Clara-Immerwahr-Auszeichnung der IPPNW 2007 an Osman Murat Ülke türkischer Kriegsdienstverweigerer und Menschenrechtler
Am 1. September 1995 sorgt in der westtürkischen Großstadt Izmir eine Pressekonferenz für Aufsehen. Ein 24jähriger Mann mit Vollbart, Brille und langen schwarzen Haaren, spricht zu den Journalisten und zeigt seinen Einberufungsbescheid vom Militär. Dann zieht er ein Feuerzeug aus der Jeanstasche und zündet das Papier an. Von diesem Moment an ist Osman Murat Ülke einer der ersten Kriegsdienstverweigerer in der Geschichte der Türkei. Sein Gang an die Öffentlichkeit ist seit drei Jahren vorbereitet, hinter ihm steht der Verein der Izmirer KriegsgegnerInnen (ISKD). Gemeinsam fordern sie den türkischen Militarismus heraus.
Seit der Staatsgründung begreift sich das Militär in der Türkei als Hüter des Landes. Im Nationalen Sicherheitsrat war das Militär bis 2003 die entscheidende Macht und lenkte die Innen- und Außenpolitik, bis das Parlament im Rahmen der EU-Beitrittsbemühungen seine politische Macht zumindest formal begrenzte. Innerhalb der Nato stellt die Türkei die zweitgrößte Armee nach den USA. Jeder Mann ab dem 20. Lebensjahr ist so lange wehrpflichtig, bis er einen acht- bis 15-monatigen Grundwehrdienst abgeleistet hat. Es gibt kein Recht auf Verweigerung und auch keinen zivilen Alternativdienst wie in Deutschland. Mit seiner öffentlichen Verweigerung betritt Ülke politisches Niemandsland.
Wir wollten den allgegenwärtigen Militarismus mit gewaltfreien Methoden des zivilen Ungehorsams in Frage stellen, sagt Ülke rückblickend. Wer mit ihm telefoniert, ist sofort beim Du. Ossi, so nennen ihn Freunde und Bekannte, spricht akzentfreies Deutsch mit einer sanften Stimme. Ab und zu hört man seinen kleinen Sohn im Hintergrund spielen. Auch zehn Jahre nach der schicksalhaften Pressekonferenz lebt Ülke im Niemandsland: In seiner Heimat bekommt er keinen Pass und keine Sozialversicherung, er kann kein Konto eröffnen und keine geregelte Arbeit annehmen. Da es das Konzept Kriegsdienstverweigerung in der Türkei nicht geben darf, gilt er als Deserteur und Befehlsverweigerer. Seit Jahren schwebt über ihm ein Haftbefehl, der aber von den Behörden bewusst nicht vollstreckt wird.
Dabei blieb nach der Pressekonferenz zunächst alles ruhig. Erst ein Jahr später, am 4. Oktober 1996, wird Ülke in Izmir festgenommen. Über das Zentralgefängnis in Ankara wird er in das berüchtigte Mamak-Militärgefängnis gebracht. Dort wird er aufgefordert, wie alle Häftlinge die Gefängnisuniform anzuziehen. Ich war ja gerade in Mamak, weil ich keine Uniform tragen will. Deshalb wäre es jetzt paradox gewesen eine Gefängnisuniform anzuziehen, erinnert sich Ülke, ich habe den Soldaten erklärt, dass ich mich weigere, nur um mir selbst treu zu bleiben, nicht um sie zu provozieren. Als er sich am nächsten Tag bei der Zelleninspektion weigert stramm zu stehen, wird er in eine Isolationszelle eingeschlossen. In der mit Rattenkot übersäten Zelle ist genau für fünf Schritte Platz. Trotzdem behält Ülke seinen Humor, wenn er sich nachts schlaflos an die Gittertür lehnt und auf den Korridor schaut: Dort rasten manchmal vier, fünf Ratten in die eine Richtung, dann ein großes Quietschen und dann rasten sie wieder in die andere Richtung. Richtige Rennen haben da stattgefunden, erinnert sich Ülke.
Um reguläre Haftbedingungen einzufordern, beschließt Ülke den Hungerstreik. Für die nächsten fünf Tage bringen ihn die Wärter in eine Dunkelzelle. Schließlich erklärt sich der Gefängnisdirektor bereit zu verhandeln. Der Fall Ülke sorgt durch die Arbeit des ISKD längst für internationale Reaktionen: Manchmal kommen 50 Briefe und Postkarten am Tag im Mamak-Gefängnis an. Am dritten Tag seines Hungerstreiks schreibt Ülke an seine Unterstützer:
Was sind schon diese Mauern, die mich umgeben! Das sind die paar Meter Lebensraum, die wir Dir zugestehen; so hoch ist Dein Wert; nicht einen Schritt kommst Du nach draußen. Unbeholfene Worte und Mittel derer, die damit beschäftigt sind, von innen zu verfaulen! So wie Henry David Thoreau und andere sagen: In dieser Welt ist das Gefängnis der Ort für die anständigen Menschen. Diese Zellen werden sich noch weiter füllen, werden die Last nicht aushalten. Die Menschlichkeit derer, die die Zellen besetzen, wird die Mauern überwinden, wird das Verfaulen beschleunigen. Jede Zelle wird zu einem Garten werden und schließlich werden sich die Mauern verkleinern. Drinnen und draußen werden eins werden, und wir werden gemeinsam mit Stolz und zur Mahnung auf die zurückliegende Wüste blicken. Freiheiten werden den Weg schmücken, und wir werden unsere rastlose Wanderung fortsetzen.
Nach 24 Tagen werden Ülke reguläre Haftbedingungen zugestanden und er beendet den Hungerstreik. Im Dezember 1996 wird er von einem Militärgericht in Ankara entlassen, mit der Aufforderung sich in der Kaserne selbst zum Wehrdienst zu melden. Ülke meldet sich nicht und erscheint erst im Januar 1997 zum Prozess gegen ihn. Wieder wird Ülke zur Haft verurteilt. Im Mai 1997 wird er entlassen mit der erneuten Aufforderung sich zum Wehrdienst zu melden. Ülke verweigert weiterhin.
Woher nimmt Osman Murat Ülke die Kraft für sein Handeln? Ein Schlüssel dafür liegt in seiner Kindheit. Er wurde Oktober 1970 in Ründeroth, Nordrhein-Westfalen geboren. Im Alter von 15 Jahren ist er bereits politisch engagiert: Er schreibt für die Schülerzeitung und reiht sich in Friedensdemos ein. Aus Angst, dass sein Sohn sich in der Türkei nicht mehr integrieren kann, beschließt sein Vater ihn auf ein Internat in der Türkei zu schicken. Der Junge kommt auf eine Lehranstalt, in der besonders strenge Regeln gelten. Erst später wird klar, dass es sich um das Pilotprojekt eines bekannten fundamentalistischen Politikers handelt. Ülke, der anfangs erst Türkischkurse besuchen muss, kommt mit den starren Regeln nicht zurecht. Für ihn ist alles nur menschenfeindlich und bald lebt er mit Selbstmordgedanken. Eine Lehrerin verständigt seine Eltern und rettet ihn damit. Nach der Krise macht Ülke auf dem Internat seinen Schulabschluss. Politisch zu denken und zu leben, hat mich am Leben gehalten. Sonst hätte das Internat mich kaputt gemacht, sagt Ülke heute.
Ülke geht danach bewusst nicht zurück nach Deutschland. Ich wollte gegen das kämpfen, was bei mir soviel Schaden angerichtet hat, sagt er. Zunächst stürzt sich der frisch immatrikulierte Student ins Uni-Leben: Er engagiert sich in einem Verein für Menschenrechte und wird Mitbegründer einer Kommune, die bald eine eigene anarchistische Zeitung herausgibt. Im Jahr 1992 entschließt er sich zusammen mit zwei Freunden zur öffentlichen Kriegsdienstverweigerung. Allen ist sofort klar, dass sie einen gefährlichen Weg einschlagen. Sie wissen, dass sie viele Gleichgesinnte brauchen und gründen zusammen mit anderen den Verein der Izmirer KriegsgegnerInnen (ISKD).
Von 1989 bis 1992 studiert Ülke Tourismus-Management. Während der Sommersaison arbeitet er auch in dem Beruf, dann gibt er den Job auf. Es sei ein Sprung ins Leere, seine Loslösung von bürgerlichen Fesseln gewesen, sagt er rückblickend: Das Wichtigste sollte fortan nicht meine materielle Existenz sein, sondern dass ich das lebe, woran ich glaube. 1993 organisiert Ülke für den ISKD ein internationales Treffen zur Kriegsdienstverweigerung in Izmir und reist durch Europa, um Kontakte zu knüpfen. In Deutschland bleibt er allein vier Monate. Doch das Land seiner Kindheit ist für ihn keine Heimat mehr.
Zwischen 1996 und 1999 wird Ülke wegen Befehlsverweigerung sieben Mal inhaftiert und verbringt insgesamt 701 Tage im Gefängnis. Nach seiner letzten Entlassung bitten ihn seine Freunde in Izmir, die politischen Ziele zurückzustellen. Sie waren alle psychologisch und emotional ausgebrannt, sagt Ülke, Es hatte keinen Sinn mehr unsere Kampagne nur über dieselbe Person auszudrücken. Seinen Kampf führen bald neue öffentliche Verweigerer weiter: Mehmet Tarhan, Mehmet Bal und Halil Savda. Dennoch tritt Ülke seinen Wehrdienst nicht an, geht aber auch nicht mehr aktiv an die Öffentlichkeit. Er gilt fortan als Deserteur. Trotz eines Haftbefehls ignorieren ihn die Behörden und lassen ihn so lange in der Illegalität leben, bis er sich zum Wehrdienst meldet.
Im Jahr 1997 klagt Ülke beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen die Türkei. Neun Jahre später wird zu seinen Gunsten entschieden: Mit ihrer unverhältnismäßigen Strafverfolgung verstoße die Türkei gegen Artikel 3 der Menschenrechtskonvention. Die Türkei muss dem Geschädigten 11000 Euro Entschädigung zahlen. Wenig später verspricht der Verteidigungsminister sich für ein Gesetz zur Kriegsdienstverweigerung einzusetzen. Aber den Worten folgen keine Taten.
Heute leben etwa 60 erklärte Kriegsdienstverweigerer in der Türkei, darunter auch 11 Frauen, die ganz bewusst den Kampf gegen den Militarismus mit feministischem Diskurs verbinden. Im März 2007 will Ülke in einer Petition die Regierung auffordern, das Urteil des Europäischen Gerichtshofes umzusetzen und sich endlich mit den Kriegsdienstverweigerern zu befassen. Ülke kämpft mittlerweile nur noch für ein normales Leben für sich und seine Familie: Erst nach meiner Legalisierung und die dadurch ermöglichte Normalisierung meiner Lebensumstände kann ich überhaupt wieder politische Standpunkte beziehen, sagt er.
Nicht wenige IPPNW-Mitglieder kennen Ülke bereits seit Jahren. Seit 1995 besucht eine IPPNW-Gruppe einmal jährlich die Türkei, um sich über die Lage der Menschenrechte und der Gesundheitsversorgung besonders in Krisengebieten zu informieren. Der Hintergrund ist, dass viele der teilnehmenden Ärzte durch die Behandlung von kurdischen Flüchtlingen in Deutschland auf die problematische Menschenrechtslage in der Türkei aufmerksam wurden. Über die Jahre entstanden daher viele Kontakte in die Türkei. Bei Besuchen in Izmir war Ülke als Dolmetscher tätig und ist IPPNW-Ärzten und Studierenden ein Freund geworden.
Mit der Preisverleihung an Osman Murat Ülke wollen wir nicht die Situation in einem anderen Land kritisieren. Es geht vielmehr darum, dass das Recht auf Kriegsdienstverweigerung universales Menschenrecht ist. Ülke folgt ungeachtet massiver persönlicher Nachteile seinem Gewissen. Sein Einsatz fordert uns alle auf, sich niemals mit Kompromissen zufrieden zu geben, wenn es um Menschenrechte geht. Damit steht er in einer Reihe mit den bisherigen Trägerinnen und Trägern der Clara-Immerwahr-Auszeichnung. Bei der Feierstunde in Berlin wird seine Würdigung stellvertretend von Coºkun Üsterci von der Menschenrechtsstiftung entgegengenommen. Eine Woche später wird eine Gruppe von IPPNW-Mitgliedern in die Türkei reisen und Osman Murat Ülke die Auszeichnung persönlich überreichen.
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