Hamburg - Der Antrag stammte nicht von ein paar friedensbewegten Grünen: Er kam von der FDP-Bundestagsfraktion. "Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, (....) bei den amerikanischen Verbündeten darauf zu drängen, dass die bis heute in Deutschland stationierten taktischen Nuklearwaffen der USA abgezogen werden."
Überschrieben wurde das Papier mit dem programmatischen Titel "Glaubwürdigkeit des nuklearen Nichtverbreitungsregimes stärken - US-Nuklearwaffen aus Deutschland abziehen". Zu einer Beschlussfassung kam es jedoch nicht. Der Antrag wurde in den außenpolitischen und verteidigungspolitischen Ausschuss des Bundestags verwiesen.
Werner Hoyer, FDP-Bundestagsabgeordneter und federführend an dem Antrag beteiligt, stellt gegenüber SPIEGEL ONLINE insbesondere die "operative Zweckmäßigkeit" der US-Atombomben auf deutschem Boden in Frage: "Es ist an der Zeit darüber nachzudenken, ob die Stationierung unter den heutigen Bedingungen noch zweckmäßig ist." Die Liberalen, sagt der Luftwaffen-Major der Reserve, seien "unverdächtig, hier antiamerikanischen Reflexen zu folgen". Die FDP habe eine Debatte anstoßen wollen, und das sei ihr gelungen.
Diese Debatte wirkt anachronistisch. Sie dreht sich um ein Überbleibsel aus dem Kalten Krieg. In Europa lagerten auf dem Höhepunkt des Ost-West-Konflikts mehr als 7000 US-Atomwaffen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde jedoch rasant abgerüstet. Trotzdem sind bis zum heutigen Tag in Europa nach kürzlich veröffentlichten Angaben der Washingtoner Nichtregierungsorganisation Natural Resources Defence Council (NRDC) noch 480 Atombomben stationiert: 20 im niederländischen Volkel, 20 im belgischen Klein Brogel, 110 im britischen Lakenheath, 40 in Ghedi Torre und 50 in Aviano in Italien und 90 im türkischen Incirlik. Zudem verfügen die Briten und die Franzosen noch über ein eigenes Arsenal an Kernwaffen.
Der Großteil der Atomwaffen ist jedoch wie zu Zeiten der Bedrohung aus dem Osten in Deutschland stationiert. In der Bundesrepublik lagern laut NRDC noch 150 Freifallbomben vom Typ B61-10 in unterirdischen Bunkern: 20 auf dem Eifel-Fliegerhorst der Bundeswehr in rheinland-pfälzischen Büchel bei Cochem und 130 auf der US-Airbase Ramstein in der Pfalz. Nach Auskunft der deutschen Sektion der Vereinigung Internationaler Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) hat jede einzelne Bombe dieses Typs potenziell die sechsfache Sprengkraft der Hiroshima-Bombe.
Beharrliches Schweigen
DDP
Jagdbombergeschwader 33 in Büchel: Übungen an Attrappen
Bislang gingen sämtliche Experten von 65 atomaren Sprengköpfen aus, die Deutschland noch immer für die USA hortet. Die neue amerikanische Studie dokumentiert nun erstmals, dass es fast doppelt so viele sind. Und das obwohl der Atomwaffensperrvertrag von 1970 nach wie vor in Kraft ist und von der Bundesregierung bereits 1975 ratifiziert wurde. Unmissverständlich steht dort seit eh und je in Artikel II: "Jeder Nichtkernwaffenstaat verpflichtet sich, Kernwaffen von niemand unmittelbar oder mittelbar anzunehmen."
Die Stationierung der US-Atombomben wurde jedoch bereits vor der Ratifizierung durch die Bundesrepublik Deutschland vollzogen. Und danach sei aus Bündnistreue auf eine Änderung dieses Status Quo verzichtet worden, meint der IPPNW. Zudem seien nach US-Definition die militärischen Stützpunkte der USA auf der Welt amerikanisches Hoheitsgebiet. Auch könnte gegen amerikanische Atomwaffen selbst auf dem Bundeswehr-Standorten nach Auskunft von IPPNW-Sprecher Jens-Peter Steffen nur ein Land klagen, dass dem Atomwaffensperrvertrag beigetreten ist. Einer Organisation oder einer Privatperson ist seinen Worten zufolge der Rechtsweg verschlossen. Eine Begründung, warum es nie zu einer Klage aus der Friedensbewegung gegen die Atombomben auf deutschem Boden gekommen ist.
So kann es sein, dass den deutschen Tornados des Jagdbomber-Geschwaders 33 in Büchel "im Ernstfall" Atombomben zur Verfügung stehen würden - allerdings nach wie vor unter amerikanischer Obhut. An Attrappen dieser Waffen übt das Geschwader unverdrossen weiter ihren Einsatz als Teil des Nuklearwaffenkontingents der Nato. Laut geltender Doktrin sollen die Bomben von Bundeswehr-Piloten ins Zielgebiet gebracht werden.
"Das wird als Tabu behandelt"
Die Öffentlichkeit ist bei der Anzahl der Nuklearwaffen schon immer auf Schätzungen angewiesen gewesen. Im Verteidigungsministerium zückt man auf Aufrage von SPIEGEL ONLINE ein Jahre altes Papier mit folgender Sprachregelung: "Bei Fragen nach Anzahl, dem Umgang mit und den vermuteten Lagerorten von Nuklearwaffen ist die Bundesregierung an die vom Bündnis festgelegte Geheimhaltungsregelung gebunden. Daher können Aussagen und Behauptungen hierzu - insbesondere auch aus Sicherheitsgründen - weder bestätigt noch dementiert werden."
Bundesregierung und auch die US-Streitkräfte schweigen also beharrlich zu diesem Thema. Auch dem NRDC ging das nicht anders: Ihr Bericht bezieht sich auf interne und öffentliche Dokumente sowie Äußerungen von US-Regierungsmitgliedern.
DPA
Tornado-Kampfflugzeug: Einsatz im Ernstfall als Transportmaschine für Atombomben
"Rot-Grün hält es offensichtlich nicht mehr für opportun", auch noch in dieser Frage "eine Dehnung der transatlantischer Freundschaft" mit den Vereinigten Staaten zu riskieren, kritisiert IPPNW-Sprecher Jens-Peter Steffen gegenüber SPIEGEL ONLINE die Untätigkeit der Regierung. "Das wird von der Bundesregierung als Tabu behandelt", sagt Winfried Nachtwei, sicherheitspolitischer Sprecher der grünen Bundestagsfraktion zu SPIEGEL ONLINE. Das Mitglied im Verteidigungsausschuss des Bundestages hält die fortgesetzte Stationierung von US-Atomwaffen in Deutschland insgesamt für "absurd" - und den Abzug für "überfällig". Eine Position, die sinngemäß auch FDP-Mann Hoyer unterstützt.
Mitte des Monats sagte Nachtwei - gleich der FDP - bei der Bundestagsdebatte über den Jahresabrüstungsbericht und zur Überprüfung des Atomwaffensperrvertrags, dass es für "amerikanische Atomwaffen auf deutschem Boden keinerlei Rechtfertigung" und auch "keinerlei militärische Begründung" mehr gebe. Dies gelte "erst recht für die Vorbereitung von bundesdeutschen Tornado-Piloten darauf, auch solche Waffen einsetzen zu können".
Harald Müller, Mitglied im Vorstand der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, sagt zu SPIEGEL ONLINE: "Es gibt noch immer den Mythos, dass die Atomwaffen der Kitt der transatlantischen Allianz sind." Die USA würden zwar mit der fortgesetzten Stationierung ihr Schutzversprechen gegenüber Europa dokumentieren. Aber: "Ich halte das für ein Denken des Kalten Krieges", sagt Müller. Zudem verzichte die Nato bis heute nicht auf die Option, Atomwaffen zum Erstschlag einzusetzen. Allerdings, warnt der Experte für Rüstungskontrolle und Abrüstung, "suggeriert dies für andere Länder, dass diese Waffen weiterhin einen Wert als Verteidigungswaffen haben." Sie würden damit "als Anreiz dienen, dass sich auch andere Länder diese Waffen besorgen".
Diese Argumentation vertritt auch die grüne Europaabgeordnete Angelika Beer. Für sie würde der Abzug der Atombomben aus Europa "auch die Glaubwürdigkeit in den Verhandlungen mit Iran stärken".
Sinn und Zweck der fortgesetzten Stationierung der Atomwaffen in Europa sind also zumindest fragwürdig - und zur Erfüllung der neuen Rolle der Nato in der Krisenbewältigung vollkommen untauglich. Genau vor einem Jahr kündigte folglich auch der amerikanische Nato-Oberbefehlshaber James Jones "eine signifikante Reduzierung" des Atomwaffenarsenals in Europa an. Öffentlich bekannt wurde von einem Abzug seither nichts. Doch jetzt kommt wieder etwas Bewegung in die Sache: Vergangene Woche drängte auch der belgische Senat auf einen Abzug der Atomwaffen.
Im kommenden Monat nun gibt es in New York eine Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag. Die deutsche Delegation wird die konkreten Forderungen der grünen Abgeordneten und der Liberalen aller Voraussicht nach jedoch nicht vertreten. Auf neuen Streit mit den USA ist die Bundesregierung derzeit nicht erpicht.
Lars Langenau
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