Katastrophenschutz

Super-GAU und Jodblockade - Jod ist nicht für alle da

05.04.2002 Eine "Strahlenschutztablette" gibt es nicht. Jodtabletten sind kein Allheilmittel gegen einen Atomunfall und die Vielzahl der dann auftretenden schweren Erkrankungen. Mit ihnen kann aber immerhin das hohe Risiko, an Schilddrüsenkrebs zu erkranken, deutlich reduziert werden. An der bundesweiten Versorgung der Haushalte mit hochdosierten Jodtabletten führt daher kein Weg vorbei.

Die Terrorangriffe vom 11. September 01 haben erneut aufgezeigt, welcher Bedrohung die Staaten (und angrenzende Regionen) ausgesetzt sind, die die "zivilitärische" Atomenergie nutzen und damit "Atombomben im eigenen Land" haben.

Ein weiterer Super-GAU nach Tschernobyl, sei es wegen technischen oder menschlichen Versagens oder verursacht durch terroristische Anschläge, ist nur eine Frage der Zeit.

Das Bundesumweltministerium (BMU) stellt in einer Studie vom 12.8.1999 fest: "Ein kerntechnischer Unfall mit erheblichen radioaktiven Freisetzungen in Deutschland wäre in einem Zeitraum von 50 Jahren ... mit einer Sicherheit von ca. 1% zu erwarten" (unter Zugrundelegung einer Eintrittswahrscheinlichkeit von etwa 1: 100.000 pro Jahr und Anlage).

Dennoch hat die rot-grüne Bundesregierung am 14.12.01 die Atomgesetznovelle in Form eines "Atom-Bestandschutzgesetzes" durchgebracht zur weiteren Nutzung der AKW bis zu ihrem technischen und wirtschaftlichen Ende in etwa 20 Jahren.

Das Risiko eines Super-GAUs wurde in der Gesetzesbegründung als "sozialadäquat" und als von der Bevölkerung hinzunehmen eingestuft.

Für den Fall eines größeren AKW-Unfalles mit Radioaktivitätsaustritt hat das BMU am 30.3.1998 eine neue Empfehlung der Strahlenschutzkommission (SSK) von 12/97 bekannt gemacht und ein Merkblatt für Ärzte zur Verwendung von Jodtabletten zur Jodblockade der Schilddrüse bei einem kerntechnischen Unfall herausgegeben.

Die Konferenz der Innenminister der Länder und des Bundes hat 6/99 die Neufassung der Rahmenempfehlungen für den Katastrophenschutz in der Umgebung kerntechnischer Anlagen verabschiedet.

Eine "Strahlenschutztablette" gibt es nicht

Natürlich wissen wir als Ärzte alle, dass es einen ausreichend wirksamen Katastrophenschutz für den Fall eines großen kerntechnischen Unfalls nicht geben kann, - dass es eine Strahlenschutztablette nicht gibt.

Aber es muss alles getan werden, um die zu erwartenden Strahlenschäden wenigstens zu verringern.

Für die Bevölkerung bedeutsam sind vor allem die mit Verzögerung auftretenden Strahlenspätschäden wie Schilddrüsenerkrankungen, Krebs, Leukämie sowie die Schädigung des Erbgutes.

Die Tschernobyl-Katastrophe hat gezeigt, daß bis zu mehr als 400km Entfernung vom Unfallreaktor noch sehr hohe Radiojodbelastungen der Schilddrüse auftraten mit der Folge großer Zahlen von Schilddrüsenkrebs und chronischen Schilddrüsenentzündungen, sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen aller Altersstufen.

Besonders die riesigen Zahlen strahleninduzierter autoimmuner Schilddrüsenentzündungen, die das spätere Auftreten von Schilddrüsenkrebs begünstigen, verursachen hohe Behandlungskosten mit Überforderung des Gesundheitsetats der betroffenen Staaten (Weißrußland, Ukraine, Russland). Über 10.000 Menschen sind allein in Weißrußland seit 1986 an Schilddrüsenkrebs erkrankt, sechs mal so viel wie normal.

Die Jodblockade

Die Schilddrüse filtert aus dem Blut alle Arten von angebotenem Jod heraus. Die Aufnahme des radioaktiven Jods aus der Wolke erfolgt vorwiegend über die Atemluft und über kontaminierte Nahrungsmittel (Milch!). Sie kann um den Faktor 90 vermindert werden durch rechtzeitige hochdosierte Einnahme von normalem stabilen Jod. Man nennt dies Jodblockade. Die Jodtablette (0,13 g für Jugendliche und Erwachsene) ist rechtzeitig vor Eintreffen der Wolke einzunehmen und möglichst nicht später als bis zu 2 Stunden danach.

Mögliche Risikopatienten für eine hochdosierte Jodeinnahme, z.B. Patienten mit Schilddrüsenautonomien (Gefahr der jodinduzierten Hyperthyreose) lassen sich herausfiltern durch eine jährliche TSH-Bestimmung (Kostenübernahme anzustreben durch die AKW-Betreiber). Für diese Patienten käme die nicht so effektive Blockade der Schilddrüse mit Perchlorat in Frage.

Für die Zukunft ist die Vorhaltung von Jodtabletten (0,13 g) vorgesehen innerhalb eines 25-km-Umkreises um das AKW nur für Bürger bis zum 45. Lebensjahr und im 25 bis 100-km-Umkreis nur für Kinder bis zu 12 Jahren und für Schwangere. In Anbetracht der bekannten Folgen der Tschernobyl-Katastrophe gibt es für diese Begrenzung aus medizinischer Sicht keine stichhaltige Begründung (außer die der Kostenersparnis für die AKW-Betreiber). Warum soll z.B. ein 14-jähriges Kind in 30 km Entfernung nicht geschützt werden? Warum soll z.B. ein 46-jähriger Familienvater kein Anrecht auf Schutz haben?

Wie ist die tatsächliche Situation zur Zeit?

16 Jahre nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl gibt es in Deutschland hochdosierte Jodtabletten nach wie vor nur in einem 10 km- bis höchsten 25 km- Umkreis um ein AKW, gelagert bei Ämtern, Bürgermeistern usw.

Mehr als 4 Jahre nach dem Beschluss der Innenminister der deutschen Bundesländer (Nov. 1997), hochdosierte Jodtabletten (0,13 g) an alle Haushalte vorverteilen zu lassen im AKW-Umkreis von mindestens 5 km, ist dies noch nirgendwo in der BRD geschehen. In der Schweiz, Österreich, Frankreich und Belgien ist die Vorverteilung von Jodtabletten schon lange der Fall.

Zuständig in Deutschland für die Jodtabletten außerhalb der 25 km-Zone um Atomkraftwerke ist nach dem Strahlenschutzvorsorgegesetz das Bundesumweltministerium.

Für eine Verteilung von Jodtabletten im Katastrophenfall müssten Helfer im Katastrophenschutz und andere Personen herangezogen werden.

Das Arzneimittelgesetz (AMG) erlaubte aber nur Ärzten und Apothekern die Abgabe. Deshalb wurde es noch von der letzten Kohl-Regierung geändert, kann aber bisher nicht angewandt werden, weil es das Gesundheitsministerium der jetzigen Regierung bis heute nicht geschafft hat, die noch ausstehende erforderliche Rechtsverordnung nach § 71 AMG zu erlassen.

Wer trägt die Kosten?

Außerdem steht die Kostenfrage für die Jodtabletten weiterhin ungeklärt im Raum.Die Innenministerkonferenz (21.11.97) und auch der Bundesrat (19.10.2001) haben gefordert, dass die Kosten für die Bereitstellung von Jodtabletten vom Verursacher, den Betreibern der kerntechnischen Anlagen, zu tragen sind.

Die Bundesregierung war nicht bereit, dies im Zusammenhang mit der Atomgesetznovelle von 12/01 zu erzwingen.

So ist weiterhin noch nicht einmal die vorgesehene zentrale Bevorratung von Jodtabletten (0,13 g) für außerhalb des 25-km-Umkreises erfolgt, vorgesehen an 3 Standorten in der Bundesrepublik: Wunstorf/Hannover, Regensburg und Leopoldshafen/Karlsruhe.

Die Verteilung der Tabletten soll im Bedarfsfall über Hubschrauber erfolgen. Die Menschen, die im Katastrophenfall nach Eintreffen der Wolke ihre Häuser eigentlich nicht verlassen sollen, müssen sich dann zu den Ausgabestellen der Tabletten begeben und werden dabei ungeschützt kontaminiert.

Eine rechtzeitige Evakuierung ist faktisch nicht möglich. Evakuierungen sind auch nur vorgeplant bis 25 km Entfernung.

Da die radioaktive Wolke nicht an der 25 km-Grenze Halt macht, ist eine flächendeckenden Vorverteilung von Jodtabletten (0,13 g) an alle Haushalte der Bundesrepublik zu fordern. Die Haltbarkeit der Jodtabletten beträgt 4 Jahre, – ab jetzt rezeptfrei erhältlich.

Ein inzwischen propagierter eigenverantwortlicher Kauf der Tabletten (Zitat Pharma Firma Henning: "als Ergänzung zur öffentlichen Vorsorge") zum Preis von 30 Euro pro Zehnerpackung kann doch wohl nicht die Lösung sein!
Die Ärzte und Ärztinnen der IPPNW betonen nach wie vor, dass der einzige Schutz gegen die Folgen einer Atomkatastrophe in einem deutschen AKW nur das umgehende Abschalten der Atommeiler ist und dass die Möglichkeit eines Super-GAU auch nicht für einen begrenzten Zeitraum als gesellschaftlich angemessenes "sozialadäquates" Risiko hingenommen werden darf.

Von Rainer Stephan

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