Berlin - Nach Informationen der atomkritischen Ärzteorganisation IPPNW - und wie "Spiegel Online" heute berichtet - ereigneten sich in der Vergangenheit in den Atomkraftwerken Krümmel und Brunsbüttel mehrere, mit einer Ausnahme öffentlich bislang praktisch nicht bekannte Wasserstoffexplosionen. "Nach einer Wasserstoffexplosion im Atomkraftwerk Gundremmingen wurden Betreiber, Gutachter und Behörden bundesweit offiziell gewarnt. Diese Warnungen wurden jedoch nicht hinreichend ernst genommen. So kam es in Folge zu mehreren Wasserstoffexplosionen, weil die Betreiber und die Aufsichtsbehörden die erforderlichen Vorsorgemaßnahmen unterließen", so IPPNW-Atomexperte Henrik Paulitz.
Am 6. Mai 1987 kam es in Gundremmingen zur Freisetzung radioaktiver Edelgase, weil ein Sicherheits- und Entlastungsventil des Siedewasserreaktors nicht geschlossen werden konnte. Später wurde festgestellt, dass es aufgrund einer Wasserstoffexplosion zu Verformungen des Ventils gekommen war. Am 30. Juli 1987 wurden bundesweit alle Atomkraftwerksbetreiber, Gutachter und Atomaufsichtsbehörden förmlich vor derartigen Ereignissen gewarnt.
Trotz dieser Warnung kam es am 6. November 1987 in Krümmel bei einem Störfall zu einem nicht ordnungsgemäßen Verhalten von drei Sicherheits- und Entlastungsventilen, weil es auch dort zuvor zu Verformungen aufgrund mehrerer Wasserstoffexplosionen gekommen war. Man hatte in Krümmel nach dem Ereignis in Gundremmingen auf vorsorgliche Nachrüstungen verzichtet. Erst nach dem Ereignis erfolgten Änderungen an der Anlage. Zugleich wurde erneut bundesweit vor dem Wasserstoff-Problem gewarnt.
In Brunsbüttel hatte man zwar aufgrund des Ereignisses in Gundremmingen gewisse Änderungen vorgenommen, doch es wurde ganz offensichtlich nicht in dem erforderlichen Maß in allen Anlagenbereichen Vorsorge getroffen.
So kam es am 17. September 1999 in Brunsbüttel zu einer - öffentlich bislang offenbar nicht bekannten - Wasserstoffexplosion, die zum vollständigen Bruch einer 4 Zentimeter dicken Stahlleitung führte. Es handelte sich um eine Steuerleitung im Turbinenschutz-Niederdruck-Bypass-System des Kraftwerks. Sie wird im Falle einer Trennung des Atomkraftwerks vom Stromnetz für den so genannten Lastabwurf auf Eigenbedarf benötigt, wenn der Generator also nur noch Strom für das Kraftwerk selbst produzieren soll. Im Rahmen des Ereignisses wurden 6 Tonnen radioaktiver Dampf freigesetzt.
Dann ereignete sich noch am 7. November 2001 in dem japanischen Siedewasserreaktor Hamaoka-1 eine schwere Wasserstoffexplosion.
Am 14. Dezember 2001 schließlich zerbarst in Brunsbüttel während des Leistungsbetriebes die Deckelsprühleitung. Bei der Wasserstoffexplosion unweit des Reaktordruckbehälters wurde ein rund 2,7 Meter langes Rohrleitungsstück in rund 33 Bruchstücke zerlegt. Leicht hätte es zu einem Kühlmittelverluststörfall und in Folge dessen zum Super-GAU kommen können.
In einem geheimen Papier der Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) vom 29. Mai 2002 weisen die Gutachter ungeschminkt darauf hin, dass der Betreiber und die Behörde bereits wiederholt - und zuletzt am 31. Mai 2000 anlässlich der Explosion am 17. September 1999 - offiziell auf die Problematik hingewiesen worden war.
In den offiziellen Berichten über die öffentlich bekannt gewordene Explosion am 14. Dezember 2001 wurden die Wasserstoffexplosion vom 17. September 1999 und auch die vorherigen Ereignisse in den anderen Anlagen hingegen verschwiegen. So verschwieg die schleswig-holsteinische Landesregierung die Vorfälle in ihren Berichten u.a. an das Landesparlament (Drucksache 15/1753) ebenso wie das Bundesumweltministerium in seinem Bericht vom 25. Februar 2002. "Aufgrund dieser vorsätzlich unvollständigen Sachaufklärung wurde dem Landesparlament also die Möglichkeit genommen, aus dem vollständigen Versagen der Betreiber und der Landesregierung die erforderlichen Konsequenzen ziehen zu können", so Paulitz.
Wie aus dem Bericht des schleswig-holsteinischen Ministeriums für Finanzen und Energie vom 18. Februar 2003 hervorgeht, erfolgte die Überprüfung der Fachkunde und Zuverlässigkeit des Betreibers offenbar ohne Berücksichtigung dessen, dass der Betreiber im Vorfeld durch zahlreiche andere Wasserstoffexplosionen und insbesondere auch durch die Explosion am 17. September 1999 in Brunsbüttel selbst gewarnt war. "Bei dieser Zuverlässigkeitsprüfung der Kieler Atomaufsicht wurden insofern wesentliche Aspekte nicht gewürdigt, die man hätte berücksichtigen müssen und die zwingend zum Entzug der Betriebsgenehmigung wegen fehlender Zuverlässigkeit hätten führen müssen", so IPPNW-Atomexperte Henrik Paulitz.
Die Atomaufsicht räumte in dem Bericht weiterhin ein, dass erst nach der Explosion vom 14. Dezember 2001 "erstmalig" eine angeblich "umfassende Überprüfung der Reaktoranlage auf Radiolysegas" erfolgt sei. "Damit gab die Atomaufsicht zu, dass sie nach der Explosion im September 1999 keine umfassende Risikovorsorge sichergestellt hat", so Paulitz.
Aber sogar nach der gefährlichen Explosion im Dezember 2001 betrachtet das zuständige Sozialministerium von Ministerin Gitta Trauernicht die Thematik offenbar eher lax. In der jüngst veröffentlichten "Liste offener Punkte aus der Sicherheitsüberprüfung für das Kernkraftwerk Brunsbüttel" taucht die Gefahr von Wasserstoffansammlungen nicht als wichtiges Problem auf. Es wurde in der Liste mit Stand vom 30. Juni 2006 lediglich als Problem der Kategorie "K4" klassifiziert. Das bedeutet, dass es sich nach Einschätzung der Kieler Atomaufsicht lediglich um ein "Beschreibungsdefizit" bzw. einen "redaktionellen Fehler" handelt.
Zwar stellt die Behörde von Ministerin Trauernicht in dem Papier fest, dass sich "explosionsfähige Gemische in Form von Wasserstoff-Sauerstoff-Gemischen als Folge der Radiolyse von Wasser (z. B. Primärkühlmittel) [...] in toten Enden von Rohrleitungen und/oder Behältern ansammeln und aufkonzentrieren" können. Die Wasserstoffexplosion in Brunsbüttel aus dem Jahre 2001 belege, dass in diesem Bereich noch immer "Verbesserungspotential hinsichtlich Entstehung, Vermeidung und Überwachung von Radiolysegasen besteht", heißt es in dem Papier. Diese Einschätzung führte aber nicht dazu, dass die Atomaufsicht auf eine schnelle Gefahrenbeseitigung drängte. Als Problem der Kategorie "K4" fordert die Aufsicht lediglich, das Problem "langfristig zu beseitigen". "Hierbei geht es der Behörde aber ohnehin nicht um technische Verbesserungen in der Anlage, sondern lediglich um die Änderung des Wortlauts in einem Bericht", betont Paulitz.
Am 9. Juli 2007 teilte der Betreiber des Kernkraftwerks Brunsbüttel mit, er gehe Hinweisen auf eine mögliche Ansammlung von Radiolysegas (Wasserstoff) in einem Messsystem innerhalb des Sicherheitsbehälters nach. Es wurde daher eine so genannte "Spülung" vorgenommen, um den Wasserstoff zu beseitigen. "Derartige Spülungen klingen harmlos, allerdings kann es unter Umständen gerade dadurch zur Zündung des Wasserstoffs und somit zur Explosion kommen", so Paulitz. "Nach Empfehlung von Gutachtern sollen solche Spülungen daher nicht leichtfertig durchgeführt werden."
"Das zeigt, dass es in deutschen Siedewasserreaktoren jeden Tag zu einer gefährlichen Wasserstoffexplosion kommen kann und dass weder die Betreiber noch die Atomaufsicht für die zugesicherte Sicherheit sorgen", so Paulitz. "Nur eine Stilllegung der Atomkraftwerke kann vor den atomaren Gefahren schützen."
Kontakt:
Henrik Paulitz, Fachreferent Atomenergie, Tel. 0171-53 888 22
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