12.07.2017 Am 5. Juni veröffentlichte die Fukushima Medical University (FMU) die neuesten Zahlen ihrer laufenden Schilddrüsenuntersuchungen. Seit 2011 werden bei Menschen in der Präfektur Fukushima, die zum Zeitpunkt der Kernschmelzen unter 18 Jahre alt waren, alle zwei Jahre die Schilddrüsen untersucht. Ursprünglich begonnen, um die Sorgen der Bevölkerung über gesundheitliche Folgen der Atomkatastrophe zu zerstreuen, haben die Untersuchungen mittlerweile besorgniserregende Ergebnisse zu Tage gefördert. Auch in der aktuellen Veröffentlichung muss wieder eine unerwartet hohe Anzahl neuer Schilddrüsenkrebsfälle bei Kindern verzeichnet werden. Diesmal waren es sechs neue Fälle, die seit der letzten Veröffentlichung im Dezember 2016 gefunden wurden.
152 bestätigte Krebsfälle, 38 Kinder warten noch auf OP
Laut Datenbank des Japanischen Krebsregisters betrug die Neuerkrankungsrate (Inzidenz) von kindlichem Schilddrüsenkrebs vor der Atomkatastrophe rund 0,35 pro 100.000 Kinder pro Jahr. Bei einer pädiatrischen Bevölkerung von rund 360.000 wären in der Präfektur Fukushima somit ca. eine einzige Neuerkrankung pro Jahr zu erwarten gewesen. Tatsächlich sind seit den multiplen Kernschmelzen im Atomkraftwerk Fukushima Dai-ichi mittlerweile bei 191 Kindern in der Feinnadelbiopsie Krebszellen gefunden worden. 153 von ihnen mussten aufgrund eines rasanten Tumorwachstums, einer ausgeprägten Metastasierung oder einer Gefährdung vitaler Organe mittlerweile operiert werden. In 152 Fällen bestätigte sich die feingewebliche Verdachtsdiagnose „Schilddrüsenkrebs“, in nur einem Fall lag ein gutartiger Tumor vor. 38 Kinder warten weiterhin auf eine Operation.
Anzahl der Neuerkrankungen deutlich erhöht
Besorgniserregend ist bei der Publikation der neuen Daten vor allem die Zahl der Krebsfälle, die bei Kindern gefunden wurden, die vor zwei Jahren noch keine Auffälligkeiten hatten. In der zweiten Untersuchungsrunde wurden beispielsweise 49 Krebsfälle bestätigt – allesamt bei Kindern, die bei der Untersuchung zwei Jahre zuvor noch keine krebsverdächtigen Strukturen in der Schilddrüse hatten. 49 Neuerkrankungen in 2 Jahren entspricht 24,5 Fällen im Jahr. Bei einer bislang untersuchten Bevölkerung von 270.497 Kindern (71% der geplanten Anzahl von Untersuchungen) sehen wir während des Zeitraums von April 2014 und März 2016 somit eine Neuerkrankungsrate von rund 9 Fällen pro 100.000 Kinder pro Jahr. Noch stehen rund 30% aller Ergebnisse aus der Zweituntersuchung aus, aber sollte sich dieser Trend bestätigen (und danach sieht es der Tendenz des letzten Jahres aus), würde dies einem rund 26-fachen Anstieg der Neuerkrankungsrate entsprechen. Dieses Ergebnis ist höchst signifikant und lässt sich aufgrund der eindeutigen Voruntersuchungen aller Patienten auch nicht durch einen Screening-Effekt erklären oder relativieren.
Erste Daten aus der dritten Untersuchungsrunde veröffentlicht
Auch die ersten Daten der dritten Untersuchungsrunde wurden im Juni veröffentlicht. Bei den mittlerweile 105.966 untersuchten Kindern (31,5% der geplanten Anzahl von Untersuchungen) wurde bei 65,2% Knoten oder Zysten in der Schilddrüse gefunden. Bei der Zweituntersuchung zwei Jahre zuvor lag diese Quote noch bei 59,8%, bei der Erstuntersuchung sogar nur bei 48,5%. Dies entspricht einer durchschnittlichen Zunahme der Anzahl von Knoten oder Zysten im Ultraschall von ca. 2,7% pro Jahr, wobei ein Teil der Daten der zweiten und ein Großteil der Daten der dritten Untersuchungsrunde noch ausstehen. Allgemein kann jedoch festgestellt werden, dass die relative Zahl der Kinder mit auffälligen Schilddrüsenbefunden in der Präfektur Fukushima in den vergangenen sechs Jahren kontinuierlich gestiegen ist. Auch kamen in der dritten Untersuchungsrunde vier neue Verdachtsfälle hinzu, von denen sich zwei mittlerweile durch Operationen sichern ließen.
Untersuchungen werden unterminiert
Insgesamt ist festzuhalten, dass die Daten der Schilddrüsenuntersuchungen der FMU zunehmend komplexer werden. Dies ist zum Teil des Aufbaus der Untersuchungen geschuldet: zeitlich überlappende Untersuchungsrunden, die vorsehen, jedes Kind alle zwei Jahre zu untersuchen, bei denen jede Runde sich allerdings über zwei bis drei Jahre zieht und nach Regionen gestaffelt durchgeführt wird. Ein weiterer Faktor sind jedoch die offenkundigen Bestrebungen der Atomwirtschaft und der FMU, die Studie und ihre Aussagekraft zu unterminieren. So sollen die Untersuchungsintervalle entgegen ursprünglicher Pläne und Ankündigungen ab dem 25. Lebensjahr von 2 auf 5 Jahre ausgeweitet werden. Wichtige Informationen zu den operierten Fällen, die der statistischen Aufarbeitung und der Ursachenforschung dienlich wären, werden weiterhin nicht veröffentlicht. So wird es immer schwieriger, aus den publizierten Zahlen epidemiologische Schlüsse zu ziehen.
Hinzu kommt, dass die Teilnahmeraten an den Untersuchungen abnehmen. Gründe könnten sein, dass Mitarbeiter der FMU an Schulen gehen und dort Kinder über deren „Recht zur Nichtteilnahme“ und dem „Recht zum Nichtwissen“ „aufklären“ oder dass ab dem Erreichen des 18. Lebensjahres die Kosten der Untersuchungen nicht mehr vollständig erstattet, sondern von den Patienten und deren Familien selbst erbracht werden müssen (wir berichteten). Dies führt zu einer systemischen Verzerrung der Testergebnisse, die langfristig die gesamte Studie entwerten könnte – eine Konsequenz, die der, um ihr Überleben kämpfenden, japanischen Atomindustrie nicht gerade unlieb sein dürfte.
Der Fall des verschwiegenen Krebsfalls
Schon jetzt übt die Internationale Atomenergieorganisation IAEO direkten Einfluss auf die Durchführung der Studie an der FMU aus. Diese Entwicklung dürfte sich in der Zukunft noch verstärken. Ein besonders gravierender Fall der Datenmanipulation wurde Anfang des Jahres bekannt, als die Familie eines an Schilddrüsenkrebs erkrankten Kindes aus der Präfektur Fukushima an die Öffentlichkeit ging und monierte, dass der Fall ihres Kindes in den offiziellen Daten der FMU nicht auftauchte. Die Studienleitung argumentierte, dass die Diagnose des Kindes nicht durch sie gestellt worden war, sondern durch eine kooperierende Klinik, an die der Junge zur weiteren Diagnostik und Therapie überwiesen wurde. Dass der Junge zum Zeitpunkt der Kernschmelzen in Fukushima gelebt hatte, in die Reihenuntersuchung der FMU aufgenommen war und aufgrund einer neu diagnostizierten Schilddrüsenkrebserkrankung operiert werden musste, wurde von den Datensammlern offenbar nicht für relevant gehalten. Wie viele weitere Fälle von Schilddrüsenkrebs bei Kindern ebenfalls nicht berichtet wurden, wie viele Fälle außerhalb der Grenzen der Präfektur auftraten oder bei Menschen, die zum Zeitpunkt der Kernschmelzen bereits über 18 Jahre alt waren, all dass wird wissenschaftlich nicht untersucht und damit vermutlich nie bekannt werden.
Das Recht auf Gesundheit
Es bleibt festzustellen, dass wir in Fukushima einen signifikanten Anstieg der Neuerkrankungsraten von Schilddrüsenkrebs bei Kindern sehen und dass diese Zahlen zugleich eine systematische Unterschätzung darstellen dürften. Zudem wird auch von einem Anstieg weiterer Krebsarten und anderer Erkrankungen gerechnet, die durch ionisierte Strahlung ausgelöst oder negativ beeinflusst werden. Die Schilddrüsenscreenings der FMU stellen die einzigen wissenschaftlich halbwegs soliden Untersuchungen dar, die Aufschlüsse über die gesundheitlichen Folgen der Atomkatastrophe von Fukushima liefern können. Und sie laufen derzeit Gefahr, von den Befürwortern der Atomenergie unterlaufen zu werden.
Die Menschen in Japan haben ein Recht auf Gesundheit und ein Recht auf Information. Die Untersuchungen kindlicher Schilddrüsen kommt somit nicht nur den Patienten selber zu Gute, deren Krebserkrankungen frühzeitig detektiert und behandelt werden können, sondern der gesamten Bevölkerung, die durch die freigesetzte Strahlung beeinträchtigt wird. Die korrekte Fortführung und wissenschaftliche Begleitung der Schilddrüsenuntersuchungen liegen somit im öffentlichen Interesse und dürfen nicht durch politische oder wirtschaftliche Beweggründe konterkariert werden.
Dr. med. Alex Rosen
Vorsitzender der IPPNW
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