Von 1991-1996 steigerten sich die Kosten um rund 24 %. Ist da der Ruf in der öffentlichen Debatte und Politik nach Kostenbremsung nicht berechtigt? Ich denke nein. Kostenexplosion ist kein aktuelles Geschehen, hierbei handelt es sich vielmehr um Faktenfälschung. Sie verbirgt sich hinter der Methode, zwei völlig unterschiedliche Systeme zusammenzupacken über die Wiedervereinigung und dann eine Zeitreihe zu machen aus dem alten System in das neue und die alte Zahl mit dem neuen Durchschnitt in eine Reihe zu stellen. Was heißt das konkret? Die Zahlen kommen hauptsächlich durch das Zusammenwirken folgender Faktoren zustande. Die Pro-Kopf-Ausgaben für Gesundheit stiegen in den gesamten betrachteten Jahre nur noch schwach oder gar nicht mehr und waren in Ostdeutschland sogar lange Zeit, deutlich bis schwach unter den Pro-Kopf-Ausgaben für Gesundheit in Westdeutschland.
Warum steigt dieser Wert aber trotzdem an? Das liegt an der zweiten Komponente: Der Pro-Kopf-Beitrag zum Bruttosozialprodukt lag und liegt in Ostdeutschland bei nur rund der Hälfte des Wertes im Westen. Das heißt, selbst ohne eine Mark zusätzlicher Ausgaben, ja selbst bei sinkenden Ausgaben für Gesundheit, muss also, wenn man den Zähler und Nenner anguckt, der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttosozialprodukt, dieser prozentuale Anteil, für Gesamtdeutschland steigen.
Es gibt auch einen rechnerischen Beweis, dass diese Entwicklung hinter diesem Anstieg steht. Wenn man Ost- und Westdeutschland rechnerisch differenziert, stieg der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttosozialprodukt von 1980 bis 1996 um 5,95 Prozent. 5,95 Prozent in 16 Jahren! Wer an sonstige Ausgabensteigerungen denkt, der wird nie auf die Idee kommen, dass da eine Kostenexplosion stattgefunden hat. In Ostdeutschland betrug der Anteil der Gesundheitsausgaben an diesem schwächeren ostdeutschen Bruttosozialprodukt nicht 8,9 Prozent wie im Westen, sondern 14,1 Prozent. Und damit lag der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttosozialprodukt in Ostdeutschland höher als der Anteil in dem sowieso sehr teuren Gesundheitssystem der Vereinigten Staaten. Der zweite Mythos betrifft die Lohnnebenkosten oder die Sicherung des Standortes Deutschland. Es gibt zwei Dinge, die in der Lohnnebenkostendebatte berücksichtigt werden müssen. Das Erste ist: Wenn man über Lohnnebenkosten redet, darf man nicht vergessen, dass Sozialkosten und Krankenversicherungskosten der kleinere Teil der Lohnnebenkosten sind. Ein Drittel bis 40 Prozent der Lohnnebenkosten, maximal 40 Prozent sind Sozialversicherungsbeiträge. Und von den Sozialversicherungsbeiträgen sind wieder höchstens ein Viertel Ausgaben für die Krankenkasse, und davon entfallen wiederum nur die Hälfte auf die Arbeitgeber.
Aus Sicht des Unternehmens ist es wichtig, wie viel er für Löhne, Gehälter und Lohnnebenkosten ausgeben muss und in welchem Verhältnis das zu anderen Kostenfaktoren steht. Dafür gibt es einen Indikator der offiziellen Statistik, die sogenannte Bruttolohnquote. Diese Quote misst den Anteil aller dieser Ausgaben am Volkseinkommen. Sie sinkt inklusive aller Lohnnebenkosten seit Beginn der 80er Jahre systematisch. 1982 betrug diese Quote 72,5 % am Volkseinkommen, 1994 betrug sie nur noch 65,5 %. Damit ist die Quote fast auf dem Stand des Jahres 1960 (65 %). Damals gab es keine Debatte um Lohnnebenkosten! Nun zur "internationalen Wettbewerbsfähigkeit". Wenn man über die internationale Wettbewerbsfähigkeit redet, sollte man nicht über die gesamte Wirtschaft reden, sondern nur über den Teil der deutschen Wirtschaft, der überhaupt im internationalen Wettbewerb steht. Das ist vor allem das produzierende Gewerbe. Für dieses produzierende Gewerbe gibt es eine Kostenstrukturstatistik des Statistischen Bundesamtes, die relativ zuverlässig zeigt, wodurch die deutschen Unternehmen des produzierenden Gewerbes belastet werden. Wer an die Bedeutung der Lohnnebenkostendebatte denkt, stellt sich mindestens einen zweistelligen Betrag vor. In Wirklichkeit belastet der Arbeitgeber-Beitrag die Gesamtkosten des produzierenden Gewerbes mit 1,084 %. Eine Größe, die in keiner Weise die Debatte um die internationale Wettbewerbsfähigkeit des gesamten produzierenden Gewerbes rechtfertigt. Auch für das Handwerk muss man ausrechnen, wie hoch deren Belastung durch Ausgaben für die gesetzliche Krankenversicherung sind? Einer Fachserie des Statistischen Bundesamts kann man entnehmen, dass der Anteil der Kostenbelastung für Arbeitgeber durch die Krankenversicherung an den Gesamtkosten 1,785 % beträgt.
Der dritte Mythos betrifft den Missbrauch von Leistungen. Da wird behauptet, unser Gesundheitssystem schaffe systemeigene Anreize für Missbrauch. Dafür gibt es auch eine Menge griffiger Vokabeln wie "Blauer Montag", "Doktor Hopping", "Arzterpressung" bei der Verordnung von Arzneimitteln oder "Chipkarten-Missbrauch". Ich möchte drei empirische Ergebnisse vorstellen, die belegen, wie an dieser Stelle gefälscht, gemogelt und gehetzt wird. An erster Stelle bei der Missbrauchdebatte wird die Krankschreibung genannt. Es gab immer wieder Versuche, den Gesetzgeber zu zwingen, Krankschreibung systematisch kontrollieren zu lassen. Es gibt eine einzige empirische Untersuchung eines medizinischen Dienstes der Krankenkassen aus dem Jahr 1994/1995 in fünf verschiedenen Bundesländern. Dort wurden 13.119 Arbeitsunfähigkeitsfälle auf Missbrauch untersucht. Bei 36 Menschen, das sind 0,3 %, lag eindeutig keine medizinische Begründung der Krankschreibung vor. Eine zweite Untersuchung habe ich selber mit Krankenkassendaten gemacht. Da haben wir das Krankschreibungsverhalten von über 22.000 Versicherten einer bundesweiten Krankenkasse über sieben Jahre untersucht. Interessant ist, dass sich immerhin 23 % in sieben Jahren nie an einem Montag haben krankschreiben lassen. Wenn man jetzt nur die Personen rechnet, die sich mehr als 14-mal einen blauen Montag genommen haben, dann sind es 6,2 %. Wenn man von ihnen noch die abzieht, die Krebs hatten oder Cholera oder andere Krankheiten und deswegen eben zufällig am Montag krankgeschrieben wurden, dann sind es nicht mehr 6,2 %, sondern rund 3 %.
Ein weiterer Mythos ist der Missbrauch von Versichertenkarten. Bisher haben keine seriösen Untersuchungen einen Anhaltspunkt auf Missbrauch gefunden. Seriös halte ich zum Beispiel eine Befragung des Deutschen Ärzteblatts aus dem Jahre 1995, die auf eine Betrugsquote von 0,014 % kam. Aus dem Jahr 1998 stammt eine Untersuchung zur Patientenchipkarte im Auftrag des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland, ein seriöses Münchner Gesundheitsforschungsinstitut, die ein äußerst differenziertes Ergebnis zeigt: "Während der direkte Chipkartenmissbrauch nach wie vor gering ist, nämlich zwischen ein und zwei nachweisbaren Prozent schwankt, scheint die Chipkarte solche vermutlich immer schon vorhandenen Einstellungen der Versicherten zu fördern, die das Prinzip der freien Arztwahl und den Anspruch auf Arztwechsel geltend machen. Die latente Disposition zur extensiven Chipkartennutzung hat sich seit 1995 deutlich verstärkt. Sie hat aber nur einer kleinen Gruppe von GKV-Versicherten zur faktischen Inanspruchnahme mehrerer usw. (...) Ärzte geführt." Diese Gruppe wird in der Studie auf acht bis elf Prozent geschätzt. Auf der Grundlage einer solchen Studie kann man eine differenzierte Debatte führen, aber das ist dann eine Debatte, die sich mit der Frage beschäftigt, dass es immer noch zu wenig Beratung für Patienten gibt und dass sie gleichzeitig verunsichert werden über die Qualität von Versorgung. Sie haben Angst, etwas Falsches zu tun, wenn sie nur einem Arzt trauen.
Der letzte Mythos ist der einer Epidemie chronischer Erkrankungen. Ich selber habe zusammen mit Kollegen aus Bielefeld eine Studie über vier Morbiditäts- und Mortalitätsbereiche gemacht. Wir haben das individuelle Risiko untersucht, an bestimmten Erkrankungen zu erkranken oder zu versterben. In allen vier Bereichen stellten wir fest, dass die Häufigkeit und das individuelle Risiko sinken, entgegen allen Vorurteilen. So sinkt z.B. die Krebsbelastung, und zwar in allen Altersgruppen, deutlich. Ausgewählte Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie die Sterblichkeit durch Herzinfarkt, Schlaganfall und Gehirnschlag in den letzten 10 Jahren sinken ebenfalls. Zu einer anderen wichtigen Erkrankung, nämlich Alzheimer, ist an der Universität Bielefeld vor zwei Jahren eine Untersuchung gemacht worden mit dem Ergebnis, dass das individuelle Risiko stagniert. Es gibt allerdings Interessenten, die behaupten das Gegenteil. Das ist zum Beispiel in den USA die Alzheimer-Gesellschaft, die eine Stimmung erzeugt nach dem Motto: Wenn man jetzt nichts tut, dann haben wir demnächst riesig viel Probleme. Und last, not least die Morbidität chronischer Bronchitis. Im nationalen Gesundheitsbericht ist von einer Zunahme die Rede. In einer Fußnote wird darauf hingewiesen, dass die ökologische Belastung seit dreißig Jahren immer stiege. Und dann wird assoziiert, müsste doch auch chronische Bronchitis zunehmen. Wer sich die wenigen deutschen Zahlen, die es in Nordrhein-Westfalen gibt, dazu anguckt, wird feststellen, dass es praktische keine Inzidenz von chronischen Bronchitis mehr gibt. Entweder gibt es keine oder sie wird mit akuter Bronchitis zusammengewürfelt.
Zum Schluss stellt sich die Frage, von was alle diese Mythen ablenken sollen. Denn dass es sie gibt, ist kein Zufall: Dahinter stecken politische Strategien, Interessen und Vorstellen, die nichts mit Gesundheit zu tun haben, sondern zum Beispiel etwas mit Gewinnsicherung oder Standortsicherung. Welche Probleme und Wege sollten statt der hier Untersuchten eigentlich in der Gesundheitspolitik aufgegriffen oder beschritten werden? Die Mythen der Gesundheitspolitik verhindern, über Alternativen zur ausschließlichen Abhängigkeit der Krankenversicherungs- Finanzierung über Lohneinkommen nachzudenken. Indem man nur über die Ausgabenseite redet, wird systematisch verhindert über die Einnahmenseite nachzudenken. Das ist das zentrale Problem der gesetzlichen Krankenversicherung, denn die Einnahmen sind angehängt an Einkommen, Löhnen und Gehältern. Das alles lenkt von wirklich wichtigen Fragen rund um die Gesundheit ab. Es gibt in Deutschland z.B. keine handfeste Diskussion über die Qualität der Gesamtversorgung in Deutschland. Was kann zugunsten von Ökonomie und Gesundheit an Leistungen eingespart werden? Einige Beispiele: Der Präsident der deutschen Röntgengesellschaft erklärte auf dem 80. Deutschen Röntgenkongress in Wiesbaden, dass schätzungsweise die Hälfte der rund 100 Millionen Röntgenuntersuchungen im Jahr verzichtbar wären, ohne dass die Behandlung der Patienten sich verschlechtere. 800 Millionen Mark könnten eingespart werden, statistisch gesehen werde jeder Bürger 1,24-mal im Jahr durchleuchtet. Das zweite Beispiel: Vor zwei Jahren bericheten leitende Krankenhauskardiologen, dass von den ungefähr 25.000 Ballondilatationen (Erweiterung über einen Ballon der Herzkranzgefäße) 6.000 ungerechtfertigt gewesen wären. Ungerechtfertigt bedeutet in dem Fall, dass sie teilweise sogar schädlich waren, also z.B. durch Bypass-Operation hääten verhindert werden können. Sie vermuten auch, dass eine Reihe von Menschen aufgrund der Ballondilation gestorben sei. Ein weiteres Beispiel ist die Behandlung von Diabetes-Typ-2-Patienten. Wenn man sich endlich auf international vereinbarte Standards verständigen würde, könnte man eine Unmenge von Leid reduzieren und eine Unmenge von Geldausgaben z.B. durch Amputationen oder Nierendialysen verhindern.
Nach mehr als zwei Jahrzehnten Gesundheitsreformpolitik ist eins so sicher wie das Amen in der Kirche: Wenn die anhaltende Wirkung dieser Mythen in der Gesundheitspolitik nicht dramatisch reduziert wird, gibt es meines Erachtens keinen Raum für eine wirkliche Gesundheitsreform und -politik, sondern immer nur neue Kostengesetzgebungsrunden mit dem wachsenden Risiko eines Systemwechsels. Wir brauchen öffentlichen Druck, der an einer ergebnisorientierten Analyse und Orientierung interessiert ist. Doch ohne Druck von Seiten der Patienten und gesundheitspolitisch Aktiven bewegt sich auch, so fürchte ich, mit Rot-Grün in Sachen Gesundheit nichts.
Dr. Bernard Braun
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