Lingen und Gronau

Deutschland beliefert belgische und französische Pannenreaktoren

Nirgendwo ist der Zusammenhang zwischen dem deutschen und dem europäischen Atomausstieg so deutlich wie an den Atomstandorten Lingen und Gronau. Die Brennelementefabrik in Lingen gehört einer Tochterfirma des französischen Konzerns Areva und hat genau wie die Urananreicherungsanlage von Urenco in Gronau eine zeitlich unbefristete Betriebserlaubnis – trotz deutschem Atomausstieg. Beide Betriebe exportieren ihr gefährliches Gut in alle Welt.

Erst kürzlich wurde öffentlich, dass das Bundesumweltministerium im vergangenen Jahr die Lieferung von insgesamt 68 Brennelementen an den maroden Reaktor Tihange 2 genehmigt hatte. Die Nachricht schaffte es bis in die Tagesschau. In Deutschland reagierten die Bürger zutiefst empört. Die Grenzstadt Aachen liegt nur etwa 60 Kilometer von dem umstrittenen Atomkraftwerk entfernt. Wegen der hohen Gefahr eines Super-GAU hatte die Städteregion Aachen Anfang 2016 vor dem höchsten belgischen Verwaltungsgericht Klage gegen den Beschluss der belgischen Atomaufsichtsbehörde erhoben, den Reaktorbetrieb von Tihange wieder aufzunehmen.

Da neben Tihange auch das umstrittene belgische AKW in Doel beliefert wird, ist Deutschland mittlerweile zum Hauptbrennstofflieferanten der belgischen Atomindustrie geworden. Brennelemente aus Lingen werden zudem in die französischen Pannenreaktoren in Cattenom und Fessenheim geliefert.

Selbst Bundesumweltministerin Barbara Hendricks hatte Belgien und Frankreich auf großen öffentlichen Druck hin schon 2016 aufgefordert, die Reaktoren wegen der erheblichen Sicherheitsdefizite zu abzuschalten. Auch die Umweltminister von NRW und Niedersachsen schlossen sich dieser Forderung an – ein Erfolg, der auf die beharrliche und gut vernetzte Zusammenarbeit der Initiativen in Niedersachsen und NRW zurückzuführen ist.

Doch guter Wille allein reicht offenbar nicht. Denn gleichzeitig wurden die Pannenreaktoren von Deutschland aus mit Brennstoff versorgt – ein Widerspruch, der der Bundesumweltministerin jetzt auf die Füße fällt. Diese argumentiert, dass ihr und ihrem Ministerium bei Brennelementexporten innerhalb Europas rechtlich die Hände gebunden seien.

Die IPPNW hatte 2016 bei der Umweltanwältin Dr. Cornelia Ziehm ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, das zu dem Schluss kam, dass ein Exportstopp der Brennelemente nach dem Atomgesetz rechtlich möglich und geboten ist. Barbara Hendricks hatte daraufhin erklärt, dass die Sicherheit einer Atomanlage im Ausland für die Exportprüfungen nicht maßgeblich sei. Jedoch konnte der damalige Bundesumweltminister Norbert Röttgen 2010 die Lieferung von abgebrannten Brennelementen aus Rossendorf nach Russland unterbinden.

Das Gutachten von Frau Dr. Ziehm bestärkt nun die Position der Anti-Atom-Bewegung. Durch eine Beendigung des Brennelementexports aus Lingen an die belgischen und französischen Risikoreaktoren könnte die Bundesregierung den politischen Druck auf die Nachbarländer zur Abschaltung der AKW deutlich erhöhen.

Ein weiteres Argument der Behörden waren jahrelang die vermeintlich hohen Summen an möglichen Schadenersatzansprüchen für die Stilllegung von Gronau und Lingen. Interessant ist dabei, dass die Betreiberfirma Urenco 2016 einen Verlust von 456 Millionen Euro eingefahren hat. Schuld seien laut Urenco außerplanmäßige Abschreibungen, bzw. Wertberichtigungen in den USA, der Preisdruck auf dem Uran-Weltmarkt und weltweite Überkapazitäten von angereichertem Uran. Im Geschäftsbericht 2016 kündigte der Konzern ein Einsparprogramm von 300 Millionen Euro bis 2019 an. Areva, der Betreiber der Brennelementefabrik in Lingen, der schon vor Jahren Konkurs angemeldet hatte, musste vom französischen Steuerzahler gerettet werden und wird vermutlich bald aufgespalten. Nun dreht auch Urenco ins Minus – es wird immer deutlicher, dass die Zeit der Atomindustrie vorbei ist.

Die IPPNW bleibt weiter am Thema. Die internationale Demonstration in Lingen im Oktober 2016 war mit 700 TeilnehmerInnen aus Deutschland, den Niederlanden, Belgien und Frankreich ein Großereignis. Seit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl hatten die Menschen in Lingen keine so massive Anti-Atom-Demonstration mehr erlebt. Für eine Stadt, in der viele Menschen bei RWE, dem AKW Emsland oder der Brennelementefabrik von Areva angestellt sind, war die Demonstration ein großer Schritt. Für die IPPNW sprach Jürgen Bretschneider auf der Hauptkundgebung. Die nächsten großen Aktionen sind der Ostermarsch vor der Urananlage in Gronau und die grenzübergreifende Menschenkette zwischen Aachen, Maastricht, Liege und Tihange am 25.06.2017.


Jürgen Bretschneider, Dr. Angelika Claußen und Dr. Alex Rosen

 

 

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