IPPNW-Forum Februar 2008

Die Ökobilanz von Atomwaffen

Die wahren Kosten für die Menschheit

Orte der radioaktiven Verseuchung finden sich über den gesamten Globus verteilt. Angefangen von dem Nevada-Testgelände in den Vereinigten Staaten bis zur Hanford Nuclear Reservation, der ehemals bedeutendsten Plutoniumfabrik, über das Gelände in Idaho, auf dem 52 Testreaktoren standen, und bis nach Savannah River/North Carolina, wo Plutonium und Tritium für den Bombenbau produziert wurden. In Großbritannien und Frankreich finden sich die größten radioaktiven Verseuchungen um die Wiederaufarbeitungsanlagen Sellafield und La Hague. In China, wo die Umweltauswirkungen der Atomwaffenproduktion streng geheim gehalten werden, sind aus der Presse radioaktive Verseuchungen in der Region Lop Nur bekannt, wo sich das chinesische Testgelände befindet. In Russland zieht sich das strahlende Erbe von Chelyabinsk an der Südostseite des Urals bis zur Wiederaufarbeitungsanlage bei Tomsk in Sibirien und zur unterirdischen chemischen Trennanlage von Krasnoyarsk. Eine unvollständige Auflistung einer unsichtbaren nuklearen Landkarte, die sich über Hunderttausende von Quadratkilometern legt.

Die nukleare Kette hinterlässt unauslöschliche Spuren auf unserem Planeten. In der Studie "Medizin und Nuklearkrieg"1 schreiben die Autoren Victor Sidel, Lachlan Forrow und Jonathan E. Slutzmann über die Ökobilanz von Atomwaffen: "Jeder einzelne Schritt bei der Herstellung von Nuklearwaffen birgt gravierende Risiken für die Umwelt." Den umfassendsten Versuch einer Auswertung der ökologischen und gesundheitlichen Auswirkungen der Nuklearwaffenproduktion haben Arjun Makhijani, Howard Hu und Katherine Yih 1995 in ihrem Buch "Nuclear Wastelands" gemacht.

Bernard Lown erinnert im Vorwort, dass die Physicians for Social Responsibility die radioaktive Verseuchung einen "nationalen Gesundheits- und Sicherheitsnotfall" genannt haben, ein "schleichendes Tschernobyl": "Es passiert nicht nur an einem, sondern an vielen Plätzen der Welt und beeinträchtigt langsam und beständig die Gesundheit und das Leben der Menschen in den Atomwaffenstaaten, den Ländern, in denen Uran abgebaut wird, und als Folge des Fallouts der Atomtests Menschen auf der ganzen Welt", so Lown.

Uran ist neben Plutonium das wichtigste Ausgangsmaterial für den Bau von Atomwaffen. Bei der Kette der Uranwirtschaft entstehen sowohl radioaktive wie auch chemische Emissionen. Einer der ökologischen Schäden ist die Verseuchung des Grundwassers. Die Rückstände des Bergbaus werden in Schlammteichen gelagert, die aber trotz Abtrennung des Urans immer noch Radioaktivität absondern. So kann radioaktiv verunreinigtes Wasser in den Boden gelangen und das Grundwasser verseuchen. Auch können die Dämme, die zur Rückhaltung des Abfalls errichtet werden, brechen. Ein Dammbruch führte z.B. 1979 in New Mexico zur grössten nuklearen Katastrophe der USA. Etwa 400 Millionen Liter radioaktiven Wassers flossen in den Rio Puerco. Betroffen davon waren insbesondere die Diné-, Hopi- und Pueblo-Indianer.2

Die Gefährlichkeit der radioaktiven Strahlung zeigt sich auch in der Tierwelt. In der Nähe von Uranabbaugebieten tauchen immer wieder tote Fische sowie Deformationen, wie zum Beispiel zweiköpfige Frösche, auf. In Kanada wurde in der Nähe von Uranmühlen erhöhte Sterilität und Mutationen von Tieren gefunden. Nicht zuletzt erreicht die freigesetzte Strahlung auch die Menschen. Bis in die späten 1980er-Jahre lehnte die US-Regierung jegliche Verantwortung für den Tod von Minenarbeitern ab. Erst 1989 erwähnte das amerikanische Repräsentantenhaus, dass mindestens 450 Uranbergwerksarbeiter an Lungenkrebs gestorben seien. Als direkte Folge dieser Erkenntnis erliess die US-Regierung ein Jahr später den Radiation Exposure Compensation Act. Damit sollen Minenarbeiter, wenn sie belegen können, von ihrer Tätigkeit gesundheitliche Folgeschäden erlitten zu haben, entschädigt werden.

Aufgrund jüngster Erkenntnisse von Wissenschaftlern über die Gefährlichkeit des Uranabbaus werden die als «unschädlich» geltenden Grenzwerte immer weiter nach unten gesenkt. Die Menschen im Umkreis von einer Meile um eine Abraumhalde leiden unter einem doppelt so hohen Krebsrisiko. Eine im Uranabbau-Gebiet «Pine Ridge Reservation» durchgeführte Studie untersuchte zwölf Familien. Davon hatten von 1962 bis Anfang 1980 zehn mindestens ein an Krebs gestorbenes Familienmitglied zu beklagen. 38% aller Schwangerschaften endeten in einem Testmonat im Jahre 1979 mit einer Fehlgeburt. Damit lag sie um 6,35 Mal höher als im nationalen Durchschnitt. Von den geborenen Kindern litten im selben Zeitraum 60 bis 70% unter Atembeschwerden aufgrund von Fehlbildungen der Lunge.

Das zweite für den Atombombenbau eingesetzte Element Plutonium ist die am stärksten Krebs erregende Substanz, die der Mensch kennt.3 "Plutonium ist ein künstlicher radioaktiver Stoff, der als Alphastrahler eine besondere Bedrohung der Gesundheit darstellt. Tierversuche haben gezeigt, dass in Form von feinen Teilchen eingeatmetes Plutonium leicht absorbiert wird. Absorbiertes Plutonium hält sich jahrzehntelang im Körper. Es siedelt sich hauptsächlich in der Lunge, den Lymphknoten, der Leber und im Knochen ab, wobei die jeweilige Verteilung des Plutoniums von dessen chemischer Form und dem Eintrittsweg abhängt," schreiben die Autoren der IPPNW-Studie "Plutonium - Tödliches Gold des Atomzeitalters".4

Die 528 Atomwaffentests, die in der Atmosphäre, unter Wasser, auf der Erdoberfläche oder im Weltraum gezündet wurden, haben zu einer weltweiten Strahlenbelastung der Erde geführt. Der radioaktive Niederschlag enthält Produkte, die aus der Spaltung von Uran und Plutonium entstehen. Ein Teil der Spaltprodukte ist gasförmig, weshalb auch bei den mehr als 1.500 unterirdischen Atomtests zwischen 1957 und heute radioaktiver Niederschlag entstanden ist. Je nach Wetterlage, Windverhältnissen, Menge der freigesetzten Radioaktivität und Explosionsstärke der Atombombe kann der Niederschlag auf sehr unterschiedliche, bis einige tausend Kilometer große Gebiete verteilt sein. Daneben erhöht sich auch die radioaktive Belastung weltweit, da Elemente mit Halbwertszeiten von vielen Jahren gleichmäßig über die Erde verteilt werden. Während der weltweiten oberirdischen Kernwaffenversuche von 1954 bis 1966 wurde auf dem Boden der alten Bundesländer ein Fallout von 2.500 Becquerel pro Quadratmeter Strontium-90 und 4.000 Becquerel pro Quadratmeter Cäsium-137 gemessen.5

IPPNW und IEER errechneten 1992 auf konservativer Grundlage, dass radioaktive Substanzen aus oberirdischen Tests bis zum Ende des 20. Jahrhunderts insgesamt 430.000 tödliche Krebsfälle verursacht haben. Roland Scholz geht in der Studie «Bedrohung des Lebens durch radioaktive Strahlung» sogar von bis zu 3 Millionen Krebstoten aus.6 Intensiven Fallout mit hohen Strahlungswerten hat es zum Beispiel in der früheren Sowjetrepublik Kasachstan gegeben, wo möglicherweise mehr als 40.000 Menschen in Downwind-Gemeinden schwer verstrahlt worden sind. Es ist auffällig, dass alle Atommächte ihre Tests entweder in Kolonien oder auf Gebieten nationaler Minderheiten haben stattfinden lassen.

Lijon Eknilang war acht Jahre alt, als am Morgen des 1. März 1954 die US-amerikanische Wasserstoffbombe "Bravo" auf dem Bikini-Atoll detonierte. Eknilang wurde ein Tumor aus der Schilddrüse entfernt und sie erlitt sieben Fehlgeburten. In ihren Erinnerungen schreibt sie: "Am späten Nachmittag (des Explosionstages) wurde ich sehr krank, ich fühlte mich, als ob ich spucken müsste, und ich hatte starke Kopfschmerzen. Den anderen Leuten auf den Inseln erging es genauso. Am Abend fing unsere Haut an zu brennen, als ob wir den ganzen Tag lang an der prallen Sonne gewesen wären. Am nächsten Tag wurde alles noch schlimmer. Große Brandwunden begannen sich auf unseren Beinen, Armen und Füßen auszubreiten und sie taten sehr weh. Viele von uns verloren ihre Haare."7
Ihr Gehör ist schlecht geworden mit der Zeit, ab und an schwellen ihre Gelenke unnatürlich an, und wenn sie liest, flirren nach wenigen Minuten bereits die Augen. Sie erzählt: "In den frühen 60er Jahren fingen all die Krankheiten an, die wir jetzt durchmachen. Viele Menschen leiden unter Schilddrüsentumoren, Totgeburten, Augenkrankheiten, Leber- und Magenkrebs und Leukämie. (…) Die am häufigsten vorkommenden Missgeburten auf Rongelap und den anderen Atollen der Marshall-Inseln waren die ‚Quallenbabies'. Diese Kinder werden ohne Knochen und mit durchsichtiger Haut geboren. Wir können ihre Gehirne betrachten und ihre Herzen schlagen sehen. Aber sie haben keine Beine, keine Arme, keinen Kopf, nichts. Einige dieser Geschöpfe haben wir acht oder neun Monate lang ausgetragen. Sie leben normalerweise einen oder zwei Tage lang."8

Nachdem in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts der weltweite radioaktive Niederschlag durch die oberirdischen Atomwaffentests der Sowjetunion und der USA so beträchtlich und der Protest dagegen so groß geworden war, wurden die oberirdischen Tests durch eine Konvention von 1963 eingestellt. Seither fanden nur noch unterirdische Tests statt. "Doch damit wurden die Probleme nur auf nachfolgende Generationen verschoben" so IPPNW-Mitglied Lars Pohlmeier, "unterirdische Tests haben riesige atomare Müllhalden geschaffen, von denen niemand weiß, wie lange die radioaktiven Substanzen zurückgehalten werden. Gelangt Plutonium 239 beispielweise über Wasser in den menschlichen Körper, erzeugen bereits wenige Millionstel Gramm nahezu sicher Lungenkrebs. Unterirdische Testgelände sind damit eine atomare Zeitbombe."9

Auch die Endlagerung von Atommüll ist weltweit ein nicht gelöstes Problem. Keines der 26 Länder, die mit Kernenergie arbeiten, hat laut World Watch Institute bisher eine sichere, dauerhafte und politisch akzeptierte Lösung gefunden, den nuklearen Abfall zu beseitigen. "Der Abbau und die Verarbeitung radioaktiver Mineralien führen zu einer schwerwiegenden Veränderung großer Ökosysteme. Die radioaktiven und chemischen Abfallstoffe werden durch Grundwasser, oberirdische Wasserläufe und Windströmungen weiterverbreitet", heißt es in der Salzburger Deklaration des World Uranium Hearings.10

Die Ökobilanz von Atomwaffen erfassen zu wollen, ist schier unmöglich. «Die wirklichen Kosten für die Menschheit werden wohl nie bekannt werden», schreiben die Autoren des Buches «Sicherheit und Überleben, Argumente für eine Nuklearwaffenkonvention», «viele Einzelfälle, in denen Gesundheitsprobleme und Tod wahrscheinlich durch die Strahlung während des Lebenszyklus von Atomwaffen entsteht, sind schwer dieser Ursache zuzuordnen. Radioaktive Partikel gelangen unbemerkt in den Körper und richten heimliche Schäden an; dabei hinterlassen sie keine Visitenkarten. Sie verrichten ihr Zerstörungswerk, bis ihre Energie erschöpft ist - bei einigen radioaktiven Elementen dauert das mehr als hunderttausend Jahre.»11 Eine globale Katastrophe, über die die Mehrzahl der Medien leider schweigt.

Angelika Wilmen

Erläuterungen
1 Medicine and Nuclear War: Preventing Proliferation and Achieving Abolition, Lachlan Forrow, Victor W. Sidel, Jonathan E. Slutzman, September 10,2007
2 Wikipedia, Uranwirtschaft
3 Helen Caldicott: Atomgefahr USA, München 2003, S. 128f.
4 Plutonium, Tödliches Gold des Atomzeitalters, Studie der IPPNW, 2. Auflage 1994, S. 25
5 Wikipedia, Radioaktiver Niederschlag
6 IPPNW-Studie «Bedrohung des Lebens durch radioaktive Strahlung», Roland Scholz, 3. Auflage 1997, S. 73
7 Zitiert aus: dé
Ishtar, Zohl, Pazifik-Netzwerk u.a. (Hrsg) (2000): Lernen aus dem Leid. Frauen der Pazifik-Inseln schildern die Schicksale ihrer Völker. Neuendettelsau
8 ebda.
9 Lars Pohlmeier in der Zeitung "Atomwaffen abschaffen"1998
10 Deklaration von Salzburg, World Uranium Hearing, 13.-18. September 1992
11 Sicherheit und Überleben, Argumente für eine Nuklearwaffenkonvention, hrsg. von IPPNW, IALANA, INESAP, 2000, S. 243f.

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