Aus dem IPPNW-Forum 68

Der Nürnberger Kodex und seine Folgen

"Forschen ohne Einwilligung"

Rund zweieinhalb Millionen Unterschriften sind gegen die "Convention on Human Rights and Biomedicine, bisher kurz "Bioethik-Konvention", in Deutschland gesammelt worden. Damit ist die Unterzeichnung der Konvention durch die alte, wie die neue Bundesregierung und die drohende Ratifizierung durch den Bundestag zumindest vorerst gestoppt worden. Hervorzuheben ist, dass sich der Widerstand gegen die Konvention im wesentlichen auf die Frage der Forschung an nicht einwilligungsfähigen Menschen und nicht auf die für die strategischen Ziele der neuen Biomedizin viel wichtigeren Gebiete der Konvention konzentriert: die genetische Testung, die Embryonenforschung als Tor zur Gentherapie und die Keimbahntherapie, deren Anwendung in der Konvention vorerst noch verboten, deren Erforschung aber in den Erläuterungen zur Konvention erlaubt wird.

Forschung an nicht einwilligungsfähigen Menschen mobilisiert heute den Widerstand in Deutschland weit über das Lager der unmittelbar Betroffenen und ihrer Verbände. Das zeigen z.B. die Auseinandersetzungen um die humangenetischen Versuche ohne Einwilligung an den behinderten Bewohnern des Josefsstiftes in Eisingen bei Würzburg. Auffallend ist, dass die kritischen Stimmen in Deutschland inzwischen stärker als in jedem anderen eu-ropäischen Land sind. Und bemerkenswert ist, dass sich die Kritik an der Biomedizin und ihrer Bioethik auf das Thema "Forschung ohne Einwilligung" konzentriert, damit auf das Kernthema des Nürnberger Kodex und auf die damit verbundene geschichtliche Erfahrung. Das Thema ist inzwischen geradezu Symbol des Widerstandes gegen die Anwendung der Biowissenschaften auf den Menschen, des Fortschrittsglaubens, der utilitaristischen Güterabwägung und der Zerstörung von Grundrechten geworden. Der Nürnberger Kodex von 1947 stellt das Wohl des einzelnen Menschen und seinen menschenrechtlichen Schutz in den Mittelpunkt der Medizin, nicht die Wissenschaft, nicht den Fortschritt, nicht das Wohl der Gesellschaft. Der Nürnberger Kodex bindet das medizinische Experiment eindeutig an den "informed consent" der Versuchsperson: die freiwillige, informierte, persönliche Einwilligung nach bestmöglicher Aufklärung. Der Kodex schreibt vor, dass den Versuchspersonen vor ihrer Entscheidung das Wesen, die Dauer, der Zweck des Versuchs und die Methode, die Mittel, die Unannehmlichkeiten und die Gefahren klargemacht werden müssen, und sie dies alles verstehen müssen. Menschen, die auf Grund von Bewusstlosigkeit, geisti-ger Behinderung oder auf Grund ihres Krankheitszustandes, beispielsweise einer Demenz, dieses Verständnis nicht aufbringen können und deshalb keine informierte Einwilligung geben können, sind somit eindeutig vor medizinischen Versuchen geschützt.

Die Diskussion über Biomedizin und Bioethik bezieht sich zunehmend auf die Geschichte und den Nürnberger Kodex. Dies ist ihre Stärke und dies erklärt auch ihr Ausmaß und ihre öffentliche Wirksamkeit. In diesem Sinne wurde auch am 50. Jahrestag der Urteilsverkündung des Nürnberger Ärzteprozesses, am 20. August 1997, von der deutschen Sektion der IPPNW der Nürnberger Kodex 1997 in Nürnberg vorgelegt. Dieser baut auf den historischen Erfahrungen und den Grundgedanken des alten Kodex von 1947 auf, um die heutigen Fragen der Medizin bei der Anwen-dung der Biowissenschaften auf den Menschen zu beantworten.

Diese kritisch-historische Anknüpfung an den Nürnberger Kodex 1947 ist eng verbunden mit der Grundsatzfrage nach Charakter und Gültigkeit des Kodex: Hat der Kodex nur eine historische oder auch eine allgemeinverbindliche Bedeutung? Diese Frage wurde insbesondere in den USA in den 60er und 70er Jahren gestellt. Hintergrund waren die Enthüllungen der berüchtigten Krebsversuche im "Jewish Chronic Desease Hospital" in Brooklyn 1963, wo 22 chronisch kranken, geistig behinderten Frauen Krebszellen eingeimpft wurden, sowie die Enthüllungen über die Tuskegee-Syphilis-Study 1972, in der 400 schwarze Männer ohne Einwilligung über Jahrzehnte unbehandelt bzw. scheinbehandelt blieben, um den Verlauf der Erkrankung zu beobachten, ohne davon informiert zu sein, bzw. im falschen Glauben, sie würden behandelt. Vor diesem Hintergrund wurde die Gültigkeit des Nürnberger Kodex für ein demokratisches Land schlicht in Abrede gestellt. Er sei nur historisch zu verstehen und auf eine Diktatur anwendbar.

Die historischen Zeugnisse und ein Blick auf den Text des Kodex selbst sprechen aber eindeutig für den Anspruch auf eine Allgemeingültigkeit. Telford Taylor, der Chefankläger von Nürnberg, sagte in seinem Eröffnungsstatement 1946, dass der Ärzteprozess kein reiner Mordprozess sei, weil die Angeklagten Ärzte seien, die den Hippokratischen Eid geschworen hatten, also in Ausübung ihres Berufs zu Mördern geworden waren. Folgerichtig schufen sich die Richter mit dem Nürnberger Kodex eine Beurteilungsgrundlage für Verbrechen, die im Rahmen der Medizin möglich geworden waren. Die Richter bezeichneten die Aussagen des Kodex als Grundprinzipien, "welche befolgt werden müssen, so daß Versuche am Menschen nicht gegen Moral, Ethik und Rechtsprinzipien verstoßen".

Auch wären der berühmte erste Satz des Kodex - "Die freiwillige Zustimmung der Versuchsperson ist unbedingt erforderlich" - und die danach folgenden Ausführungen zur Freiwilligkeit, zu den Voraussetzungen der Versuchsperson und des Untersuchers und zur Qualität der Information angesichts der Medizin von Auschwitz und Hadamar bedeutungslos, ja wenig sinnvoll gewesen, wenn sie nicht als allgemeine Regeln aufgefasst worden wären. Die große Diskrepanz zwischen den Aussagen von Nürnberg und der experimentalmedizinischen Wirklichkeit in den westlichen Demokratien führten dann ab den 60er Jahren zu den im wesentlichen erfolgreichen Versuchen, den Nürnberger Kodex in verschiedenen Deklarationen des Weltärztebundes schrittweise zu revidieren und den Erfordernissen der Forschung anzupas-sen. Im Mittelpunkt stand dabei stets die Frage des Umgangs mit Menschen, die nicht einwilligen können.

Der Streit um die Gültigkeit und den Charakter des Nürnberger Kodex ist am Ende des 20. Jahrhunderts wieder voll entbrannt. Verschärfend kommt hinzu, dass Völkerrechtsexperten heute allgemein davon ausgehen, dass der Nürnberger Kodex als Bestandteil des Nürnberger Urteils Völkerrechtscharakter hat, somit einklagbares Recht darstellt. Die Auseinandersetzung wird auch in Deutschland an Schärfe zunehmen, wenn sich die Kritikbewegung an der Bioethik stärker auf den Kodex bezieht.

Denn die Bioethik-Konvention stellt eine endgültige Revision des Nürnberger Kodex und einen Schluss-punkt des Kampfes der Experimentalmedizin um die nicht einwilligungsfähigen Menschen dar. Im Artikel 17.2. heißt es, dass bei nicht einwilligungsfähigen Personen der Vormund die Einwilligung in fremdnützige Forschungsvorhaben geben kann, wenn die Forschung Nutzen bringt für "Personen, die sich in der gleichen Altersstufe befinden oder die an der gleichen Krankheit oder Störung leiden oder sich in dem gleichen Zustand befinden" und wenn das Forschungsvorhaben nur ein "minimales Risiko und eine minimale Belastung" für den Betroffenen darstellen würde. Würde diese Regelung Wirklichkeit werden, würde die historische Norm des Nürnberger Kodex, die mit so unendlich viel Leid belegt ist, gebrochen. Der Verweis auf den Gruppennutzen und der Hinweis auf die "zukünftigen Patienten", "die Gesellschaft" und die "Spezies Mensch", markiert den gefährlichen Übergang einer individualethischen Bindung der Medizin zu einer neuen wieder kollektivethischen Orientierung.

Die Einwilligung des Betreuers in eine fremdnützige Forschung ist mit dem bestehenden Betreuungsgesetz in Deutschland unvereinbar. Der gesetzliche Betreuer darf nur zum Wohle seines Betreuten entscheiden, nicht zum Wohle Dritter oder der Gesellschaft. Die Begriffe "minimal risk" or "minimal burden" sind vage und interpretierbar. In einer Broschüre des deutschen Justizministeriums heißt es, dass es nur um "sanfte Methoden" wie Wiegen, Messen und Beobachten und Mitnutzung von Blut-, Speichel- und Urinproben ginge. In den Erläuterungen der Konvention sind dagegen schon bildgebende Verfahren und für die Gruppe der Koma-Patienten Versuche zur Verbesserung der Intensivmedizin aufgeführt. Es geht also durchaus nicht nur um sanfte, sondern um invasive Forschungsmethoden. "Minimal risk" und "minimal burden" könnten so zum Türöffner für eine aggressive Forschungspraxis ohne Einwilligung werden.

Die Befürworter fahren dramatische Argumente auf: der Fortschritt sei in Gefahr und die Betroffenen würden zu "Forschungswaisen", insbesondere im Bereich der Altersdemenz, eine "Demenzlawine" drohe, wenn die Forschung an Einwilligungsunfähigen nicht freigegeben werde. Kritiker weisen aber darauf hin, dass die hier diskutierten pharmakologischen Experimente prinzipiell auch bei leicht und damit tendenziell einwilligungsfähigen De-menzkranken durchgeführt werden können, ganz davon abgesehen, dass die Breite der pharmakologischen Forschung, die gerade im Demenzbereich die sozialmedizinische Forschung zur Versorgungsverbesserung zu verdrängen droht, öffentlich kritisch diskutiert werden müsste.

Ein wesentlicher Einwand schließt sich hier an: Die Gedankenfigur des "informed consent" des Nürnberger Kodex bedeutet Dialog zwischen zwei Subjekten. Auf der einen Seite ist der Versuchsleiter, der seinen Versuch auf jeder Stufe erläutern muss und zwar so, dass die Versuchsteilnehmer es verstehen. Auf der anderen Seite ist die Versuchsperson, die Fragen stellt, anstrengende, aber notwendige Fragen, und die den Versuch jederzeit abbrechen kann. Ich glaube, der "informed consent" bedeutet mehr Kontrolle und garantiert besser die Notwendigkeit, die Sinnhaftigkeit von Forschung auszuweisen, als jede Ethik-Kommission bewirken kann. Würde die Forschung an einwilligungsunfähigen Menschen freigegeben, würde dies einen wei-teren Schritt in Richtung einer Forschung ohne Dialog bedeuten.

Das Vermächtnis von Nürnberg ist die dringend gebotene individualethische Bindung der Medizin und die Absage an jede kollektivethische Orientierung. Eine humane medizinische Forschung und die Medizin der Zukunft, ist immer dem Wohl konkreter Menschen verpflichtet. "Übergeordnete Interessen", das "Wohl kommender Generationen" oder der "Spezies Mensch" rechtfertigen in keiner Weise die Unterlaufung des menschenrechtlichen Schutzes des Einzelnen und des Prinzips des "informed consent", auch wenn dies möglicherweise eine Verlangsamung der Forschung bedeutet. Die staatlich anerkannte und geschützte Verläßlichkeit der Menschenrechte in der Medizin und der Medizinforschung zeigt sich am Umgang mit den Menschen, die nicht einwilligen können. Ihr Schutz vor fremdnütziger Forschung ohne persönliche Einwilligung hat deshalb hohe Priorität.

Gigantomane Gesundheitsvorstellungen haben in der Nazi-Ära dazu geführt, dass nicht nur die Rechte, sondern auch das Leben des Einzelnen mißachtet wurden, um den "Volkskörper" zu heilen. In Anlehnung an den bekannten aus Deutschland in der NS-Zeit emigrierten amerikanischen Medizinhistoriker Jay Katz lässt sich formu-lieren: Wäre im professionellen Denken und Handeln der Ärzte im Nationalsozialismus die unumstößliche Notwendigkeit der menschenrechtlichen Schutzgarantien des Einzelnen fest verankert gewesen, hätten sie niemals den Illusionen und verbrecherischen Folgen der "Magna Therapia” auf Kosten des Einzelnen folgen können. Mit dem Leitbild des "genetic enhancement engineering” der Biomedizin droht eine moderne "Magna Therapia” des Menschen durch seine Auto-Evolution. Nur durch ein absolutes Bestehen auf der Unantastbarkeit der Würde des Menschen im Sinne des Nürnberger Kodex einschließlich des Verbotes der Instrumenta-lisierung des Menschen durch uneingewilligte fremdnützige Forschung und der Lebensrechte aller Menschen kann die drohende Wiederholung der Geschichte verhindert werden.

*) Gekürzte Fassung eines Beitrages, orginal erschienen in: Angelika Ebbinghaus/Klaus Dörner (Hg.), Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzteprozeß und seine Folgen, Aufbauverlag, Berlin 2001 (Erscheinungsmonat März 2001). Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

Michael Wunder

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