12.07.2018 Ein relevanter Schädigungsmechanismus des Genoms durch ionisierende Strahlung ist die Verursachung numerischer (Aneuploidie) und struktureller Chromosomen-Aberrationen. Als Pathomechanismus kommen Schädigungen der Spindelfasern und anderer Zellorganellen in Frage, welche an der geordneten Verteilung der Chromosomen auf die Tochterzellen in Mitose und Meiose beteiligt sind. Neuere Untersuchungen an verschiedensten menschlichen Zellen in Kultur belegen die Wirksamkeit dieses Pathomechanismus auch bei niedrigen Strahlendosen bis 10 mSv.
Die Dosis-Wirkungsbeziehung ist linear und geht durch den Nullpunkt, ist also stochastisch. Mit der Strahlendosis steigt daher die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von chromosomal verursachten Krankheiten, nicht deren Schwere. Betrifft der Chromosomenschaden die Gameten oder die Zygote, können Aborte, Totgeburten, isolierte Fehlbildungen und diverse Fehlbildungssyndrome resultieren. Betrifft er somatische Zellen, können Lymphome, Leukämien und solide Tumoren die Folge sein. Alle 68.487 in der „Mitelman-database of Chromosome Aberrations and Gene Fusions in Cancer“ des NIH gelisteten malignen Tumoren weisen Chromosomenaberrationen auf.
Das Risiko des Auftretens chromosomal bedingter Erkrankungen steigt mit der Zellteilungsrate. Daher ist es bei Neugeborenen, Säuglingen und Kleinkindern besonders hoch. Alzen und Benz-Boon (2011) haben ein etwa siebenfach höheres Risiko für das Auftreten Strahlenverursachter maligner Tumoren für Säuglinge gegenüber Erwachsenen belegt. Embryonen und Feten haben eine mindestens zehnfach höhere Strahlensensibilität. Nach Niederschlag aus radioaktiver Wolken ist in den betroffenen Populationen vielfach ein signifikanter Anstieg von Totgeburten und Fehlbildungssyndromen beobachtet worden.
Hieraus ergibt sich die ethische Forderung, Schwangeren, Neugeborenen, Säuglingen und Kleinkindern im Fall des drohenden Durchzuges radioaktiver Wolken nach AKW-Havarien einen besonderen Schutz vor radioaktiver Strahlung zu gewähren. In der bisherigen Version der Strahlenschutzverordung gibt es lediglich die Schwelle von 100mSv für eine Evakuierung der bedrohten Bevölkerung, ohne die oben aufgeführten, besonders strahlenempfindliche Gruppen gesondert zu berücksichtigen. Entsprechend wird eine Strahlendosis, die etwa 10 CT-Untersuchungen des Thorax (6-10 mSv pro Untersuchung) entspricht, in der Schwangerschaft als harmlos bewertet!
Die deutsche Sektion der IPPNW hat daher die Aufforderung des Bundesumweltministerium an diverse Verbände, zur geplanten Novellierung der Strahlenschutzverordnung Stellung zu beziehen, genutzt, um die Einfügung des folgenden Satzes in die Novelle der „Verordnung zur Festlegung von Dosiswerten für frühe Notfall-Schutzmaßnahmen“, § 4, „Evakuierung“ zu fordern:
„Für Schwangere, Säuglinge und Kleinkinder bis zu sechs Jahren gilt eine Schwelle von 10 mSv innerhalb von sieben Tagen“.
Bisher liegt nur die Zusage des Ministeriums vor, diesen Antrag in ihre „Überlegungen einzubeziehen“. Es bleibt abzuwarten, ob sich die medizinischen Argumente, die im Ulmer Papier der IPPNW zusammengefasst wurden, im Katastrophenschutz durchsetzen werden.
Prof. Dr. Alfred Böcking
Dr. Wilfried Duisberg
Dr. Odette Klepper
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