkrieges in Bastian, Till (Hrsg.) Wir werden Euch nicht helfen können. Edition Freitag beim Robinson Verlag, Frankfurt/M 1983.

Humphrey, Richard L.: Zur Geschichte der International Physicians for the Prevention of

Nuclear War. In Bastian, Till (Hrsg.): Friedensnobelpreis für 140 000 Ärzte, rororo aktuell, Reinbek 1985.

Lown, Bernard: "Die Geschichte der "Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs" (IPPNW) – Wichtige Stationen und Perspektiven" in Ruprecht, Thomas M. "Äskulap oder Mars? Ärzte gegen den Krieg", Donat Verlag, Bremen 1991.

Ruprecht, Thomas M. Friedensbewegung im Gesundheitswesen. Zur Geschichte der "Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges" und ihrer bundesdeutschen Sektion. Jungjohann Verlagsgesellschaft, Neckarsulm 1987

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