IPPNW-Aktuell 17/07

Die Arzt-Patient-Beziehung schützen

Gesundheitskarte stoppen!

Fast unbemerkt vollzieht sich in diesen Tagen Europas ehrgeizigstes Großprojekt: Die elektronische Totalvernetzung des deutschen Gesundheitswesens. Ärzte, Krankenhäuser, Pflegedienste und andere Leistungserbringer sollen mittels Datenautobahn vernetzt und für jeden Bürger soll eine elektronische Patientenakte angelegt werden. Der zentrale Schlüssel zu dieser schönen neuen Welt der Medizin ist die so genannte elektronische "Gesundheitskarte". Sie soll ab April 2008 die Krankenversichertenkarte ersetzen. Das Neue an der Gesundheitskarte ist ein integrierter Mikrochip, der zukünftig den Zugriff auf das zentrale Datennetz eröffnet. Neben den pflichtgemäßen Stammdaten soll dort langfristig die gesamte Patientenakte inklusive Röntgenbilder, OP-Berichte etc. elektronisch abgespeichert werden.

Behauptet wird, dieses Großprojekt mache "das (Gesundheits-) System für alle Beteiligten transparenter", es ebne den Weg für "mehr Qualität, mehr Sicherheit und mehr Effizienz im Gesundheitswesen". Das schreibt Ministerin Ulla Schmidt in einer Werbebroschüre zur Gesundheitskarte.

Die Arzt-Patient-Beziehung ist in Gefahr
Viele Ärztinnen und Ärzte sehen in diesem Streben nach absoluter Transparenz eine Gefahr für die Arzt-Patient-Beziehung. Darunter versteht man jene vertrauensvolle und nach außen geschützte Beziehung zwischen Arzt/Ärztin und Patient, die es dem Patienten überhaupt erst ermöglicht, sich gegenüber seinem Arzt oder seiner Ärztin zu öffnen und sich beraten, bzw. behandeln zu lassen. Für viele Ärztinnen und Ärzte ist die Arzt-Patient-Beziehung die Grundlage, auf der Heilung möglich wird. Diese Beziehung ist von Natur aus durch achtsame Nähe und Würde gekennzeichnet. Allein das persönliche Gespräch über die eigenen körperlichen oder seelischen Befindlichkeiten gehört zu jenen Aspekten unserer Individualität, die wir sonst nur im Kreis unserer engsten Familie oder gegenüber unserem Partner offenbaren.

Das persönliche Gespräch in der ärztlichen Praxis, die Ergebnisse der körperlichen Untersuchungen; der auf Vertrauen gegründete "Behandlungsvertrag" zwischen Arzt/Ärztin und Patient - all dies steht von Natur aus im Widerspruch zu einer digital aufgezwungenen Transparenz. In der Vergangenheit ruhte innerhalb der Arzt-Patient-Beziehung auch die Hoheit über alle Daten des Patienten. In den meisten Fällen wusste der Patient seine Krankengeschichte im Aktenschrank der ärztlichen Praxis sicher aufbewahrt. Ansonsten galt der sprichwörtliche Gegensatz zur Transparenz: die ärztliche Schweigepflicht.

Wer hat die Kontrolle über die Patientendaten?
Nach den Plänen der Bundesregierung beginnt bald ein Besuch in der ärztlichen Praxis damit, dass der Patient seine Karte in ein Lesegerät einsteckt und seinen PIN eingibt, damit der Arzt den Datensatz von einem zentralen Rechner abrufen kann. Es besteht die Gefahr, dass der Mensch hinter einem Vorhang aus Daten verschwindet. Ärzte werden in der Zukunft noch mehr Zeit damit verbringen, Daten einzugeben und Bildschirm und Tastatur werden immer mehr den direkten Kontakt zum Menschen ersetzen.

Wir wollen uns den Vorteilen moderner Kommunikationsmethoden nicht versperren, dennoch muss die Arzt-Patient-Beziehung unbedingt geschützt und die Hoheit der Patienten über die eigenen Daten gesichert werden. Die Folgen der nun geplanten Einführung der Gesundheitskarte sind aus unserer Sicht zu wenig untersucht. Wir befürchten, dass wirtschaftliche Motive hier eine größere Rolle spielen als medizinische.

Auf internationaler Ebene arbeitet die Bundesregierung im Rahmen der “Globalisierung” an einer zunehmenden Kommerzialisierung öffentlicher Dienstleistungen, und dabei soll auch das Gesundheitswesen “vermarktet”, d.h. profitorientiert umgestaltet werden sollen. Aber Gesundheit ist keine Ware!
Deshalb sollten Ärzte und Patienten sich gemeinsam gegen die geplante Einführung der Gesundheitskarte wehren.

Deutscher Ärztetag spricht sich gegen die Gesundheitskarte aus
Auch andere Ärzte- und Patientenverbände sowie kritische Informatiker und Bürgerrechtler wehren sich gegen das Großprojekt elektronische "Gesundheits"-karte. Auf dem Deutschen Ärztetag (dem "Parlament" der deutschen Ärzteschaft) im Mai 2007 haben sich die Delegierten mit eindeutiger Mehrheit gegen die elektronische Gesundheitskarte ausgesprochen. Dies begründeten die Delegierten mit folgenden Argumenten:

"Mit der Einführung der elektronischen Gesundheitskarte sollen die Weichen für eine grundlegende Modernisierung der Kommunikationen im Gesundheitswesen gestellt werden. Diese politisch gewollte Maßnahme ist in vielen ihrer Konsequenzen bis heute unklar und hätte gravierende Auswirkungen

- ... weil das Arzt-Patient-Verhältnis durch die Speicherung sensibler Patientendaten in zentralen Servern schwer beschädigt oder sogar zerstört wird

- ... weil der Zugriff auf die Daten und deren Missbrauch durch Dritte nicht sicher zu verhindern sind

- ... weil die Patienten mit Hilfe des elektronischen Rezeptes in Risikoklassen eingeteilt werden können, die ihnen womöglich ein ganzes Leben lang anhaften und sie bei der Erlangung von Versicherungsverhältnissen benachteiligen

- ... weil die Handhabung unserer Praxisabläufe erheblich behindert wird

- ... weil die Kosten dieser milliardenschweren Entwicklung auf Patienten und Ärzte abgewälzt werden

- ... weil es keinen belegbaren medizinischen Nutzen gibt.

Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist in Gefahr
Maschinenlesbarer Personalausweis, lebenslang gültige Steuernummer, weltweite Vernetzung - die Veränderung unseres Alltags durch Informations- und Kommunikationstechnologien ist nicht mehr zu übersehen. Nach Ansicht des Bundesbeauftragten für den Datenschutz Peter Schaar ist diese gesellschaftliche Entwicklung unumkehrbar. Schaar fügt hinzu: "Zu beeinflussen ist allerdings, ob diese Gesellschaft dauerhaft durch mehr Entfaltungschancen für den Einzelnen oder durch immer weitergehendere Überwachung geprägt ist."

Längst sehen Datenschützer die informationelle Selbstbestimmung des Bürgers in Gefahr. Die ehemalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger beschreibt den aktuellen Prozess so: “Eine ganze Kaskade von Gesetzen und Maßnahmen zur Ausdehnung der staatlichen Überwachung der Bürger sind in der Entwicklung, die zunehmend den Kernbereich privater Lebensgestaltung bedrohen und die mit einem erheblichen Risiko ihrer Verfassungswidrigkeit verbunden sind.”

Der gläserne Patient, der gläserne Arzt
Ein neues Telekommunikationsgesetz soll ab 2008 ermöglichen, dass alle Handy- und Telefonverbindungsdaten und der Email-Verkehr zum "Zweck der Verbrechensabwehr" vom Staat überwacht werden kann. Bewegungsprofile der ganzen Bevölkerung können durch die Standortregistrierung aller Handygespräche hergestellt, und private Computer sollen heimlich ausgeforscht werden. Es ist geplant, die Arzt-Patientengespräche z.B. bei Verdacht auf Kreditkartenbetrug durch den Patienten "verdeckt" zu überwachen.

Auch das Gesundheitswesen ist von dieser Entwicklung nicht verschont. Gerade die Informationen über den eigenen Körper- und Seelenzustand gehören zu den intimsten Daten eines Menschen. Daher gilt es, diesen persönlichen Bereich ohne jede Einschränkung vor dem Zugriff staatlicher und kommerzieller Instanzen abzuschirmen. Zusammen mit anderen Ärzteverbänden fordert die IPPNW, dass Datenschutz, Datenhoheit des Patienten und die Unverletzlichkeit einer vertrauensvollen Arzt-Patient-Beziehung die Grundvoraussetzungen bei der Einführung einer elektronischen Gesundheitskarte sein müssen.

Der Großteil der Kritiker der Gesundheitskarte spricht sich nicht generell gegen eine verbesserte Kommunikation im Gesundheitswesen aus. Natürlich muss jede Möglichkeit geprüft werden, mit der Notfall- und sonstige Behandlungsdaten schnell verfügbar sind und Wechselwirkungen zwischen Medikamenten geprüft werden können. Das machen die Ärzte auch heute schon täglich, vor allem die Hausärzte. Dazu müssen nicht die Krankheits- und Behandlungsdaten in zentralen Servern gespeichert werden.

Nein zur Gesundheitskarte - Es geht auch anders!
Bei aller Ablehnung fehlt es nicht an Alternativen zur Gesundheitskarte: Es gibt Vorschläge für "Gesundheitskarten" in Form eines USB-Sticks, auf dem der Patient wichtige medizinische Informationen wie Notfalldaten und persönlich Arzneimittelrisiken, sprichwörtlich selbst in der Hand hat.

Zahlreiche niedergelassene Ärzte und Ärztinnen verweisen darauf, dass eine Vernetzung der Praxen auf regionaler Ebene ausreichen würde, um eine effektivere Versorgung der Patienten zu gewährleisten. Überhaupt bezweifeln viele Ärztinnen und Ärzte die Grundunterstellung der Gesundheitskarten-Befürworter: Nämlich dass es unserem Gesundheitssystem an Sicherheit, Effizienz und Qualität mangele. In Wirklichkeit wird es im Interesse der Gesundheitswirtschaft kommerziell umgestaltet und es wird verstärkt an den Menschen gespart.

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