Als Ärzt*innen in sozialer Verantwortung (IPPNW) blicken wir mit großer Sorge und Empörung auf den Überbietungswettbewerb in immer radikaleren, teil rechtswidrigen Vorschlägen zur Abwehr, Abschiebung und Entrechtung von schutzsuchenden Menschen. Nach den Wahlsiegen der AfD in Brandenburg, Thüringen und Sachsen und dem schrecklichen Attentat in Solingen bleibt offensive Verteidigung der Migrationsgesellschaft seitens der demokratischen Parteien aus. Die erste Abschiebung nach Afghanistan seit der Machtübernahme der Taliban in 2021 ist Ausdruck einer gefährlicheren Normalisierung des sich verschärfenden Rechtsrucks.
Populistische Versprechen wie etwa die Ankündigung von Bundeskanzler Olaf Scholz, Menschen endlich im großen Stil abzuschieben, haben schon länger Konjunktur. Sie wecken dabei falsche Erwartungen. Denn in einem liberalen Rechtsstaat sind Massenausweisungen zum Glück schlicht nicht umsetzbar. Nach Solingen Abschiebungen, Obergrenze, Zurückweisungen an Grenzen oder Leistungskürzungen als wirksame Maßnahme gegen Islamismus und Gewaltprävention darzustellen, ist so absurd wie kalkuliert. Denn wenn die Migration für alle Probleme herhalten muss, dann muss man sich mit den wirklichen Problemursachen und Lösungsansätze nicht so sehr beschäftigen. Was diese Politik und öffentlichen Debatten stattdessen befeuern, sind rassistische Feindbilder und Spaltungen der Gesellschaft.
Was können wir dabei tun? Das Asylrecht, aus der Erinnerung an die Folgen von Vertreibung und Flucht während des Nationalsozialismus als ein grundlegendes Menschenrecht in unser Grundgesetz aufgenommen und völkerrechtlich und europarechtlich verankert, wird zunehmend ausgehöhlt. Die Angst vor den Populisten dieser Republik lässt Politiker*innen auf breiter Ebene einknicken und die Grundkonzeption einer „Humanitas“ in den Hintergrund treten. Was uns bleibt, ist das Festhalten, das Hinweisen und das Eintreten für Geflüchtete und Migrant*innen.
Die Gewährung von Asyl und die Unterstützung von Menschen, die wegen Krieg, Gewalt, Verfolgung oder existentieller Not ihre Familien und ihre Heimat verlassen müssen, um sich auf lebensgefährlichen Pfaden nach Europa zu begeben, darf nicht auf den populistischen Schauplätzen der mehrheitsinteressierten Politiker*innen unserer Tage geopfert werden. Gerade im Angesicht der derzeitigen gesellschaftlichen Debatten, in denen „Rückführung“, Abschiebehaftanstalten, eine Beschneidung der Rechte von Schutzsuchenden gewissermaßen zum guten Ton gehören, müssen wir als ärztliche Organisation auf die Rechte Geflüchteter und humanitären Standpunkten beharren und sei es nur, um eine Gegenposition im derzeitig vorherrschenden gesellschaftlichen Diskurs aufrecht zu erhalten. Damit setzen wir uns nicht nur für die Rechte schutzsuchender Menschen ein, sondern für die Wahrung von Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatsgebot und Menschenwürde allgemein, und damit für uns alle. Lassen wir uns nicht spalten in „Wir und die Anderen“. Seien wir realistisch, verteidigen wir die Migrationsgesellschaft – mit allen ihren Herausforderungen und Bereicherungen!
Fluchtursachen bekämpfen statt Geflüchtete
Meist sind es Krieg und Gewalt, die Menschen dazu zwingen, ihre Heimat zu verlassen. Im Jahr 2024 stammen die meisten Geflüchteten aus Syrien, Afghanistan und der Türkei. In Syrien sind nach dem Bürgerkrieg und der anhaltenden politischen instabilen Situation derzeit fast drei Viertel der syrischen Bevölkerung auf humanitäre Hilfe angewiesen. Aufgrund des Krieges ist ein Großteil der Infrastruktur zerstört, die Grundversorgung ist oft nicht gewährleistet und die Wirtschaft befindet sich in einer schweren Krise. Über 90 Prozent der syrischen Bevölkerung leben in Armut. Die desolate Lage ist neben den Folgen des Krieges seit 2011 aber auch eine Folge der Sanktionen der Europäischen Union und der USA. Auch die humanitäre Situation in Afghanistan ist prekär. Zwei Drittel der afghanischen Bevölkerung sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Auch hier führen die übermäßige Einhaltung und Missverständnisse über den Umfang internationaler Sanktionen zu schwerwiegenden Hindernissen für den Import von Hilfsgütern. Im Windschatten des Ukrainekrieges führt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan völkerrechtswidrige Militäreinsätze in den kurdischen Gebieten in Syrien und Im Irak. In Deutschland lag im vergangenen Jahr die Zahl von Schutzsuchenden aus der Türkei auf Platz zwei. Davon war der überwiegende Teil kurdisch. Ursächlich dafür sind nicht nur Wirtschaftskrise und Erdbebenfolgen, sondern auch politische Verfolgung und willkürliche Verhaftungen.
Die IPPNW fordert die Fluchtursachen zu bekämpfen und nicht geflüchtete Menschen. Es braucht Strategien zur Krisen- und Konfliktprävention, eine gerechte Finanz-, Wirtschafts- und Umweltpolitik sowie ein Verbot des Waffenexports in Krisen- und Kriegsgebiete. Wer Mittel für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe kürzt, schafft die Krisen von morgen. Stattdessen brauchen wir eine verstärkte globale Zusammenarbeit, um eine gerechtere, friedlichere und nachhaltigere Welt für alle zu schaffen.
Dr. Carlotta Conrad und Dr. Robin Maitra
Mitglieder im Vorstand der Deutschen Sektion der IPPNW
zurück