Ziviler Widerstand in Krisenzeiten

Austausch mit Initiativen aus dem Südosten der Türkei

Unsere diesjährige Türkeireise musste virtuell stattfinden. Im März und April konnten wir online mit vielen zivilgesellschaftlichen Gruppen sprechen, die wir sonst besucht hätten – unterstützt durch unsere Dolmetscherin Serra in Diyarbakir. Die Gespräche waren sehr intensiv. Die Gesprächspartner*innen hatten einen großen Mitteilungsbedarf. Sie ersticken unter staatlichen Repressionen, die sie mehr belasten als die Pandemiebeschränkungen. Es gibt nur wenig Kontakte ins europäische Ausland. Delegationen kommen nicht. Die Haltung der europäischen Regierungen, besonders der deutschen, enttäuscht sie sehr. Sie fühlen sich isoliert und im Stich gelassen. Trotzdem vermitteln sie ungebrochenen Mut und Resilienz, die uns immer wieder beeindrucken.

Neben der Pandemie, die ähnliche Probleme verursacht wie bei uns, steht vor allem die zunehmende Armut im Vordergrund. Der informelle Arbeitssektor ist fast völlig zum Erliegen gekommen, worunter besonders Frauen und Kinder zu leiden haben. Die Schulen waren ein Jahr lang nahezu vollständig geschlossen, Online-Unterricht ist für die meisten Kinder in den beengten Wohnverhältnissen und ohne technische Ausrüstung nicht möglich. Zunächst wurde in der Türkei mit dem chinesischen Impfstoff Sinuvac geimpft. Die Impfbereitschaft war gering, auch weil die Bevölkerung im Südosten der Regierung nicht traut. Insbesondere unsere ärztlichen Kolleg*innen hatten Zweifel an den von der Regierung veröffentlichten Corona-Zahlen: Fast in jeder Familie gab es Erkrankte oder sogar Tote. Das Gesundheitspersonal war besonders stark betroffen. Wenn Ärztinnen und Ärzte eigene Zahlen veröffentlicht oder Informationsmaterial verteilt haben, wurden sie strafrechtlich verfolgt.

Die Wirtschaftskrise und die zunehmende Verarmung weiter Bevölkerungsteile haben dazu geführt, dass die Regierung Erdogan ihren Rückhalt verliert. Das führt zu immer absurderen Verfolgungsmaßnahmen jeglicher Opposition. Vor einigen Wochen konnte man in der Zeitung lesen, dass selbst für die verheerenden Brände am Mittelmeer die PKK verantwortlich gemacht wurde. Die Wirtschaftskrise führt auch zu einer zunehmenden Fremdenfeindlichkeit. Immer wieder werden syrische Menschen und Geschäfte vom nationalistischen Mob angegriffen. Die Nachricht von dem kurdischen Jungen in einer Großstadt in der West-Türkei, der von Nachbarn erschlagen wurde, weil er auf dem Balkon kurdische Musik gespielt hatte, schaffte es auch in die deutschen Medien.

Viele Menschen fliehen vor Repression und existenzieller Bedrohung nach Europa, oft nach Deutschland, wo sie Verwandte haben. Nach der Asylgeschäftsstatistik des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom März 2021 ist die Türkei nach Syrien, Afghanistan und Iran auf Platz vier der Herkunftsländer. Die Anerkennungsquote von Januar bis März lag bei 31,3 Prozent. Aus der Statistik geht nicht hervor, wie viele der Asylsuchenden Kurd*innen aus dem Südosten sind. Wenn man Anhörungsprotokolle liest, hat man den Eindruck, dass viele Anhörer*innen und Richter*innen in Deutschland Kurd*innen unter den Generalverdacht des Terrorismus stellen und ihre Asylanträge ablehnen.


Als Gegengewicht zu den innenpolitischen Problemen, versucht die Regierung Erdogan, eine Vormachtstellung in der Region zu erkämpfen – mit völkerrechtswidrigen militärischen Einmärschen in Syrien und im Nordirak und jetzt auch mit Versuchen, sich in Afghanistan zu etablieren.

Die Bundesregierung steht „in Treue fest“ zum Verbündeten Türkei. Mehr als gelegentliche Betroffenheit ist nicht zu vernehmen. Zu groß ist die Angst vor neuen Flüchtlingsströmen nach Europa. Man scheint zu glauben, dass man den rechten Strömungen hier nur so Paroli bieten könne. Ein Irrglaube, wie ich meine. Nur eine konsequente Menschenrechtspolitik und ein klares Bekenntnis zu den völkerrechtlichen Verpflichtungen können hier zum Erfolg führen. Die ständige Beschwörung der westlichen Wertegemeinschaft ohne entsprechendes Handeln ist unerträglich.

Wir haben deshalb einige Forderungen an die Bundesregierung formuliert:

  • Eine Aufhebung des PKK-Verbots, das alle politisch aktiven Kurd*innenen in Deutschland stigmatisiert und viele kriminalisiert.
  • Ein Ende der Zusammenarbeit der türkischen und deutschen Geheimdienste und der Polizei bei der Bedrohung und Verfolgung oppositioneller Politiker*innen und Journalist*innen.
    Die Unterstützung kurdischer Vereine in derselben Weise wie der türkischen für ein gedeihliches Zusammenleben beider Bevölkerungsgruppen hier bei uns.
  • Die Anerkennung oppositioneller Türk*innen und Kurd*innen aus der Türkei als politische Flüchtlinge, solange das repressive AKP/MHP-Regime ihre Freiheit und oft auch ihr Leben gefährdet. Die derzeitige Türkei ist kein sicherer Drittstaat.
  • Aufkündigung des EU-Türkei-Deals und stattdessen eine abgestimmte ehrliche Flüchtlingspolitik, die den Schutzbedarf der geflüchteten Menschen im Blick hat und eine menschenwürdige Zukunft.
  • Die Einstellung der Waffenexporte trotz der NATO-Verpflichtungen, solange die Türkei ihre innerstaatlichen Konflikte nicht mit friedlichen Mitteln löst und ihre völkerrechtswidrige Expansionspolitik in die Nachbarstaaten fortsetzt.
  • Einen Austausch auf Augenhöhe zwischen Wissenschaftler*innen, Studierenden und Zivilgesellschaft mit Abschaffung der einseitigen Visumspflicht.


Wie kann Solidarität in dieser Situation aussehen? Wie können wir uns bei all den Beschränkungen gegenseitig bestärken?

Wir haben einige unserer Gesprächspartner*innen für den Herbst nach Deutschland eingeladen: u.a. zwei Psychologen, eine Ärztin, eine Rechtsanwältin und zwei Aktivist*innen aus der Brennpunkt-Arbeit mit Kindern.

Vom 09. bis zum 29. Oktober werden wir mit ihnen in Braunschweig, Hannover, Berlin und mehreren Stationen in Süddeutschland zivilgesellschaftliche Gruppen treffen und uns über medizinische, psychologische und friedenspädagogische Arbeit austauschen und Netzwerke knüpfen.
Am 14. Oktober 2021 planen wir in Braunschweig eine öffentliche Veranstaltung zu den Möglichkeiten zivilgesellschaftlichen und friedenspolitischen Engagements. Diese Veranstaltung soll als Hybridveranstaltung vielen die Möglichkeit bieten, unsere Gäste zu treffen.

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Aktuelles

Türkeireise März 2024
Unsere Türkeireise hat vom 09.-23.03.2024 stattgefunden. Unsere Solidarität mit den Aktiven der türkischen und kurdischen Zivilgesellschaft ist angesichts der restriktiven Regierungspolitik nötiger denn je. Wir haben auf unserer Reise wieder Menschen und Organisationen in Diyarbakir und anderen Städten im Südosten besucht. Berichte findet Ihr auf dem IPPNW-Blog: blog.ippnw.de/tag/turkei

Reiseberichte Türkei/Kurdistan

Türkei/Kurdistan 2023: Nach dem Beben
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Türkeiprojekt 2023

Der Besuch türkischer Menschenrechtler*innen in Deutschland 2023 wurde unterstützt durch

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