Griechenland

von Rosa Emrich

Der Wunsch nach Griechenland zu gehen entstand bei mir im Jahr vor dem Austausch, da ich einiges über Projekte selbstorganisierter solidarischer Gesundheitsversorgung gehört hatte. Die vielen Initiativen, die entstanden sind als im Zuge der Schuldenkrise und erzwungenen staatlichen Maßnahmen die Sozialsysteme zusammengebrochen sind, haben mich beeindruckt. Ich habe mir gewünscht längere Zeit vor Ort zu sein, um mehr über Strategien, Chancen und Probleme der politischen Linken lernen zu können.

03.08.19 irgendwo im südlichen Nordmazedonien
Der Zug stinkt nach Zug – nach quietschenden Schienen und durchgesessenen Polstern, ich stinke nach Zug und ab und zu stinkt es nach brennendem Müll. Die anderen sind schon lange ausgestiegen, Budapest, Belgrad, Skopje. Die Bäume und Sträucher wuchern zum Greifen nah, auf Feldern Wassermelonen, rechts und links der Schienen immer wieder nicht fertig gebaute Häuser in verlassener Umgebung, kleine Orte mit Bahnhofshäuschen und Wärter mit Schiebermütze, Bäume mit Pfirsichen und Mirabellen, Ortsschild Kukurucani, wann kommt wohl die griechische Grenze? Ich kann mir nix dir nix über all diese Grenzen und genieße die Zugfahrt. So viele wollen in die andere Richtung und können nicht. Immer wieder viele Bienenkörbe, jemand raucht am Fenster. Es ist warm, der Zug zischt und rauscht.
Eine schöne Besonderheit der Austauschländer in Europa ist die Möglichkeit gemeinsam anzureisen. Marie (Rumänien), Lorenz (Kosovo), Helma (Nordmazedonien) und ich sind in Deutschland zusammen in den Zug gestiegen. Das gemeinsame Be- und Erfahren der vielen Grenzen, das Teilen von Eindrücken, Vorfreude, Nachfragen und Stullen möchte ich nicht missen.
Angekommen in Thessaloniki habe ich in der Wohnung einer über viele Ecken Bekannte mein Quartier bezogen und am nächsten Tag meine einmonatige Famulatur in der Gynäkologie des „Ippokrateio Nosokomio“ begonnen. Das Krankenhaus ist öffentlich und behandelt werden deshalb überwiegend Menschen mit geringem sozioökonomischen Status und Migrant*innen oder Asylsuchende. Wer es sich leisten kann, lässt sich in privaten Praxen oder Krankenhäusern behandeln (und zahlt dann z.B. für eine Geburt um die 3.000€). Da es ein sehr großes Haus ist und viele Stationen zur Universität gehören, werden aber auch seltene Krankheitsbilder oder komplikationsreiche Verläufe behandelt. Im Bereich Gynäkologie waren das dann hauptsächlich Schwangerschaftskomplikationen und spezielle Tumor-OPs.
Die ersten 1-2 Wochen in der Klinik fand ich schwierig und habe mich häufig völlig fehl am Platz gefühlt. Oft habe ich gezweifelt, wie viel ich überhaupt einfordern darf (ich habe mir ja selbst ausgesucht in ein Land zu gehen, dessen Sprache ist nicht spreche), manchmal war ich auch irritiert davon, dass das Einfinden noch schwieriger war als erwartet. Mit der Zeit habe ich viele Faktoren verstanden, die dazu beigetragen haben: Der Monat August ist DER Ferienmonat in Griechenland und es waren fast nur Assistenzärzt*innen auf Station, die extrem viel gearbeitet haben und selbst noch eingearbeitet wurden. Der Professor, der mir den Platz vermittelt hatte, war nach den ersten Tagen ebenfalls im Urlaub und ich hatte keine feste Ansprechperson. Auch ist unser Konzept der Famulatur dort untypisch, die Studierenden haben stattdessen in Gruppen Blockunterricht auf den Stationen, so dass vielen meine Rolle als Famulantin nicht klar war. Auch wenn das Drumherum oft schwierig war, gab es mehrere Ärzt*innen, die super hilfsbereit waren und mir vieles gezeigt und erklärt haben. Außerdem habe ich mich viel an die Hebammen gehalten, die dort in den gynäkologischen Bereichen auch als Krankenpflegerinnen und OP-Assistentinnen arbeiten und mit denen ich mich meistens sehr gut verstanden habe. Unsere Themen waren oft ähnliche wie in Deutschland – der hierarchische Umgang zwischen den verschiedenen Berufsgruppen im Krankenhaus, der Personalmangel und die oft nicht gewährleistete Selbstbestimmung der Patientinnen, dazu noch ein bisschen griechisch-deutscher Vokabelaustausch. Nach 2-3 Wochen sind Studierende für den Blockunterricht auf die Station gekommen, wunderbar! Ich wurde ständig mit Übersetzungen und Erklärungen unterstützt, konnte viele Fragen aller Art loswerden und vor allem Leute kennenlernen.
Denn das Sommerloch hat auch das Stadtleben und die politischen Aktivitäten betroffen, so dass das Kontakte knüpfen und Initiativen kennenlernen schwierig und ich über den Anschluss an die Medizinstudierenden froh war. In der Stadt war es sehr heiß, auch nachts und selten wehte am Abend mal für einen Moment eine frischere Brise vom Meer. Alle, die irgendwie können, nehmen dann ihren Jahresurlaub und an zahlreichen Geschäften/Bistros hängen Zettel "geschlossen bis 25.08. - schönen Sommer!". Die Stadt wirkte trotz der vielen verschwundenen Bewohner*innen sehr lebendig und abends waren viele Menschen auf der Straße, an der Promenade und in den Cafés mit Ventilatoren auf Hochtouren, die Häuserwände weiter bedeckt mit politischen Aufrufen, Graffitis und Plakaten. In dieser scheinbaren Sommerpause passierte politisch allerdings viel. Im Juli hatte die seit 2015 führende Syriza-Partei gegen die konservative Nea Demokratia verloren. Diese begann nun in Windeseile ihr Programm umzusetzen, also Polizeibefugnisse auszuweiten, selbstorganisierte Wohnprojekte zu räumen, die Sozialleistungen für Asylbewerber*innen drastisch zu kürzen, etc. Diese Änderungen prägten auch meine Zeit im Land.
Nach langen Überlegungen entschied ich letztlich, den zweiten Teil nicht konstant in einem Projekt zu verbringen, sondern viele verschiedene Gruppen zu besuchen. Noch während der Famulatur und im Anschluss ist also eine Art persönliche Recherchereise entstanden, bei der ich manche Menschen nur für eine Stunde, andere Gruppen mehrfach getroffen habe. Als in Folge der seit 2010 durchgeführten „Sparprogramme“ die Sozialsysteme zusammenbrachen sind in verschiedenen Bereichen (Lebensmittel, Wohnen, Gesundheit, …) unzählige solidarische Initiativen entstanden, die sich dafür eingesetzt haben Menschen mit dem Notwendigsten zu versorgen, aber auch eine große politische Bewegung darstellen. Im Gesundheitsbereich hat sich die Lage (u.a. durch die unermüdliche Arbeit dieser Gruppen) in den letzten Jahren zwar entspannt, bleibt aber v.a. für ohnehin marginalisierte Menschen weiterhin vielfach prekär. Die meisten der Initiativen sind noch immer aktiv, auch weil sie für einen grundsätzlichen gesellschaftlichen und medizinpolitischen Wandel einstehen – so fordern sie z.B. mehr Prävention, eine anti-hierarchische ärztliche Perspektive und stellen sich den Privatisierungen entgegen.

In Thessaloniki war ich u.a. bei „Sxoleio“, einer anarchistische Gruppe mit selbstorganisiertem Bildungszentrum in Thessaloniki, die zeitweise auch probiert haben eine kleine Gesundheitsstruktur aufzubauen; bei „Doc mobile“, einer von Deutschen geleiteten NGO, die medizinische Basisversorgung für (hauptsächlich geflüchtete) Obdachlose anbietet; bei „vio.me“, einer besetzten und selbstverwalteten Fabrik, in der mittlerweile Reinigungsmittel hergestellt werden und die versuchen eine „worker‘s health initiative“ aufzubauen. Später habe ich ein Festival von ökologischen und anarchistischen Kooperativen aus ganz Griechenland in einem kleinen Bergdorf zwischen Thessaloniki und Athen besucht, bei dem u.a. von den genannten Gruppen aus Thessaloniki Workshops und Diskussionen veranstaltet wurden.
Mehrere Tage habe ich rund um den Weltfriedenstag am 21.09. in einem anderen kleinen, südlicheren Bergdorf bei Maria Sotiropoulou, der griechischen IPPNW-Sektion in persona, verbracht, dort an Veranstaltungen teilgenommen und viele Aktive der griechischen Friedensbewegung sowie ihre Familie kennengelernt.
Auch in Athen war ich für 1-2 Wochen und habe dort u.a. die „Metropolitan Community Clinic Ellinikó“, die „Solidarity Clinic of Piraeus“ und die selbstverwaltete Gesundheitsstruktur Exarchia (ADYE) besucht. All diese Initiativen haben sich teils überschneidende, in anderen Bereichen sehr unterschiedliche Grundsätze und Organisationsformen. Darüber mehr zu erfahren und zu diskutieren war spannend und herausfordernd.
Auf die Frage was in ihren Augen die größte Unterstützung dieser Bewegung darstellt, erklärte eine der Aktivist*innen der „Social Solidarity Clinic of Thessaloniki“: im Ausland bzw. in Krisenregionen seien die Probleme oder Ungerechtigkeiten oft offensichtlich und somit das Protestieren dagegen vergleichsweise einfach. Wichtiger als die Auslandsarbeit von z.B. Gesundheitsarbeiter*innen sei die Arbeit im eigenen Land. So wird z.B. das Gesundheitssystem in Deutschland neoliberal umgestaltet und hat dementsprechend riesige Probleme, erscheint nach außen hin aber weniger krisenhaft. Unser Widerstand dagegen sei nicht nur aus unserer Perspektive notwendig, sondern auch solidarisch, da er auch bedeute Geschäftsmodelle und soziale Ungleichheit zu demaskieren, die anderswo als erfolgreiche Konzepte beworben werden (z.B. war im Rahmen der „Sparprogramme“ vorgesehen das Fallpauschalensystem nach deutschem Vorbild in Griechenland einzuführen, was durch die griechische gesundheitspolitische Bewegung und die Syriza-Regierung verhindert wurde).

Die Zeit vor Ort mit einem roten Faden zusammenzufassen fällt mir schwer, da ich genau den schon während des Aufenthalts selten in der Hand hatte. Meine Erinnerungen sind eher atmosphärisch und diffus. Beim Gedanken an die Zeit höre ich griechische Wörter und viele Fragen purzeln durch meinen Kopf.
Ich bin dankbar für die Möglichkeit eine neue Sprache zu entdecken - Anfangs kein Wort zu verstehen und zu versuchen nur über Gestik und Mimik die Situation zu begreifen, nicht zu wissen wo ein Wort aufhört und das nächste anfängt, so dass alles zu einer Melodie verschwimmt und jeder (vermeintlich) verständliche Fetzen vom Gehirn gedeutet wird in oft fantasievollen Nonsense. Später die Freude wenn auf der Straße, in Gesprächen, in Musik, in Beschriftungen aus dem Klangkauderwelsch und Buchstabenwirrwarr immer mehr sinnvolle Begriffe vor dem inneren Auge auftauchen. Das Land mit allem, was ich dort sehen und kennenlernte konnte, ist mir sehr ans Herz gewachsen.
Ich bin auch dankbar dafür, so vielen Menschen zugehört zu haben. Durch all die Stimmen und Blickwinkel entsteht ein multidimensionales Bild der Geschichte und auch der Gegenwart.
Welche Fragen bleiben zurück? Mehr als die Anzahl der Fragen mit denen ich losgefahren bin (und das waren schon viele). Hierin besteht für mich ein Großteil dieses Austauschs. F & F statt F & E - Famulieren und Fragen.

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