Es ist mir persönlich ein Herzensanliegen und als Geschäftsführerin des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte Freude und Genugtuung, heute anlässlich der Verleihung des Medical Peace Work Awards die Laudatio für Dr. Giorgos Vichas halten zu dürfen.
Friedenspreise werden verliehen, weil Krieg herrscht. Wahrscheinlich denken wir alle hier im Raum bei dem Wort Krieg an die schrecklichen Bilder aus Syrien. Bilder, die so übermächtig sind, dass sie andere Probleme in den Hintergrund treten lassen.
Wir wollen heute Abend aber nicht über den Krieg Syrien sprechen, sondern über strukturelle Gewalt in Europa. Giorgos Vichas arbeitet nämlich nicht in Homs, in Damaskus oder Aleppo. Er arbeitet in Athen, im Herzen Europas. Dort, wohin viele Menschen aus dem Krieg in Syrien hin geflohen sind oder besser gesagt: wo viele Menschen aus Syrien im Moment gestrandet sind, weil die EU ihnen auf ihrer Suche nach Zuflucht hier eine Grenze gesetzt hat. Sie erfahren in Griechenland, wo sie eigentlich nicht bleiben wollten, nicht nur Schutz vor einem barbarischen Krieg, sondern auch eine Welle von praktischer Solidarität. Solidarität von einer Bevölkerung, die seit mehreren Jahren selbst durch die schlimmste Krise seit dem zweiten Weltkrieg geht.
Von Krieg ist seit Ausbruch, nein man muss sagen: seit der politisch bewusst herbeigeführten Zuspitzung der Krise auch in Griechenland öfters die Rede. Gesundheitswissenschaftler rechnen vor, dass das Ausmaß der Zerstörung im griechischen Gesundheitssystem zwischen den Jahren 2010 und 2015 so sonst nur aus Kriegszeiten bekannt ist.
Aber auch viele Menschen in Griechenland benutzen das Wort Krieg, sie sagen, sie fühlten sich „wie im Krieg“ oder zumindest wie kurz nach einem Krieg.
Giorgos Vichas ist einer der Gründer der Metropolitan Community Clinic, der Solidarischen Praxis in Elliniko/Athen. In dem sehenswerten Dokumentarfilm „Macht ohne Kontrolle“ über die Machenschaften der Troika spricht Giorgos davon, dass in ganz Griechenland hunderte von Menschen sterben – jeden Monat. Hunderte jeden Monat mitten in Europa. Weil sie medizinisch nicht versorgt werden oder weil sie sich eine Versorgung nicht leisten können.
Warum werden sie nicht mehr versorgt? Weil die „Spardiktate“ der Troika, allen voran die deutsche Bundeskanzlerin und der deutsche Finanzminister, verlangten, dass das Budget für Gesundheit von ca. 10 auf 6% des BIP, inzwischen noch weniger gedrückt wurde. Weil sie verlangten, dass Krankenhäuser und Ambulatorien geschlossen und Ärzte und Pflegepersonal im großen Maß entlassen wurden, weil sie verlangten, dass Menschen, die arbeitslos geworden sind, nach einem Jahr aus der Sozialversicherung ausgeschlossen werden und dadurch keinen Zugang mehr zum öffentlichen Gesundheitswesen haben. Einer der griechischen Gesundheitsminister, die diese Politik – damals noch willig – umgesetzt haben, hat das so formuliert - ich zitiere: „Wir machen Gesundheitspolitik nicht mit dem Skalpell, sondern mit dem Schlachtermesser…“
Die Folgen wurden von den damaligen griechischen Regierungen wie von der deutschen Regierung und großen Teilen der deutschen Öffentlichkeit – nicht von uns hier im Saal - als „Kollateralschaden“ des „Sachzwangs“ der Sparpolitik billigend in Kauf genommen.
Die Folgen dieser strukturellen Gewalt müssen Menschen ertragen. Menschen, die eine Wahl treffen müssen zwischen dem Kauf von Medikamenten oder Lebensmitteln, Menschen, die ohne Strom und Heizung leben müssen, im Winter 2013/14 waren das 44% der Haushalte in Athen; Menschen, die sterben, weil sie sich z.B. die Zuzahlungen für Insulin nicht leisten können…
Niemand - auch darauf verweist Giorgos Vichas in dem Film - zählt diese Toten, niemand führt eine Statistik. Aber die Ärzte in Griechenland wissen es. Und wir hier in Deutschland wissen es auch. Niemand wird später einmal sagen können: „Davon haben wir nichts gewusst.“
Denn es gibt Menschen, wie Giorgos Vichas, die sich in eine passive Opferrolle nicht abdrängen lassen, sondern sich praktisch um die Ausgestoßenen kümmern und darüber auch sprechen. Giorgos gründete im Dezember 2011 zusammen mit vier anderen Kollegen die Solidarische Praxis von Elliniko auf dem Gelände des alten Flughafens von Athen.
Solidarisch ist die Praxis deshalb, weil sie alle Menschen unentgeltlich versorgt, unabhängig von ihrer Sozialversicherung, ihrem Pass, ihrem Status, ihrer Hautfarbe. Solidarisch ist sie aber auch, weil die MitarbeiterInnen ausnahmslos ohne Geld und ohne Hierarchie arbeiten und weil sie wichtige Entscheidungen im Kollektiv treffen. Zu diesem Kollektiv gehören inzwischen 220 Freiwillige; 90 davon sind Ärzte, Pharmakologen, Psychologen, Zahnärzte, Pflegekräfte und auch Laien, die die Verwaltung machen, putzen oder all die gespendeten Medikamente sortieren und beschriften. Die Geräte und Medikamente sind Spenden aus dem In- und Ausland. Die Praxis in Elliniko wie auch die anderen solidarischen Praxen in Griechenland arbeitet nach wie vor illegal. Sie haben keinen Vertrag mit irgendeiner Versicherung und sind von keiner Behörde genehmigt. Das ändert nichts an der Qualität der Versorgung von mehr als 100 PatientInnen am Tag; es wird psychologische Beratung und z.B. auch Babynahrung angeboten, denn seit der Krise gibt es wieder unterernährte Babys in Griechenland, und wahrscheinlich auch unterernährte Mütter.
Das Kollektiv in Ellinko hat sich drei Regeln gegeben:
1) Kein Geld, weder als Bezahlung noch als Spende;
2) keine Beziehungen zu und keine Zusammenarbeit mit politischen Parteien in der Praxis;
3) keine Person oder Institution darf Werbung damit machen, für die Praxis etwas gespendet zu haben.
Wenn wir heute Giorgos Vichas den Medical Peace Work Award verleihen, zollen wir damit nicht nur seinem humanitären Engagement unseren größten Respekt, sondern auch der bewundernswerten Widerständigkeit gegen die Austeritätspolitik und dem Festhalten an der Idee einer frei zugänglichen also öffentlichen guten medizinischen Versorgung aller Menschen im Land. Wir singen hier nicht ein Hohelied auf Barmherzigkeit und Barfußmedizin, sondern das auf Solidarität als Akt des Widerstands.
Und wenn wir heute Giorgos Vichas diesen Preis verleihen, dann wird er diesen – ich weiß, er wird mir hier zustimmen – auch stellvertretend annehmen für seine KollegInnen in Elliniko und in all den anderen Praxen, die nun schon seit Jahren im Einsatz sind und deren Arbeit noch lange lange gebraucht werden wird.
Allerdings - Linke neigen bei solcher Gelegenheit ja zu Abstraktionen - möchte ich hier nicht ablenken vom Individuum Giorgos Vichas. Denn es sind alles einzelne Menschen, die diese Anstrengungen auf sich nehmen, die ihr Leben und das ihrer Lieben organisieren müssen, die die Kraft aufbringen müssen, seit Jahren das alles zu schaffen.
Wie sehen die Arbeitstage von Aktivisten in der solidarischen Bewegung in Griechenland, wie die von Giorgos aus? Da ist zum einen die Lohnarbeit in einem öffentlichen Krankenhaus in Athen, in dem es ständig Personalmangel und Mangel an diversen medizinischen Mitteln gibt, in einem Krankenhaus, das überfüllt ist, weil andere Häuser geschlossen haben, in einer Arbeitswelt, in der keine Arbeitszeitgesetze mehr gelten und in der man nicht einmal weiß, ob man am Ende des Monats bezahlt wird. Nach einem solchen Arbeitstag oder an den freien Tagen kommt dann die Tätigkeit in der solidarischen Praxis dazu. Diese besteht nicht nur aus medizinischer Versorgung, sondern auch in der Diskussion im Kollektiv. Das ist auch in Griechenland oft nicht einfach.
Aber auch das ist nicht alles, denn Giorgos und seine KollegInnen kümmern sich auch darum, dass der medizinisch versorgte krebskranke alte Mann wieder Strom und Heizung bekommt, ja bisweilen sogar darum, dass er etwas zu essen haben wird. Hier bekommt der Begriff Sozialmedizin praktische Bedeutung.
Und auch damit noch nicht genug, denn die Politik ändert sich nicht, wenn sich auf der Straße nichts tut, wenn es keine soziale Bewegung gibt. Das ist auch in Zeiten einer SYRIZA-Regierung so. Also braucht es von Zeit zu Zeit Demonstrationen, öffentliche Veranstaltungen, Aktionen, politische Interventionen unterschiedlichster Art.
Als ob das noch nicht genug sei, kommen nun auch noch die zehntausende Geflüchteten dazu, mit denen der aktuelle Staat überfordert ist und deren nicht nur medizinische Versorgung wiederum vom ehrenamtlichen Engagement der Griechinnen und Griechen abhängt.
Jedes Mal, wenn ich in Griechenland die Freunde und Genossinnen besuche, ist es mir erneut ein Rätsel, wie sie das über so lange Zeit hinweg durchhalten können. Auch dieser praktischen und ganz handfesten Seite der Solidarität zollen wir mit dieser Preisverleihung unseren Respekt. Solidarität und Friedensarbeit ist harte Arbeit, darüber müssen auch wir uns hierzulande wieder klar werden. Wir können von Giorgos Vichas und seinen KollegInnen viel lernen.
Und deshalb möchte ich zum Schluss betonen, dass wir uns nach dieser Preisverleihung nicht zurücklehnen mögen, weil wir unser Schärflein nun beigetragen haben. Dass die Austeritätspolitik in Griechenland so durchgesetzt werden konnte und dass allen voran der deutsche Finanzminister immer noch mehr Einsparungen von den Griechinnen und Griechen fordert, liegt auch daran, dass wir es nicht geschafft haben, ihn und seine Kollegen daran zu hindern. Es liegt daran, dass unser Widerstand bislang noch zu schwach ist. Mehr als mit einem Preis wäre Giorgos Vichas, seinen KollegInnen und seinen PatientInnen damit gedient, wenn wir auch mit unserem Engagement Europa in die Lage versetzen könnten, diese unmenschliche Politik zu stoppen und zu verändern. Das ist der Auftrag, der Händedruck, den uns die KollegInnen und Kollegen in Griechenland am heutigen Abend mit auf den Weg geben.
Vielen Dank.
Dr. Nadja Rakowitz ist Geschäftsführerin des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte (vdää) e.V.
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