Israel

von Karla Kienzle

Wie packe ich zwei lebendige Monate in einen Bericht? Es gäbe so viel zu erzählen: von der liebevollen, offenherzigen Gastfreundschaft, die ich sowohl in Israel als auch in Palästina erlebt habe; von den offenen Blicken und Begegnungen, den intensiven Gesprächen, der wundervollen Natur. Vom Gefühl innerlicher Zerissenheit durch die Empathie mit zwei konträren Narrativen, zwei komplett verschiedenen und doch so verschränkten emotionalen Realitäten. Dem Staunen darüber, durch wie viele verschiedene Brillen man die Welt sehen kann. Dem Erstaunen und der Irritation über meine eigene Brille, dem ständigen Hinterfragen und Durchdenken. Von den Freundschaften, die ich geschlossen habe. Von den erhellenden Erkenntnissen darüber, wie ich mein Leben gerne leben möchte und wie meine berufliche Zukunft aussehen könnte. Das ist natürlich alles sehr persönlich und darum reiße ich all das nur an, da ich es aber auch nicht einfach weglassen kann. Aber der Fokus soll darauf liegen zu beschreiben, womit ich mich eigentlich so beschäftigt habe in den zwei Monaten, damit man sich das etwas konkreter vorstellen kann.
In Israel habe ich sechs Wochen in Shalvata verbracht, einem psychiatrischen Krankenhaus etwas außerhalb im Norden Tel Avivs. Eine familiäre Atmosphäre, in der ich mich sehr wohl gefühlt habe. Ich habe ca. 2 Wochen in der gerontopsychiatrischen Ambulanz und vier Wochen auf der Kinderund Jugendpsychiatrischen Station verbracht – Psychiatrie am Übergang zu Beginn und am Ende des eigenständigen Lebens. Es wurde sich immer sehr viel Zeit genommen, mir Fragen zu beantworten, und vor allem auf der KJP konnte ich einige Gespräche mit Kindern führen, mit ihnen in der „Occupational Therapie“ basteln, bei Tanz- und Musiktherapiesitzungen teilnehmen. Nie hätte ich gedacht, dass mich Kinder- und Jugendpsychiatrie so begeistern könnte, aber es hat mich tatsächlich sehr berührt, da für manche der Patient*innen der Aufenthalt in der Klinik wirklich eine entscheidende Weiche für das weitere Leben dastellt. In der gerontopsychiatrischen Ambulanz habe ich eher passiv den Simultanübersetzungen der leitendenden Ärztin und Ansprechpartnerin des f&eProgramms, Dr. Shefet, gelauscht – eine beeindruckende Frau, von der ich in vielen Hinsichten einiges gelernt habe. Und auch die Krankheitsbilder waren wirklich spannend, ich habe viel über Demenz gelernt und auch erfahren können, wie unterschiedlich psychiatrische Krankheitsgeschichten verlaufen können. Die Begegnung mit den Erzählungen von HolocaustÜberlebenden, die in die Ambulanz zur Behandlung kamen, war jedes Mal eine Herausforderung, aber ich bin sehr dankbar dafür, dass ich ihren Geschichten zuhören durfte. Ich hatte mich schon darauf eingestellt in einer Psychiatrie-Famulatur ohne Sprachkenntnisse nicht viel zu tun zu haben, sondern viel zu beobachten und zuzuhören. Daher und auch weil ich Psychiatrie einfach total spannend finde, war es dann für mich nicht so tragisch, dass ich viel in einer eher passiven zuhörenden Rolle Zeit verbracht habe. Teil meiner Zeit in Tel Aviv war auch der Besuch in einer Tagesklinik für Refugees, einem Einblick in deren gesundheitliche Versorgung und die Konfrontation mit der Flüchtlingspolitik Israels. Außerdem habe ich drei Tage in der Organisation AMCHA verbracht – ein Club mit Tagesprogramm und psychotherapeutischem Angebot für Holocaust-Überlebende, das ihnen eine Art zweites zu Hause bietet. Viele gehen dort schon seit Jahrzehnten hin. Ich durfte viel zuhören, Geschichten lauschen – oft auf Deutsch -, mit einer über-90-jährigen Dame über die Politik der AfD diskutieren, an einer Geburtstagsfeier mit den Residents tanzen, singen und eine Menge Torte essen. Ich wurde sehr warmherzig empfangen und ging jedes Mal sehr gerührt nach Hause von dieser besonderen Konfrontation mit der Geschichte und Begegnung mit herzlichen Menschen. So viel mehr hätte es noch zu entdecken gegeben. Natürlich waren auch sechs Wochen im Ansatz nicht genug Zeit.
Mein Aufenthalt war auch immer wieder von Begegnungen mit Grenzen geprägt - deren Existenz oder Abwesenheit. Eine Begegnung mit den weniger ausgepägten Grenzen der Hierarchien im
Krankenhaus oder zwischen „Fremden“, sodass sie schnell vertraut werden können, auch einer relativen Abwesenheit von Grenzen zwischen privat und beruflich. Das habe ich sehr genossen. So viel offene Türen, so viel Herzlichkeit. Und dann die Existenz der so mächtigen Grenze zwischen dem, was wir Israel und dem was wir Palästina nennen. Physisch und emotional. Die Vorurteile und Ängste, Verluste. Die Demütigung durch die „Occupation“. Resignation und das Gefühl von Ohnmacht – auf beiden Seiten. Das für mich willkürlich anmutende Verschieben von Grenzen. Eine Mauer, die Austausch unterbindet, Menschen das Gefühl gibt, dass die auf der anderen Seite auch „die Anderen“ sind, fremd, unvorstellbar, ganz fern. Unglaublich, mich einfach in einen Bus zu setzen, mit meinem Pass einreisen zu können, die Grenze überschreiten zu können. Nach sechs Wochen Leben im israelischen Narrativ – denn so vielfältig die Meinungen innerhalb dieses Narrativs auch sind, ist es doch eine bestimmte Art und Weise geschichtliche Ereignisse zu verstehen – dann plötzlich in Palästina. Eintauchen ins konträre Narrativ. Für mich war das wirklich ein Augenöffner, aber auch unglaublich anstrengend...Brille wieder absetzen, neu aufsetzen, und jedes Mal wechseln, wenn ich mit meinen israelischen Freunden spreche, merken, dass mir das wirklich nur schwer gelingt und ich ganz schön durcheinander komme mit den ganzen Brillen. Zu versuchen, sich so gut es eben geht unvoreingenommen und auch immer wieder neu in beide Narrative hineinzuversetzen, ist unglaublich spannend, aber auch wirklich anstrengend und emotional bewegend.
In Bethlehem durfte ich zwei Wochen bei Wings of Hope for Trauma Einblicke gewinnen - eine Initiative, die traumatherapeutische Einzelsitzungen, aber auch Gruppen anbietet für Frauen und Kinder. Meine Zeit habe ich vor allem mit Recherchen verbracht, da das Team dieses Material für interne Fortbildungen weiterverwenden wollte. Das Team, bestehend aus sechs Frauen, war sehr herzlich mit mir und ich habe mich sehr willkommen gefühlt. Sehr dankbar bin ich über lange Gespräche mit der Leiterin der Initiative Ursula Mukarker, eine Palästinenserin, die auch lange in Deutschland studiert hat. Wir haben viel diskutiert, uns ausgetauscht über viele Themen, die mich in den zwei Wochen dort beschäftigt haben. Es haben sich allerdings auch viele Fragen für mich hinsichtlich der Sinnhaftigkeit aufgetan, für zwei Wochen in solch ein Projekt – sei es „sozial“ oder friedenspolitisch  - einzutauchen. Ich musste mich dabei ertappen, mit der Erwartung hineinzugehen, aktiv etwas tun, mich in irgendeiner Form einbringen zu können. Bei mir hat das nur durch Zufall geklappt und sowohl im Vorhinein als auch und ganz besonders im Nachhinein habe ich mich viel damit beschäftigt, ob allein nicht schon die Idee, mich irgendwo für zwei Wochen aktiv einbringen zu können, nicht eigentlich ziemlich vermessen ist. Es wäre sicherlich realistischer gewesen, diese zwei Wochen als ein Eintauchen in einen anderen Kontext und ein Kennenlernen-Dürfen anzugehen. Gerade für diese Reflexion waren das Vor- und Nachbereitungsgruppe und der enge Austausch mit den anderen Freiwilligen unglaublich bereichernd – ein wesentlicher Teil von (meinem) f&e, für den ich sehr dankbar bin. Mit der Zeit in Palästina bin ich insgesamt wohl nicht ganz im Reinen, da zwei Wochen einfach wirklich viel zu kurz waren. Als ich gerade das Gefühl hatte, Kontakte zu knüpfen und zu beginnen, ein wenig mehr zu begreifen, musste ich schon wieder abreisen. Nur einmal kurz eintauchen. Und dann wieder das Land verlassen – das zu können ist auch ein Privileg und es ist ein komisches Gefühl, angefangene Bekanntschaften zurückzulassen in dem Wissen, dass sie mich mit dem schwächsten Pass der Welt nicht mal eben in Deutschland besuchen können, um die Bekanntschaft weiterzuführen.
Eine bewegende Zeit. Und die Reise geht weiter, denn jetzt zurück in Deutschland wundere ich mich und staune. Meine Brille hat sich verändert. Vieles Bekannte ist mir fremd geworden. Und so bin ich immernoch dabei, Geschichten zuzuhören, zu versuchen, Perspektiven zu verstehen und Fremdes im Vertrauten nocheinmal neu zu entdecken.

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