Die Atomwirtschaft und die Spielregeln der Globalisierung

Analyse

Die Kennzeichen der Globalisierung sind kontrollierter "Freihandel", vermehrte Fusionen, Akquisitionen und Privatisierungen, die Verlagerung von "schmutziger Produktion", Kostensenkungen, Innovationen und Patente, höhere Renditen, steigende Konsumentenpreise, staatliche Subventionen für Großunternehmen, Entdemokratisierung. Das Repertoire der "schönen neuen Welt" hat auch in der Energie- und Atomwirtschaft für die Allgemeinheit sehr gefährliche und kostspielige Folgen.

Abbau von Handelsbeschränkungen


Das sicherlich hervorstechendste Merkmal der (neuen) Globalisierung ist der so genannte "Freihandel". Wenn es darum geht, in Zukunft in und zwischen den "Marktwirtschaften" mehr "freien Handel" zu betreiben, dann sollte man zunächst einmal sehr aufmerksam zur Kenntnis nehmen, dass es trotz "Marktwirtschaft" offenbar bislang nur begrenzt "freien Handel" gibt. Die Volkswirtschaften schützen sich vielmehr durch die vielfach kritisierten "protektionistischen Maßnahmen" und manche Leute meinen, dass diese relative "Abschottung" von Volkswirtschaften oder "Binnenmärkten" auch gut ist und dass es grundsätzlich mit der Weltwirtschaft anders auch gar nicht funktionieren könnte. Porsche-Chef Wendelin Wiedeking zum Beispiel warnt vor ruinösem Lohndumping und noch mehr Arbeitslosigkeit, falls mit der EU-Dienstleistungsrichtlinie gewissermaßen der freie Arbeitskräfteverkehr – eine Art "Freihandel" von Arbeitskräften Einzug hält.

Auch die früheren Kapitäne auf den Kommandobrücken der Atom-Stromkonzerne waren alles andere als Gläubige des Freihandels. Sie waren ihre Gebietsmonopole gewohnt, mit Konkurrenz und Wettbewerb hatten sie fast nichts zu tun und so fuhren sie jahrzehntelang sehr bequem entsprechend hohe Monopolgewinne ein. Doch dann begann vor Jahren das Zeitalter der neuen Globalisierung und so begann unter den führenden Managern der Republik eine harte Auseinandersetzung um eine mögliche Liberalisierung der Strom- und Gasmärkte. US-amerikanische Pensionsfonds meldeten sich auf den RWE-Hauptversammlungen lautstark zu Wort und auf deutscher Seite drängte zum Beispiel das Management des Chemieriesen BASF auf eine Liberalisierung des deutschen Strommarktes. Die BASF in Ludwigshafen ist Deutschlands größter Stromverbraucher.

Das Interesse der BASF war banal: Der französische Atomkonzern EdF – einer der am höchsten verschuldeten Konzerne der Welt – bot dem deutschen Chemieriesen Atomstrom zu extremen Dumpingpreisen an. Obwohl die BASF ihren Strom schon zu niedrigsten Preisen – d.h. weit unter den Erzeugungskosten – vom Stromriesen RWE bezog, lockte mit dem hoch-subventionierten Atomstrom aus Frankreich ein noch attraktiveres Dumping-Angebot. Doch es gab im Stromsektor keinen "Freihandel" und so konnte die BASF das Angebot der EdF nicht einfach annehmen. In dieser Situation kam die steuernde Hand der mächtigen Deutschen Bank zum Tragen, die traditionell sowohl die Geschicke bei RWE als auch bei der BASF mitbestimmt. Der langjährige starke Mann der Großbank, F. Wilhelm Christians, Aufsichtsratsvorsitzender bei RWE, arrangierte einen Deal: die EdF liefert ihren überschüssigen Atomstrom an RWE und der deutsche Stromriese verkauft den Strom weiter an die BASF. Ein klassischer und für die beteiligten Akteure hochprofitabler Interessenausgleich unter Großkonzernen.

Dieser Deal dürfte u.a. Pate gestanden haben für den so genannten "verhandelten Netzzugang" – den Beginn der schrittweisen Strommarktliberalisierung in Deutschland und in Europa. Der "Atomstromdeal" macht deutlich: Es geht bei der Globalisierung nicht darum, einfach "freien Handel" zu treiben. Es geht vielmehr darum, dass die starken und einflussreichen "Global Player" wohl kontrolliert bestimmte Märkte öffnen, um selbst vermehrt auch Zugang zu anderen Märkten zu bekommen.

Fusionen, Akquisitionen und Privatisierungen

 

Ein weiteres wesentliches Merkmal der Globalisierung ist der globale Handel mit Unternehmen: Das ist so zu sagen der weltweite "Freihandel" mit Konzernteilen, Unternehmenssparten, Tochtergesellschaften und ähnlichem. Dazu gehört auch die Privatisierung öffentlichen Vermögens, wobei meist die von unseren Vorfahren geschaffenen Vermögenswerte ("Erbschaften") oftmals im Bereich der kommunalen Daseinsvorsorge und Infrastruktur von Politikern weit unter Wert an die Konzerne verkauft werden. Die Konzerne gehen auf Shopping-Tour.

Beispielsweise kaufen die großen Energiekonzerne systematisch Stadtwerke auf und konterkarieren so eine wünschenswerte Dezentralisierung der Energiewirtschaft. Was die Hersteller betrifft: Siemens hat sein Atomgeschäft vor Jahren mit der französischen Framatome fusioniert und so den weltweit führenden Anbieter von Atomkraftwerkstechnik gebildet. Was die Betreiber betrifft: Im Laufe der 1990er Jahre hatten sich nicht zuletzt auf Druck der Banken die "Liberalisierer" in der deutschen Stromwirtschaft gegen die "Gebietsmonopolisten" durchgesetzt. Dadurch verlor die so genannte "Deutschland AG" zwar den Hamburger Atomkonzern HEW sowie die Bewag, die Veag und die Laubag an den schwedischen Konzern Vattenfall. Zugleich aber ging die deutsche Strom- und Gaswirtschaft in ganz Europa auf Shopping-Tour und beteiligte sich an zahllosen Unternehmen im Ausland.

Hierbei teilten sich die – vermeintlich in hartem Wettbewerb stehenden deutschen Energiekonzerne – die verschiedenen Regionen Europas zum Teil geschwisterlich auf. Auch im ehemaligen Jugoslawien bereiten die Stromkonzerne mit Unterstützung der deutschen Politik seit dem NATO-Krieg die Übernahme der dortigen Energiewirtschaft vor. Schon während des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges wurde laut "German-Foreign-Policy" im Auswärtigen Amt der "Stabilitätspakt für Südosteuropa" entworfen. Darin hat das deutsche Ministerium "ausbaufähige Absatzmärkte, Investitionsstandorte" und "Anreize für internationale Unternehmenskooperation" auf dem Balkan gefordert.

Erst durch die – zum Teil mit militärischen Mitteln vorangetriebene – Globalisierung eröffnen sich weltweit Möglichkeiten, auf typisch staatliche Unternehmen wie etwa die der Energiewirtschaft im Rahmen von Privatisierungsprogrammen zugreifen zu können.

Verlagerung von "schmutziger Produktion"

 

Die globalisierte Wirtschaft bietet weiterhin die Möglichkeit, Produktionsweisen, die die Vorstellungen der deutschen bzw. westeuropäischen Bevölkerung irritieren könnten, ins Ausland zu verlagern. Eines der klassischen Beispiele dafür ist die Produktion von Kleidung für den europäischen Markt in Asien unter Bedingungen, die selbst so manchen Sklavenhalter der vergangenen Jahrhunderte hätte erschrecken können.

Eine ähnliche Strategie verfolgt die Atomwirtschaft seit den 1990er Jahren: Man errichtet die Atomkraftwerke in Regionen Europas, wo die Bevölkerung so arm und wenig informiert ist, dass sie sich vermutlich nicht dagegen wehrt. So wurde beispielsweise das Atomkraftwerk Mochovce in der Slowakei durch Siemens und andere fertig gebaut. Zur Refinanzierung der Kredite fließt vermutlich längst Atomstrom gen Westen. Auch wurden Pläne verfolgt, am westrussischen Standort Smolensk ein neues Atomkraftwerk zu errichten, und den Atomstrom über Warschau nach Berlin und Kassel zu leiten.

Kostensenkungen

 

Eines der zentralen Mittel zum Erzielen schnellerer und höherer Renditen ist der Abbau von Kosten. Hierbei steht wiederum der Abbau von Arbeitsplätzen im Zentrum. Der Verlust sozialversicherungspflichtiger Dauerarbeitsplätze in Deutschland seit 1990 dürfte in die Millionen gehen. Und bei denjenigen, die (noch) einen "Job" haben, heißt es: mehr aus den Leuten 'rauspressen. Das wiederum bedeutet: längere Tages-, Wochen-, Jahres- und Lebensarbeitszeiten und entsprechend weniger Urlaub, weniger Krankheitstage, weniger Freizeit, weniger Freiheit. Bei den Arbeitsplätzen stagnieren oder sinken die Reallöhne und für diejenigen, die sich als Ich-AGs durchs Leben schlagen dürfen, fallen häufig noch weniger "Brosamen" ab. Wir erleben neuerdings sogar eine gesellschaftliche Debatte über die Begünstigung von Suiziden bei Pflegebedürftigkeit oder Krankheit im Alter. Das heißt: Menschen sollen der Wirtschaft als möglichst billige und effiziente junge Arbeitskräfte und Konsumenten zur Verfügung stehen, sich aber freiwillig selbst eliminieren, sobald sie bei Krankheit oder Pflegebedürftigkeit Kosten für die Gesellschaft verursachen würden.

Das alles hat auch mit der Energie- und Atomwirtschaft zu tun. In der traditionellen Energiewirtschaft wurden in den vergangenen Jahren zehntausende von Arbeitsplätzen abgebaut, um Kosten zu sparen (lediglich bei den Erneuerbaren Energien kam es zu einem deutlichen Zuwachs von Arbeitsplätzen).

Mehr noch: Von Insidern ist übereinstimmend zu hören, beim Atomkonzern RWE übe die Konzernführung einen massiven Druck auf die Verantwortlichen im Kraftwerk aus: Einerseits sollen diese garantieren, dass nichts passiert, zum anderen aber sollen teure Anlagenstillstände vermieden werden. Das bedeute für die Verantwortlichen eine permanente Stresssituation und die Notwendigkeit, einen gefährlichen Spagat zwischen gerade noch notwendigen Sicherheitsvorkehrungen und Kostensparen zu finden. Ziel sei, Anlagenstillstände für sicherheitstechnische Wartungsarbeiten aus Kostengründen möglichst knapp zu halten. Wartungsarbeiten sollten so schnell wie möglich erledigt werden, um möglichst schnell wieder eine Anfahrgenehmigung zu erhalten.

Seit den 1990er Jahren gab es in der Atomwirtschaft Bestrebungen, allein aus Kostengründen die jährlichen Revisionszeiten massiv zu verkürzen, bei denen in den Anlagen sicherheitstechnisch wichtige Komponenten überprüft, repariert und Nachrüstungen durchgeführt werden. Hilfsarbeiter müssen in den Strahlenbereichen von Atomkraftwerken in 10-Stunden-Schichten Reinigungs- und Wartungsarbeiten durchführen und sind sogar an der Reparatur zentraler Sicherheitssysteme beteiligt.

Außerdem wurde aus Kostengründen offenbar die so genannte "Ausfallmethode" eingeführt, bei der Sicherheitskomponenten in den Atomkraftwerken nicht mehr frühzeitig vorsorglich ausgetauscht werden, sondern "bis kurz vor die Abnutzungsgrenze" genutzt werden. Siemens pries vor Jahren, der Einbau der neuen Sicherheitsleittechnik sei in einem Atomkraftwerk "in Rekordzeit" erfolgt – der Preis für den enormen Stress war, dass das System einige Zeit später versagte und ein zentrales Sicherheitssystem nicht zur Verfügung stand.

Innovationen und Patente

 

Ein weiteres Kennzeichen der Globalisierung ist es, in immer schnelleren Zyklen neue "innovative" Produkte auf den Markt zu werfen. Das globale kapitalistische System gerät aus den Fugen, wenn es nicht ständig weiter wächst. Das liegt daran, dass die "Global Player" für ihr Geld eine ordentliche Verzinsung oder Rendite sehen wollen und dieses "Mehr" natürlich irgendwoher kommen muss. Für Wachstum müssen aber ständig andere Unternehmen aufgekauft, neue Märkte erschlossen und obendrein neue und somit innovative "Produkte" in den Markt gedrückt werden.

Wenn man mal genauer hinsieht, dann geht es bei den "Innovationen" oft genug nicht um wirklich Neues, sondern zum Beispiel um neue Vermarktungsstrategien (neues Design, Verkauf übers Internet), um die rechtliche Aneignung von Leistungen anderer Menschen oder auch der Natur (z.B. Patente auf Saatgut, Patente auf bestimmte Gene von Nutztieren) oder um geringfügige Veränderungen an bestehenden Produkten.

Ein bemerkenswertes Phänomen sind beispielsweise die Innovationen bei den Verpackungen von Fruchtsäften. Eigentlich sollte man annehmen, dass eine moderne Industriegesellschaft mit geballter Forschungs- und Entwicklungsanstrengung mittlerweile herausgefunden haben sollte, welches der beste Ausguss bei diesen Getränkeverpackungen ist. Weit gefehlt: Alle paar Monate gibt’s ein neues Patent und die neuen Entwicklungen führen immer wieder dazu, dass man die Packung kaum aufbekommt oder sich der schöne Orangensaft nicht ins Glas, sondern auf der Tischdecke ergießt.

Auch im Bereich der Atomwirtschaft sind Innovationen nicht unbedingt ein Vorteil. Traditionell werden Atomkraftwerke durch eine fest verdrahtete, analoge Steuerungstechnik gefahren. Seit den 1990er Jahren führt nun Siemens/Framatome mit geballter Marktmacht ein neues, innovatives Produkt ein: die digitale Leittechnik Teleperm XP/XS. Das neue innovative Produkt führte dazu, dass am 10. Mai 2000 im Atomkraftwerk Neckarwestheim-1 mit den Steuerstäben das zentrale Sicherheitssystem ausgefallen war. Dennoch bleibt den Atomkraftwerksbetreibern nichts anderes übrig, als schrittweise auf diese innovative und unausgereifte Technik zurückzugreifen, weil für die alte Technik von Siemens offenbar zunehmend keine Ersatzteile mehr geliefert werden.

Ein anderes Beispiel: Siemens entwickelte ein neues innovatives Reinigungssystem für die Dampferzeuger. Der Wasserstrahl des neuen Reinigungssystems war aber so hart, dass die Rohre in den Dampferzeugern dünn wurden und es am 19. Dezember 1998 zu einem Leck kam. Dampferzeuger-Heizrohrlecks sind die gefährlichsten Ereignisse, die zum Super-GAU führen können.

Höhere Renditen, steigende Konsumentenpreise, staatliche Subventionen

Das Gewinnstreben ist grundsätzlich natürlich kein hervorstechendes Kriterium der (neuen) Globalisierung. Es gibt aber auch in der Energiewirtschaft eine klare Tendenz, in wesentlich kürzerer Zeit wesentlich höhere Renditen erzielen zu wollen. Die reine Orientierung am Profit ist ein völlig ungeeignetes Steuerungsinstrument für langfristige, strategische energiepolitische Entscheidungen im Interesse der Allgemeinheit. So wird beispielsweise heute nicht massiv in Photovoltaik und solare Nahwärmesysteme investiert, weil dies in Relation zum Ölpreis noch (!) zu teuer ist. Steigende Konsumentenpreise sind ein weiteres Merkmal der Globalisierung. Man kann dies derzeit beobachten an den steigenden Strom und Gaspreisen. Die Kehrseite sind explodierende Managergehälter und höchst lukrative Beraterverträge. Eine Umverteilung von unten nach oben.

Die Atomwirtschaft machte es schon immer vor, wie man professionell abkassiert. Beispiel Mülhheim-Kärlich: Obwohl das Atomkraftwerk nur ein paar Monate Strom produzierte, mussten die Banken ihre Kredite nicht abschreiben. RWE kassierte mit Billigung der staatlichen Preisaufsicht einfach einen höheren Strompreis ab und zahlte die Kredite ab. Beispiel Hanau: Obwohl Siemens in der einst neuen MOX-Fabrik niemals plutoniumhaltige Brennelemente produzierte, wurde auch hier über geschickte Verträge mit der Stromwirtschaft das Risiko letztlich auf die Stromkunden abgewälzt. Siemens kassierte reichlich, obwohl die Produkte nicht geliefert wurden.

Und bis zum heutigen Tag setzt die Atomwirtschaft auf staatliche Privilegien und Subventionen. Der Atomkraftwerksneubau in Finnland von Siemens/Framatome wird mit staatlichen Billigkrediten finanziert, Uran wird nicht besteuert, es fehlt eine risikoadäquate Haftpflichtversicherung gegen Unfallfolgen, die Atomrückstellungen bleiben steuerbefreit.

Entdemokratisierung

 

Ein weiteres Kennzeichen der Globalisierung ist die Entdemokratisierung. Zwar wäre es völlig unangemessen, die Vergangenheit zu verklären und in dieser eine lebendige Demokratie zu verorten. Einflussreiche Großkonzerne haben von Anfang an das politische Geschehen in der Bundesrepublik Deutschland mitbestimmt. Dennoch war das politische System in früheren Jahrzehnten stärker als heute.

Der so genannte "Atomkonsens" ist ein Musterbeispiel für das Konterkarieren eines klar artikulierten politischen Willens der Bevölkerung und der parlamentarischen Mehrheit. Spätestens seit der Atomkatastrophe in Tschernobyl gab es rund 17 Jahre lang eine breite Mehrheit in der Bevölkerung für eine zügige Stilllegung der deutschen Atomkraftwerke. Im Wahlkampf 1998 spielte das Thema Atomenergie eine wichtige Rolle. Mit SPD und Grünen bekamen die Parteien die Mehrheit im Parlament, die im Wahlkampf einen schnellen Ausstieg aus der Atomenergie zugesichert hatten. Auch die Wirtschaft war 1998 an dem SPD-Kanzler Gerhard Schröder interessiert, weil dieser "Reformen" zugunsten der Unternehmen zugesagt hatte. Der Atomwirtschaft hatte sich der kommende Kanzler in den Jahren zuvor längst empfohlen, indem er gemeinsam mit dieser einen möglichen "Atomkonsens" vorbereitet hatte.

Nach der Wahl zur rot-grünen Koalition wurde der zugesicherte Atomausstieg schrittweise demontiert. Schon in den Koalitionsgesprächen einigte man sich auf einen deutlich verzögerten Ausstieg – sowie auf einige punktuelle Entscheidungen zu Lasten der Atomwirtschaft. Außerdem entsandte der Atomkonzern E.On mit Werner Müller einen eigenen Manager als Wirtschaftsminister in die Bundesregierung. Als der neue Umweltminister dann die von allen vereinbarten Schritte umsetzen wollte, wurde er von der Atomwirtschaft, vom Kanzleramt, von seinem Ministerkollegen Müller und über verschiedene Abgeordnete und sonstige Minister monatelang massiv angegriffen. Selbst die eigenen Parteifreunde in Parlament und Regierung profilierten sich lieber in den Medien, als dem eigenen Minister zugunsten der gemeinsamen Politik Rückendeckung zu geben. Schließlich, als der Umweltminister kurz vor der Entlassung durch den Bundeskanzler stand, lenkte er ein. Er folgte von da an weitgehend geräuschlos den Richtlinien des Kanzleramtes und ließ in seinem Haus später die gesetzliche Umsetzung des Deals mit der Atomindustrie organisieren.

Da der Erwartungsdruck seitens der Öffentlichkeit gewaltig war, musste die Wahrnehmung der Öffentlichkeit und auch die einiger Abgeordneten noch zurechtgebogen werden. Die Atomwirtschaft zog daher einen weiteren Joker und schickte die Juristen ins Feld. Diese hatten Gutachten vorbereitet, in denen behauptet wurde, dass ein schneller Atomausstieg verfassungswidrig sei, weil es in unzulässiger Weise die Eigentumsrechte und die Berufsfreiheit der Atomindustrie beschneide. Die Botschaft wurde monatelang fast täglich über die Medien beständig wiederholt. Es war nichts anderes als eine kollektive Gehirnwäsche.

Die Argumente der Anti-Atom-Bewegung wurden von den Medien während dieser monatelangen harten Auseinandersetzung nicht aufgegriffen. Es herrschte praktisch eine Nachrichtensperre, die sicherlich vielfältige Ursachen hatte. Selbst dann, als von der IPPNW aufgedeckt wurde, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem "Kalkar-Urteil" längst darüber entschieden hatte, dass sich die Atomindustrie weder auf das Eigentumsrecht noch auf die Berufsfreiheit berufen konnten, war nicht eine Zeitung, nicht ein Radiosender und nicht eine Fernsehanstalt dazu bereit, darüber zu berichten. Nachdem die Medien den unhaltbaren Behauptungen der Atomindustrie und ihren Juristen fast jeden Tag Platz bzw. Sendezeit eingeräumt hatten, waren sie nicht dazu bereit, einen gut begründeten anderen Standpunkt öffentlich zu kommunizieren. Die offiziell so viel gelobte "Zivilgesellschaft" durfte an dieser öffentlichen Debatte nicht teilnehmen, denn es ging um sehr viel Geld und wirtschaftliche Macht und nicht nur um einen freundlichen Gedankenaustausch.

Schließlich kam es zum Deal mit der Atomwirtschaft: eine Vereinbarung zwischen Bundesregierung und den Atomkonzernen über den langjährigen Weiterbetrieb der deutschen Atomkraftwerke sowie die Möglichkeit, den Atommüll in einfachen Lagerhallen neben den Kraftwerken zu "entsorgen". Später sollte der Bundestag das Gesetz noch abnicken. Zahlreiche Abgeordnete murrten, dass sie keinerlei Änderungen an dem Gesetz mehr vornehmen durften. Der Gesetzgeber, der Souverän, durfte das von der Atomindustrie geschriebene Gesetz nur noch verabschieden. Wirtschaftsminister Müller kehrte später, nachdem er gegen das Votum des Kartellamtes noch eine Fusion zugunsten seines Konzerns genehmigen ließ, wieder zurück zu seinem vorherigen Arbeitgeber E.On.

Fazit

Beim Streit um die Atomenergieargumentiert die IPPNW mit dem Allgemeinwohl und dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. In der rauen Wirklichkeit zählen jedoch die Spielregeln der Globalisierung. Wie lange wollen wir diese noch tolerieren?

Von Henrik Paulitz

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Materialien

Titelfoto: Stephi Rosen
IPPNW-Forum 174: Der unvollendete Ausstieg: Wie geht es weiter für die Anti-Atom-Bewegung?
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Risiken und Nebenwirkungen der Atomenergie
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