Berliner Erklärung (2002)

Dokumente und Erklärungen

„Soll die Medizin daher ihre große Aufgabe wirklich erfüllen, so muss sie in das große politische und soziale Leben eingreifen; sie muss die Hemmnisse angeben, welche der normalen Erfüllung der Lebensvorgänge im Wege stehen und ihre Beseitigung erwirken.“ Rudolf Virchow, Arzt und Politiker, Berlin 1849

Zwanzig Jahre nach Gründung der deutschen IPPNW-Sektion ist die Gefahr eines Krieges mit Nuklearwaffen wieder unmittelbar präsent. Nicht gegen eine andere Supermacht, sondern gegen feindliche Staaten auch ohne atomare Bewaffnung oder gar gegen islamistische Kämpfer in afghanischen Höhlen will die einzige Weltmacht USA neue Kernwaffen entwickeln und anwenden.

Die Terroranschläge vom September 2001 haben für jeden offensichtlich gemacht, wie verletzlich unsere technisierte Zivilisation ist: Wenn Gewalt und Krieg weiter eskalieren, werden auch die „zivilen“, schon in Friedenszeiten Gesundheit und Zukunft der Menschen beschädigenden Atomkraftwerke zu Massenvernichtungswaffen gemacht werden können.

Unsere Mitgliederversammlung tritt zu einer Zeit zusammen, in der Deutschland Krieg führt. Bundeswehrtruppen stehen in Kuwait bereit, an einem großen Nah-Ost-Krieg teil zu nehmen, der von den USA gegen den Irak vorbereitet wird. Die von der westlichen Vormacht als Ziel eines jahrelangen Feldzuges ins Auge gefasste „Achse des Bösen“ reicht von Afghanistan über Iran bis nach Nordkorea und den Philippinen, unter Einbeziehung auch von georgischen Gebieten. „Der Krieg gegen den Terror“, in Wahrheit ein Krieg vor allem für die Vorherrschaft des US-Imperiums, ist auf eine globale Dimension ausgelegt. In diesem kritischen Moment bekräftigt die deutsche IPPNW ihre Position für den Frieden, und für soziale Verantwortung.

Dies bedeutet für uns: Krieg ist keine Lösung für die Probleme dieser Welt, sondern bedeutet nichts als Terror und Elend, verhindert jeden wirklichen gesellschaftlichen Fortschritt. Die schweren Symptome der globalen Krise müssen mit zivilen Mitteln bearbeitet werden: die immer weitere Polarisierung zwischen Reichtum und Armut, die mangelnde Respektierung der Menschenrechte und des Völkerrechts, die fast ungebremst fortschreitende Ruinierung unserer natürlichen Umwelt.


Nicht Unterwerfung, sondern Kooperation im Geiste der Gleichberechtigung aller Menschen ist notwendig, um eine wirklich humane Zukunft auf diesem Planeten aufbauen zu können. Als Ärztinnen und Ärzte beunruhigt uns auch, dass eine neoliberaler Deregulierung im Gesundheitswesen problematische Folgen nach sich zöge. Die hier geplanten Privatisierungsmaßnahmen würden dazu führen, die Qualität der medizinischen Versorgung immer mehr vom Einkommen der Patienten abhängig zu machen.

Im Widerstand gegen solche Entwicklungen sehen wir uns nicht alleine: In den letzten Jahren ist eine breite internationale Bewegung entstanden, die sich dem „Terror der Ökonomie“, einer einseitigen Globalisierung nur von wirtschaftlichen Profitinteressen auf Kosten aller anderen menschlichen Bedürfnisse entgegenstellt, und die Forderungen nach einer gerechten, demokratisch organisierten und auch ökologisch zukunftsfähigen Welt unüberhörbar werden lässt. Zusammen mit den Trägern dieser Bewegungen wollen wir solche Forderungen in gesellschaftliche Realität umzusetzen versuchen. Nur so können Gewalt und Krieg wirksam bekämpft werden, so dass Angst und Hass nicht mehr das Leben immer größerer Teile der Menschheit bestimmen. Im Sinne Virchows müssen die Krankheit der Gesellschaft – Gewalt, Unterdrückung, Ausgrenzung und Armut genau benannt und mit Entschiedenheit angegangen werden.

Es geht um eine folgenschwere Weichenstellung: Entweder Aufbruch zu einer gerechteren Weltordnung als Weg zu einer Kultur des Friedens, oder neue Kriege zur Ausrottung des „Bösen“, wo immer sich Hassobjekte als Weltfeinde anbieten oder auch erst aufbauen lassen. Die politischen Parteien und ihre Repräsentanten haben bei der Lösung der wichtigen gesellschaftlichen Probleme weitgehend versagt. Unsere Hoffnung richtet sich auf ein verändertes Bewusstsein und demokratisches Handeln der Bürger selber, die ihren politischen Willen in Basisbewegungen und NGO wirksam werden lassen, und so zum notwendigen Korrekturfaktor werden können.

Zwanzig Jahre nach Gründung unserer Vereinigung rufen wir als deutsche IPPNW dazu auf, gemeinsam an einer Kultur des Friedens zu arbeiten.

Berlin, den 16. Juli 2002

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