Aus IPPNW-Forum 101/06

Kein Glasnost in "geschlossenen Städten"

Ein Blick hinter die Fassade

Russische Umweltschützer sind der Auffassung, dass der Kampf für eine ökologische Umwelt und eine demokratische Gesellschaft zusammengehören. Solange zentrale Prozesse der Atomwirtschaft in „Geschlossenen Städten“ abgewickelt werden, habe die Zivilgesellschaft keine Möglichkeit, diese gefährliche Technik einer gesellschaftlichen Kontrolle zu unterwerfen. Der deutschen Atomindustrie scheint eine Zusammenarbeit mit alten aus der Stalinzeit überlieferten Strukturen dagegen nicht viel auszumachen, lässt sich dadurch doch verhindern, dass die Gesellschaften in Deutschland und Russland nachvollziehen können, was mit dem strahlenden Material aus Deutschland geschieht. In dem folgenden Bericht verdeutlicht Bernhard Clasen anhand der aktuellen Vorfälle in zwei „geschlossenen Städten“ in Russland, dass die Profitinteressen der Atomwirtschaft offenbar immer noch Vorrang haben vor dem legitimen Interesse der Menschen, über Umweltgefahren informiert zu werden.

Ein Sonderzug aus Gronau

Am 31. Mai 2006 verließ ein Sonderzug mit 1.000 Tonnen abgereichertem Uranhexafluorid (UF 6) die bundesweit einzige Urananreicherungsanlage, die Urenco Deutschland GmbH in Gronau (Nordrhein-Westfalen). Der Sonderzug aus Gronau im Mai war nicht der erste. Russischen Presseberichten zufolge gingen im ersten Halbjahr 2006 3.000 Tonnen abgereicherten* Uranhexafluorids von Gronau nach Novouralsk*. Immer wieder hatten sich deutsche und niederländische AtomkraftgegnerInnen dem Zug in den Weg gestellt, ihn mit Blockaden zum Stillstand gebracht. Auch russische Umweltschützer protestieren gegen die Atommüllexporte aus Deutschland. Die „Sozial-Ökologische Union“, die „Gesellschaft für Nukleare Sicherheit“ (Cheljabinsk/Ural) und „Ökodefense“ rufen zum aktiven Widerstand auf.

Nachdem im Juni 2006 zum dritten Mal eine 1000 Tonnen große Ladung von radioaktivem Uranhexafluorid aus dem westfälischen Gronau das Ural-Städtchen Novouralsk erreicht hatte, erstattete die russische Umweltgruppe „Ökodefense“ Anzeige. Der strahlende Transport aus Deutschland verstoße gegen russisches Gesetz und stelle eine Gefährdung der russischen Bevölkerung dar. Bei einer Protestaktion vor dem deutschen Konsulat in Ekaterinburg, dem früheren Swerdlowsk, überreichten die Umweltaktivisten dem Vize-Konsul ein Protestschreiben. Von den deutschen Behörden und dem Konzern „Urenco“ fordern die russischen Umweltgruppen die sofortige Einstellung von Atomexporten nach Russland.
In der im westfälischen Gronau angesiedelten „Urenco Deutschland GmbH“, die seit 1995 in einem Vertragsverhältnis mit der russischen Firma „Techsnabexport“ zur Wiederanreicherung von abgereichertem Uran steht, sieht man mögliche Gefahren der Transporte gelassener. „Größere Freisetzungen von Uranhexafluorid“ so die Urenco, „sind nur bei einer Verkettung sehr unwahrscheinlicher Umstände denkbar. Ein derartiger Fall ist in all den Jahren, in denen weltweit jährlich viele tausend Tonnen Uranhexafluorid transportiert worden sind, nicht eingetreten.“.


Brennende Uran-Briketts in Lesnoj

Es sollte als versöhnliche Geste verstanden werden. Nachdem russische Umweltgruppen die Behörden der geschlossenen Stadt Lesnoj* am Ural beschuldigt hatten, einen Brand von Briketts aus Uran-238 am 3. Juli 2006 vertuscht zu haben, ging das russische Atomministerium in die Offensive. Es bestehe kein Grund zur Beunruhigung, die Strahlenbelastung während des Brandes sei nicht höher gewesen als die Strahlung bei Flügen. Die Umweltschützer lud das Ministerium zum Besuch der Stadt am Ural ein, damit man sich so ein Bild von der Lage vor Ort machen könne.
Wladimir Slivjak, Co-Vorsitzender von „Ökodefense“ und Raschid Alimow von der norwegisch-russischen Umweltgruppe „Bellona“ nahmen die Einladung an und reisten noch im Juli nach Lesnoj. Doch aus der versprochenen Offenheit wurde nichts. Zwar konnten die Ökologen u.a. mit dem leitenden Amtsarzt der Atomstadt, Jewgenij Miroschkin, Sicherheitschef Iwan Baranow, und Wiktor Korenew, dem Leiter der Rechtsabteilung, sprechen.
Doch ihre Hoffnungen, mehr über den Brand der Uran-238-Briketts in der Stadt Lesnoj vom 3. Juli zu erfahren, erfüllten sich nicht. Die Gäste sind sauer, von Glasnost sei nichts zu spüren gewesen. Sofort am Kontrollposten am Eingang der geschlossenen Stadt hatten sie ihre Notebooks abgeben müssen. Und die Gespräche mit den Verantwortlichen waren inhaltsleer, kritische Fragen wurden abgeblockt. Fragen zur Informationspolitik während des Brandes, der Strahlenmessungen und Umweltschäden wurden nicht beantwortet. Als die Umweltschützer Bodenproben entnehmen wollten, wurden sie daran gehindert. „Wir durften nicht einmal einen Blick auf das Areal werfen, auf dem am 3. Juli die Uranbriketts brannten“, schimpfen die beiden Umweltschützer.

Informationen über den Brand vom 3. Juli gibt es nur spärlich. Nach Angaben von „Bellona“ seien 13 Briketts aus Uran-238 nach einer Selbstentzündung in Brand geraten. Deren Gesamtgewicht liege zwischen 200 und 400 Kilogramm. Erst eine Woche nach dem Brand hatte die russische Sektion von Greenpeace von dem Brand erfahren. Ein Bewohner von Lesnoj hatte Greenpeace informiert. Als Folge des Brandes, so Greenpeace, klagten Bewohner der umliegenden Ortschaften Nischnjaja Tura, Lesnoj, Katschkanar über gesundheitliche Probleme, wie Bluthochdruck, Schwächeerscheinungen etc.

Die Internetzeitung „Ura“ spricht von mehreren Verletzten, die im Krankenhaus behandelt würden. Die Bevölkerung der Stadt sei in Panik geraten. Unterdessen wiegelten die Behörden der Atomstadt ab. Zu keinem Zeitpunkt habe eine ernstliche Gesundheitsbedrohung der Bevölkerung bestanden.
Doch in der Umweltbewegung will man diesen Beschwichtigungen nicht glauben. Zu groß ist das Mißtrauen gegenüber den Produktionsstätten der Atomwirtschaft in den geschlossenen Städten. Da der Zugang in die Atomstädte auch russischen Bürgern nur in Ausnahmefällen erlaubt sei, ließe sich in geschlossenen Städten keine echte Recherche betreiben. Besonders gefährlich, so Sergej Paschtschenko von „Bellona“, seien die bei Uran-Bränden entstehenden Staubteilchen, die in der Lunge zu gesundheitlichen Schäden führen könnten.

*Novouralsk befindet sich in der Nähe der Uralmetropole Ekaterinburg (früher Swerdlowsk) und zählt 100.000 Einwohner. Novouralsk ist eine „geschlossene Stadt“.
*Die geschlossene Stadt Lesnoj ist 180 km von Novouralsk entfernt.


Quellen:
1. Die russische Umweltorganisation „Ökodefense“ zu den Atomtransporten von Gronau nach Nowouralsk. Presseerklärung vom 8. Juni 2006.
„Ökologen fordern von der deutschen Regierung einen Stop der Mobilen Tschernobyls“
www.ecodefense.ru/view.php (in russischer Sprache)

2. Junge Welt, 30.5.2006, Seite 4, Atomgegner wollen gegen Urantransport von Gronau nach Rußland demonstrieren

3. Die norwegisch-russische Umweltorganisation „Bellona“ über den Brand von Uran-Briketts in der geschlossenen Stadt Lesnoj. Informationen in englischer Sprache:
bellona.org/articles/1155289536.13

4. Greenpeace-Russland über den Brand in der geschlossenen Stadt Lesnoj am 3. Juli 2006
www.greenpeace.org/russia/ru/news/525814 (Informationen in russischer Sprache)

5. Die Russische Informationsagentur „URA“ zum Brand der Uran-Briketts in der geschlossenen Stadt Lesnoj (Information in russischer Sprache)
www.ura.ru/content/svrd/11-07-2006/articles/711.html


Bernhard Clasen

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Ansprechpartner


Patrick Schukalla
Referent Atomausstieg, Energiewende und Klima
Email: schukalla[at]ippnw.de

Materialien

Titelfoto: Stephi Rosen
IPPNW-Forum 174
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