06.05.2019 Atomwaffen und Atomenergie sind zwei Seiten derselben Medaille. Diese Erkenntnis ist so alt wie sie wahr ist. Ohne Atomkraftwerke hätte man keine Atomwaffen herstellen können und ohne Atomwaffen hätte es keine Notwendigkeit für Atomkraftwerke gegeben. Die künstliche Trennung der Atomindustrie in einen militärischen und eine zivilen Ast ist in großen Teilen Augenwischerei, beruhen sie doch auf derselben Infrastruktur, derselben Finanzierungsgrundlage und derselben institutionellen Kontrolle. Gleichzeitig gibt es einen Bereich, der immer außen vor ist, wenn es um Kritik an der Atomindustrie geht: der medizinische Sektor.
Diagnostische und therapeutische Radioisotope werden im ärztlichen Alltag regelmäßig genutzt um Erkrankungen nachzuweisen, Nierenfunktion zu evaluieren, Krebserkrankungen zu klassifizieren und nicht zuletzt um bösartige Tumore zu behandeln. Medizinische Isotope sind so etwas wie das Feigenblatt der Atomindustrie - ein Schild gegen umfassende Kritik, ein Einfallstor in neue Märkte und ein schlagendes Argument für den Fortbestand einer nuklearen Infrastruktur, die Spaltmaterialien aus den Uranminen in die Krankenhäuser bringt.
Dabei wird nur selten die Frage nach der Verhältnismäßigkeit gestellt: bedarf es tatsächlich der umfangreichen nuklearen Infrastruktur die wir heute haben, mit Hunderten von Uranminen und Aufbereitungsanlagen, Tausenden von Urantransporten zu Land und zu Wasser, Atomfabriken und Anreicherungsanlagen? Wäre eine alternative Produktion von Radioisotopen denkbar, die unabhängig von der traditionellen Atomindustrie existieren könnte, so dass auch in einer Welt ohne Atomkraftwerke und Atomwaffen weiterhin die Vorzüge der Nuklearmedizin nutzbar wären?
Um diese Frage zu beantworten, muss man zunächst die unterschiedlichen Arten von medizinischen Radiosotopen genauer betrachten:
Eine Reihe von Radioisotopen kann mit relativ geringem technischen Aufwand in einem Zyklotron, bzw. einem speziellen Generator hergestellt werden, benötigt also als Ausgangsmaterial kein Uran:
- Jod-123 wird vor allem in der szintigraphischen oder SPECT-Diagnostik von Schilddrüsenerkrankungen genutzt (z.B. MIBG-Szintigraphie) und kann in einem Zyklotron aus Xenon-124 hergestellt werden
- Indium-111 wird vor allem in der Szintigraphie und SPECT-Diagnostik genutzt, beispielsweise um Leukozyten oder spezielle Rezeptoren radioaktiv zu markieren und ihre Verteilung im Körper festzustellen. Es wird in einem Zyklotron aus Cadmium hergestellt.
- Fluor-18 FDG wird vor allem in der PET-Diagnostik für die Darstellung von Tumoren oder Glukosestoffwechselvorgängen genutzt. Es wird in einem Zyklotron aus 18O-angereichertem Wasser gewonnen.
- Gallium-68 wird in Germanium-Gallium-Generatoren hergestellt und kann in der PET-Diagnostik spezieller Tumoren wie z.B. des Prostatakarzinoms genutzt werden.
Andere Radioisotope benötigen hohe Neutronenflüsse, wie sie beispielsweise im Kernbereich eines Atomkraftwerks herrschen:
- Jod-131 wird in der Therapie von Schilddrüsenüberfunktion und Schilddrüsentumoren genutzt und entsteht durch die Bestrahlung von Tellur in Atomkraftwerken. Weltweit gibt es etwa 5-7 Reaktoren, die Jod-131 für medizinische Zwecke herstellen.
- Technetium-99m ist der am häufigsten verwendete radioaktiver Tracer in der Szintigraphie und der SPECT-Diagnostik weltweit. Es handelt sich um einen Gammastrahler mit einer Halbwertszeit von etwa 6 Stunden. 80-90% aller bildgebenden nuklearmedizinischen Verfahren nutzen 99MTc, das entspricht etwa 30 bis 40 Millionen Anwendung pro Jahr. 99MTc lässt sich prinzipiell durch Bestrahlung von Molybdän im Zyklotron herstellen. Heutzutage wird aber vor allem die Produktion in Atomkraftwerken praktiziert.
Es ist also vor allem die Produktion dieser beiden Radioisotopen, vor allem von Technetium-99m, die ins Auge gefasst werden muss, wenn man in einer Welt ohne Atomwaffen und ohne Atomenergieproduktion die Versorgung der Bevölkerung mit medizinischen Radionukliden sicherstellen will.
Vor einigen Jahren stürzte eine unglückliche Reihe von technischen Ausfällen die weltweit Produktion von Technetium-99m in eine tiefe Krise. Dazu muss man wissen, dass 99MTc heutzutage fast ausschließlich aus Molybdän-99 hergestellt wird, welches durch Neutronenbestrahlung von hoch-angereichtertem Uran in Atomkraftwerken entsteht. Hoch angereichertes Uran (highly-enriched uranium oder HEU) beschreibt eine Uranmischung mit mehr als 20% Anteil von Uran-235. Eines der Zerfallsprodukte von Uran-235 ist Molybdän-99, welches nach der Bestrahlung im Reaktor herausgelöst und für den weiteren Transport aufbereitet und in flüssige Form gebracht wird. In einem sogenannten Tc99m-Generator kann Molybdän-99 dann bedarfsgerecht in Technetium-99m umgewandelt werden, welches aufgrund seiner kurzen Halbwertszeit von rund 6 Stunden stets vor Ort in den Krankenhäusern oder nuklearmedizinischen Praxen hergestellt werden muss.
Bis vor kurzem existierten weltweit 8 Reaktoren, die Molybdän-99 herstellten:
- der BR-2 Reaktor in Mol, Belgien
- der High Flux Reaktor in Petten, Niederlande
- der LVR-15 Reaktor in Rez in der Tschechischen Republik
- der Maria Reaktor in Otwock-Swierk, Polen
- der OPAL Reaktor in Lucas Heights, Australien
- der SAFARI-1 Reaktor in Pelindaba, Südafrika
- der OSIRIS-Reaktor in Saclay, Frankreich
- der NRU Reaktor in Chalk River, Kanada
Die folgende Grafik verdeutlicht die Komplexität der globalen Versorgungskette für Technetium-99m:
Das System ist aber nicht nur komplex, es ist auch fragil. Fällt ein Reaktor aus, kann es weltweit zu Engpässen kommen. 2009 kam es zu einem Leck im Reaktordruckbehälter des NRU Reaktors in Chalk River, Kanada. Schweres Wasser trat aus und der Reaktor musste notfallmäßig abgeschaltet werden. Das Ablassen des Schweren Wassers und die Reparaturarbeiten zogen sich bis 2010. In dieser Zeit fiel zudem der High Flux Reaktor in Petten aus, da Korrosionsschäden im Kühlkreislauf zu Sicherheitsmängeln geführt hatten. Mit diesen beiden Reaktoren fielen 65% der weltweiten Produktionskapazitäten aus. Gleichzeitig fanden in den Reaktoren in Frankreich, Belgien und Südafrika Wartungsarbeiten statt, so dass sie ebenfalls für die Produktion ausfielen. In Folge kam es zu dramatischen Engpässen in der Produktion von Molybdän-99 und somit auch von Techetium-99m.
In dieser Zeit mussten nuklearmedizinische Untersuchungen vielfach abgesagt oder verschoben werden, Krankenhäuser schickten Patient*innen zum Teil in entfernte Praxen, wo es noch Restbestände an Technetium gab, so dass zumindest dringende Fälle noch ausreichend behandelt werden konnten.
2015 wurde der OSIRIS-Reaktor in Frankreich abgeschaltet, 2016 der NRU-Reaktor in Kanada. Rund 40% der weltweiten Produktionskapazität für Molybdän-99 entfielen damit. Der gesamte Nordamerikanische Markt muss seitdem durch Südafrika, Australien und Europa abgedeckt werden. Mittlerweile wurde als Ersatz für den Nordamerikanischen Markt der kommerzielle CANDU-Reaktor in Darlington, Kanada gefunden, der künftig die Produktion von Molybdän-99 aufnehmen soll.
Angesichts des steigenden weltweiten Bedarfs an Technetium-99m und der gleichzeitig abnehmenden Produktionskapazitäten werden Rufe nach dem Bau neuer Atomreaktoren laut oder dem Umbau bestehender Forschungsreaktoren wie dem in München-Garching, um auch künftig ausreichende Mengen an Molybdän-99 für die Technetiumproduktion herstellen zu können. Ansonsten drohen künftig neue Engpässe, denn die Reaktoren, die Molybdän herstellen, sind allesamt alt und unfallgefährdet.
Ausfälle und Störungen häufen sich, Wartungsperioden ziehen sich in die Länge. Im Oktober 2018 musste der Reaktor in Petten erneut wegen Austritt von Schwerem Wasser abgeschaltet werden. In den nächsten 10 Jahren werden sowohl der High Flux Reaktor in den Niederlanden und der BR-2 Reaktor in Belgien (beide Jahrgang 1961) das Ende ihrer Laufzeit sehen.
Um der Gefahr entgegenzuwirken, dass in Zeiten des Technetium-Mangels auf Ersatznuklide mit höherer Strahlenbelastung für Patienten und Personal zurückgegriffen wird, müssen also neue Produktionswege gefunden werden.
Dabei könnte eine viel vernünftigere Lösung sein, alternative Herstellungsmechanismen für Technetium-99m zu prüfen, die unabhängig von hoch-angereichertem Uran wären. Die Bestrahlung von Molybdän mit Protonen in einem Zyklotron wäre eine solche Lösung und hat bereits erste erfolgreiche Testläufe absolviert. Der Vorteil wäre ganz klar eine Unabhängig von Uran als Ausgangsmaterial und somit eine deutliche Senkung des Risikos und der Atommüllproblematik. Es gibt weitere Ansätze, wie die Verwendung von Teilchenbeschleunigern, um Molybdän-99 aus dem relativ inaktiven Uran-238 zu gewinnen. Auch ein Ersatz von Technetium-99m-Szintigraphie durch PET-Untersuchungen mit anderen, nicht uran-abhängigen Radioisotopen wäre langfristig vermutlich eine praktikable Lösung.
Förderprogramme zur Anregung von Forschung und Entwicklung in Verbindung mit der Schaffung geeigneter gesetzlicher Bedingungen für die uran-unabhängige Herstellung von Radiosotopen wären wichtige Schritte mit der die Politik die Versorgungssicherheit nach dem weltweiten Ausstieg aus der Atomenergie sicherstellen könnte.
Dr. med. Alex Rosen
Literatur:
zurück