Schweiz schwächt den Strahlenschutz ab

06.05.2019 Um die Atomkraftwerke länger laufen zu lassen, wurden in der Schweiz nun die Sicherheitsbestimmungen gelockert. Das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (ENSI) setzte durch, dass Vorschriften zur Außerbetriebnahme von Atomkraftwerken bei Sicherheitsmängeln weitestgehend abgeschafft wurden. Für diesen riskanten Schritt dürfte vor allem ein altes AKW ausschlaggebend gewesen sein.

Um einer gerichtlichen Schließung des ältesten, noch in Betrieb befindlichen AKWs der Welt in Beznau zuvorzukommen, genehmigte die Schweizer Landesregierung im Februar 2019  die vom ENSI angestrebten Änderungen ohne Rücksicht auf Proteste von Fachleuten und der Kantone. Das bedeutet: die AKWs in der Schweiz sollen so lange in Betrieb bleiben, bis sie den Geist aufgeben. Rudolf Rechsteiner, der Vize-Präsident des Trinationalen Atomschutzverband TRAS, der seit 2015 juristisch gegen Beznau vorgeht, formuliert die  neue Atomstrategie der Schweiz wie folgt: „Laufenlassen bis zum Unfall“.  Dabei weiß man, dass gerade die letzte Phase eines Atomkraftwerks die riskanteste ist, da notwendige Nachrüstungen nicht mehr durchgeführt werden, veraltete Technik Probleme bereitet und Materialschäden zu Unfällen führen können.

Immense Risiken werden somit hingenommen:

  • Zum einem lässt das neue Rechtskonstrukt zu, dass Ereignisse mit einer Häufigkeit von 1:10, also Ereignisse, die durchschnittlich alle 10 Jahre wiederkehren, zu einer Verstrahlung der Bevölkerung von 100 mSv und mehr führen dürfen

  • Zum anderen ist in erster Linie nicht mehr das Risiko für die Bevölkerung entscheidend, sondern die Ursache der Freisetzung. So wäre beispielsweise ein Defekt in einem Brennelementbecken mit entsprechender Freisetzung von radioaktiven Stoffen kein Grund mehr, das AKW außer Betrieb zu nehmen

Abbildung 1, aus: Pestalozzi, M., TRAS Mitgliederversammlung, Basel 2018., Folie 24.

 

Das AKW Beznau befindet sich auf dem Oberrheingraben, einer erdbebengefährdeten Region. Nirgends ist die Erdbebenwahrscheinlichkeit nördlich der Alpen so hoch wie im Oberrheingraben. Dies wurde beim Bau der AKWs nicht berücksichtigt.

Um die Folgen zu verharmlosen, schreckt das Bundesamt für Energie (BFE) auch vor medizinischen Falschbehauptung nicht zurück: In seinem «Faktenblatt» vom 7. Dezember 2018 (https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/55026.pdf) rechtfertigte es die neuen Grenzwerte mit dem Satz:

„Statistische Auswertungen bei größeren Bevölkerungsgruppen zeigen, dass bei Strahlendosen unterhalb von 100mSv keine Gesundheitseffekte nachweisbar sind. Sie können aber auch nicht ausgeschlossen werden.“

Eine Fülle von wissenschaftlicher Literatur der letzten 20 Jahre zeigt jedoch gerade in dem Bereich von 100 mSV statistisch nachweisbare gesundheitliche Effekte - nicht nur bei medizinischer (CT-Studien aus Großbritannien und Australien) und beruflicher Strahlenexposition (INWORKS Studie), sondern auch bei Hintergrundstrahlung (Schweizer Hintergrundstrahlungsstudie von Spycher), um nur einige Beispiele zu nennen.

Im Faktenblatt steht weiter: „Für die restliche Bevölkerung kann davon ausgegangen werden, dass die Dosiswerte beim angenommenen, sehr seltenen Ereignis bereits in einem Abstand von wenigen Kilometern vom Kernkraftwerk nur noch im Bereich der durchschnittlichen Strahlenbelastung aus natürlichen Quellen liegen würde.“ Diesen Satz mag man angesichts der Erkenntnisse aus Kraftwerksunfällen in Three Mile Island, Tschernobyl und Fukushima nicht so recht glauben, demonstriert er doch die ungeheure Naivität mit der sich der Thematik genähert wird.

Das einzige Kriterium zur gesetzlichen Außerbetriebnahme eines AKWs in der Schweiz sind nach der neuen Regelung Ausfälle in der Gewährleistung der Kernkühlung. Alle anderen Störfälle oder anders geartete Freisetzung von Radioaktivität werden künftig außer Acht gelassen.

Nach einem nuklearen Unfall soll also die Bevölkerung schon ab einer Dosis von 1 mSv mit Maßnahmen wie Freiheitsbeschränkungen geschützt werden. Gleichzeitig würde das AKW bei einem Störfall, der nicht auf die Kernkühlbarkeit zurückzuführen ist auch bei 100mSv  nicht abgeschaltet werden. Im Extremfall bedeutet dies: Die Bevölkerung muss im Haus bleiben, während die AKWs weiterlaufen. „Die neue Verordnung missachtet die Grundsätze des Strahlenschutzes (Rechtfertigung, Dosisbegrenzung, Optimierung) und des Vorsorgeprinzips. Bei einem nicht einmal seltenen Störfall wären die Konsequenzen dramatisch,“ warnt Andre Herrmann, Präsident der eidgenössischen Strahlenschutzkommission von 2005-2012.

„Damit aber nicht genug. Der Schutz vor der Langzeitwirkung der Radioaktivität wird durch perfide Messmethoden des ENSI bei der Bemessung der gesetzlich zulässigen Dosis weiter ausgehöhlt. Die ENSI-Richtlinie G-14 misst bei Unfall nur die erwartete Strahlung der ersten 12 Monate, als ob Isotope wie Cäsium und Strontium mit Halbwertszeiten von 30 Jahren nach einem Jahr aufhörten, gesundheitsschädigend zu wirken“, so Rechsteiner.

 

Dr. med. Claudia Richthammer

 

Quellen:

 

 

 

 

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E-Mail: schukalla[AT]ippnw.de

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