Aus IPPNW-Forum 105-106/07

Die Pharmaindustrie und ihr Einfluss auf die Medizin

Desinformation und Manipulation

Mehr Desinformation als Information, so der einhellige Tenor namhafter Ärzte und Experten in der "Berliner Ärzte" (12/06), Zeitschrift der Berliner Ärztekammer, über die Informationspolitik der Pharmaindustrie. 40 % der Industriestudien sind manipuliert. In den USA wurden zwischen 2003-2005 9 Firmen zusammen mit $ 2.4 Mrd. wegen nachgewiesener Falschaussagen bestraft.

Beispiel Proactive Studie:
Die Studie behauptet, das Diabetesmittel Actos (Pioglitazone) schütze Diabetiker vor Tod, Herzinfarkt und Schlaganfall. Gegenüber Placebo ergaben sich jedoch keine Unterschiede. Manipulation ist die Ursache für die behaupteten Unterschiede. Nachträglich wurden die Daten selektiert mit angeblicher signifikanter Risikoreduktion. Ausgelassen wurden dabei die 3% Patienten mit schweren Nebenwirkungen.

Beispiel Mamma-Carcinom:
Von 46.000 Neuerkrankungen sind ca. 4.000 durch Hormonersatztherapie selbst verursacht, Ein Rundschreiben aus dem Berufsverband der Frauenärzte e.V. (BdF), dem ein mit "Ihre Frauenarztpraxis" gekennzeichneter "Patientinnenaufklärungsbogen" beigefügt war, der die gravierenden Nebenwirkungen der Hormonersatztherapie verharmloste bzw. verfälschte, erwies sich als von Schering verfasst und als von Prof. Teichmann vom BdF nur unterschrieben. Dafür habe er laut Fokus 42.000 DM erhalten.

Beispiel sog. atypische Neuroleptika :
Laut Müller-Oerlinghausen, langj. Vorsitzender der Arzneimittelkommission, hatten Meinungsführer in der Psychiatrie sie als Mittel der ersten Wahl propagiert, die man keinem schizophrenen Patienten vorenthalten dürften. Denn sie hätten nicht die schweren motorischen Nebenwirkungen wie zum Beispiel das herkömmliche Neuroleptikum Haloperidol. In Wahrheit hingegen seien sie den konventionellen Neuroleptika weder in der Wirksamkeit noch in der Verträglichkeit überlegen - nur im etwa zehnmal so hohen Preis. Vor allem die beiden Substanzen Risperidon (Risperdal) und Olanzapin (Zyprexa) seien "Musterbeispiele dafür, wie durch Unterdrückung frühzeitig vorhandener wissenschaftlicher Daten ein unzutreffendes verherrlichendes Bild gezaubert wurde".

Massive Beeinflussung

Der Einfluss der Pharmaindustrie auf Ärzte, Forschung, Fachzeitschriften, Behandlungsleitlinien, Patientenorganisationen, die Politik und Regulierungsbehörden ist so weit fortgeschritten, dass Transparency International (TI) von einer "strukturellen Korruption", spricht, die zwar gemeinschaftsschädlich, aber gesetzeskonform sei.

Wie ist das zu erklären?

Ca. 35 - 40% der Kosten der Pharmaindustrie gehen ins Marketing, nur ca. 10-15% in die Forschung und Entwicklung. Bei 10 (-15) % der neu in den Markt eingeführten Wirkstoffe handelt es sich um Neuerungen mit einem nennenswerten Zusatznutzen. Die überwiegende Zahl der neuen Medikamente besteht aus sog. Scheininnovationen, ohne jeglichen oder allenfalls geringen Zusatznutzen. Daher werden sie mit einem enormen Werbeaufwand vermarktet, da niemand sie wirklich braucht. Durch die Patentierung verfügt das Pharmaunternehmen über ein Monopol und kann den Preis 20 J. lang frei bestimmen. Sog. Nachahmerpräparate, d.h. patentgeschützte Arzneimittel, die nur eine geringfügige Moleküländerung eines bekannten Wirkstoffes darstellen, werden nur deshalb auf den Markt gebracht, weil sie höhere Preise erzielen als Medikamente, deren Patentschutz bereits abgelaufen ist, oder um an dem profitablen Markt des Orginalpräparates Teil zu haben. Die Behauptung, Patente förderten effiziente und innovative Forschung ist daher ein Mythos. Sie sind heute kaum mehr eine Belohnung für Erfindungen und Menschheitsfortschritt, sondern "ein strategisches Instrument zur Sicherung ökonomischer Vorherrschaft". Die Pharmaindustrie, die zu den profitabelsten Industriebranchen mit einer Eigenkapitalrendite von 18-19 % nach Steuern zählt (andere Industriezweige 3-7 %), erweist sich daher im Hinblick auf die Entwicklung für die Gesundheit wirklich relevanter innovativer und preiswerter Medikamente als äußerst ineffizient. Durch die hohen Medikamentenpreise mit jährlich hohen Steigerungsraten werden systematisch die Gesundheitssysteme ausgehöhlt.

Möglich ist das Ganze nur dadurch, dass 20.000 Pharmareferenten rund 20 Millionen Mal pro Jahr im Auftrag ihrer Firmen bei Ärztinnen und Ärzten vorsprechen und die Pharmaunternehmen sich diesen "Service" 2.5 Milliarden Euro kosten lassen: 8-13.000 Euro für jeden einzelnen Doktor, allein für Marketing. Kaum ein Kongress oder medizinische Fortbildung, die nicht von der Pharmaindustrie gesponsert wird, einschließlich horrender Honorare für "freundliche" Referenten und üppiger Buffets für die Teilnehmer.
Wo sonst ist es üblich, dass einer der bestverdienenden Berufe sich seine Fortbildung von Dritten zu Lasten der Beitragszahler finanzieren lässt?

Fast alle medizinischen Zeitschriften interessengesteuert

Der Einfluss auf die medizinischen Fachverbände und Fachzeitschriften ist enorm und nahezu alle medizinischen "Experten" stehen in irgendeiner Abhängigkeit zur Industrie, von der sie finanziell profitieren. Ein großer Teil der wissenschaftlichen Zeitschriften ist von der Pharmaindustrie abhängig und beeinflusst, ohne dass dies für den Leser erkennbar ist. Die Kontakte zwischen Unternehmen und Forschern sind inzwischen so beherrschend, dass das New England Journal of Medicine auf seine Forderung verzichten musste, dass Autoren, die klinische Studien beurteilen , keine finanziellen Verbindungen zu den Firmen aufweisen dürfen, deren Medikamente bewertet werden. Die Zeitschrift fand einfach nicht mehr genug unabhängige Experten und musste deren finanzielle Abhängigkeit auf bis $ 10.000/Jahr begrenzen (8). Über die Hälfte aller Editorials und Übersichten selbst in renommierten Fachzeitschriften werden  in wesentlichen Teilen durch professionelle Schreiber aus der Industrie vorbereitet.

Auch Fakultäten und Fachgesellschaften stehen in einer intransparenten Abhängigkeit von der Industrie. Viel zu wenig beachtet wird der Einfluss der Industrie auf die Formulierung von Behandlungsleitlinien. Zwischen den Äußerungen der Fachgesellschaften und solchen der Industrie sei oft kaum zu unterscheiden sei.
Die vielfältigen Verflechtungen zwischen Industrie und Medizin haben in der US Medizin, darunter führende medizinische Fakultäten, die Forderung nach der Unabhängigkeit der Forschung und Fortbildung vom unmittelbarem Einfluss der Industrie laut werden lassen und Drittmittel sowie Gelder für Fortbildung in einen pool einfließe zu lassen, der von einem unabhängigen Gremium zugeteilt wird.

Massive politische Einflussnahme schadet dem öffentlichen Interesse an einer rationalen und preiswerten Medikamentenversorgung

Nach einer US amerikanischen Quelle gab die US Industrie $ 163.6 Milliarden für die politische Einflussnahme aus, darunter 121.4 Mrd. für die Lobbyarbeit auf Bundes- und Staatenebene zur Verhinderung von Preiskontrollen, zur Sicherung und Durchsetzung von Patenten weltweit, was auch Zahlungen an die Generikahersteller einschließt, um die Konkurrenz aus dem Markt zu halten. Weiterhin knapp $ 5 Mrd für die Einflussnahme auf die FDA, die US Zulassungsbehörde. Im Jahre 2002 beschäftigte die Pharmaindustrie 675 Lobbyisten von 138 Firmen - fast 7 für jeden US Senator. Unter den Lobbyisten befinden sich 26 frühere Kongressmitglieder und alles in allem verfügten 342 von ihnen über "Drehtür" Verbindungen zur US Bundesregierung.

Auch in Deutschland reicht die Lobby der Industrie weit. Der SPD Gesundheitsexperte und Bundestagsabgeordnete Lauterbach berichtete vor einiger Zeit aus dem Gesundheitsausschuss des Bundestages, dass er seinen Augen nicht trauen wollte, als ein Gesetzentwurf der FDP unverblümt die Handschrift und den Absender der Pharmaindustrie trug. Die Einführung einer Positivliste, von Gesundheitsexperten im Rahmen von Arzneimittelsicherheit und zur Kostensenkung seit Jahren gefordert und zunächst auch im Gesetzentwurf zur Reform des Gesundheitswesen (2003) enthalten, scheiterte an der industriellen Lobby. Deutschland ist weltweit eines der wenigen Länder, wo es bis vor kurzem keine Preisverhandlungen zwischen Pharmaindustrie und Staat bzw. Kostenträger gibt mit entsprechend hohen Medikamentenpreisen. (In Ländern mit solchen bzw. öffentlicher Ausschreibung, z.B. Neuseeland, liegen die Preise bis zu 50% (Orginalpräparate) und 90 % (Generika) unter den bei uns üblichen. Auch dies ein Resultat der Lobby.

Die Unterminierung von Ethik und Vertrauen

Eins der Hauptursache der Abhängigkeit besteht in der "gefühlten" Unabhängigkeit der Ärzte gegenüber den Marketingmethoden der Industrie, obwohl deren Einfluss auf das Verschreibungsverhaltens eindeutig nachweisbar ist. Bezeichnend auch das Ergebnis einer Befragung von Ärzten, in der 80% äußerten, durch die Werbung der Pharmaindustrie nicht beeinflusst zu sein, dies jedoch für 60% ihrer Kollegen annehmen. Daher ist es entscheidend, dass (angehende) Ärzte gegenüber ihrer Pharma(früh)sozialisation sensibilisiert werden und Strategien lernen, wie sie sich dagegen immunisieren und unabhängig informieren können. Dies muss, wie gefordert, regelmäßiger Bestandteil des Medizinstudiums sowie der Fort- und Weiterbildung sein.
Die hier beschriebenen Mechanismen der Einflussnahme nützen, wie Transparency ausführt, nur wenigen, schaden aber der Mehrheit. "Vor allem aber untergraben sie durch die Korruption von Ethik das Vertrauen in die moralische Integrität der Heilberufe und in die Leistungsfähigkeit des Systems." Angesichts dieser Auswüchse und Missstände, die hier nur kurz beleuchtet werden konnten, regt sich auch hierzulande zunehmend Kritik und Widerstand. Eine große (fach-) öffentliche Debatte, wie sie in den angelsächsischen Ländern geführt wird, ist auch hier überfällig. Wir als Ärzte müssen im Interesse der Medizin als Wissenschaft und der Integrität unseres Berufes auf größere Unabhängigkeit von der Pharmaindustrie bedacht sein, wollen wir nicht, wie es der renommierte US Psychiater E. Fuller Torrey vom Stanley Medical Research Institut in Bezug auf einen Teil seiner Kollegen und sein Fachgebiet äußerte, dazu beitragen, das unserer Berufsstand zu einem pharmazeutischen Bordell verkommt.

Im nächsten Forum dann: was sind die Alternativen und was können wir als Ärzte tun?

Dieter Lehmkuhl, Regionalgruppe Berlin

Ein ausführliches Pharmadossier (40 S.) mit Literatur- und Quellenangaben ist als Word- bzw. pdf. Datei beim Verfasser unter DieterLehmkuhl@gmx.net abrufbar .










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