Ich hatte den Weg, der mich zu meiner Wohnung in Sarajevo, in der ich nun einen Monat verbringen werde, unterschätzt. Das wusste ich, als ich sah, wie die Frau, die mir netterweise den Weg zeigen würde, meinen großen Rucksack musterte. Sie war der erste Mensch, den ich auf den Straßen von Sarajevo angesprochen habe und sollte auch die letzte Person sein, die ich am Tag meiner Abreise sehen würde.
Ich war erleichtert, endlich bei dem Haus angekommen zu sein und setzte mich erstmal auf die Holzbank im Garten. Es kam mir unwirklich vor, nach all der Vorbereitung und der anstrengenden letzten Semesterwoche nun endlich hier zu sein und ich konnte nur ungefähr ahnen, was mich erwarten würde. Ich schien hungrig ausgesehen zu haben, denn die ältere Dame, die im mittleren Stockwerk des Hauses wohnt, brachte mir ein Festmahl, serviert auf einem silbernen Tablett mit einem Glas Orangensaft. Am nächsten Tag freute ich mich darauf, mit der Stadterkundung zu beginnen. Die hellen Gebäude, der Fluss, der sich hindurchschlängelt, Sarajevos Rosen als Erinnerung an die Orte, wo durch Bombeneinschläge während der Jugoslawienkriege Menschen umgekommen sind, die Altstadt (Basčarscja) mit dem „Pigeon square“, der seinem Namen alle Ehre macht, das berühmte Film-Festival, die kleinen Teegeschäfte und Restaurants, die Museen … und ab und an hielt ich Inne im Trubel der Stadt und versuchte, mich hineinzuversetzen, wie es wohl früher an dies oder jenem Ort ausgesehen haben muss, es gelang mir nur manchmal. Durch geführte Stadttouren bekam ich dann nochmal einen ganz anderen Blick, mir waren einige Dinge bis dahin noch gar nicht aufgefallen und ich lernte Neues über die Historie der Stadt.
Ich war sehr gespannt darauf, was mich wohl in der Kinderklinik, in der ich nun vier Wochen famulieren werde, erwarten würde. Mit vielen Fragen und großer Neugierde nahm ich an der allmorgendlichen Frühbesprechung teil, bei der die wichtigsten Informationen über die Kinder zusammengefasst wurden. Ab und an hielt ein Arzt/eine Ärztin auch einen Vortrag über ein medizinisches Thema, was mich sehr interessierte. Die erste Woche verbrachte ich auf der Neonatologie, wo ich vor allem mit der Visite mitlief und versuchte, etwas zu verstehen oder jemand zu finden, der mir auf Englisch meine Fragen beantwortete. Nach ein paar Tagen wusste ich dann, auf wen ich nach der Frühbesprechung zugehen würde, um zu fragen, ob ich den Tag mit ihr/ihm auf Station verbringen dürfte. So famulierte ich in dem Monat in der Kindernephrologie, Pneumologie (wo ich unter anderem die Lungenuntersuchung übernahm), Onkologie und Ambulanz, in der ich einem Arzt ab und an bei kleineren Operationen assistieren konnte. Eines meiner schönsten Erlebnisse war, bei einem Kaiserschnitt dabei zu sein und danach die Untersuchung des Säuglings zusammen mit der Kinderärztin durchzuführen.
In den Momenten, in denen es nichts für mich zu tun gab, suchte ich das Gespräch zu manchen Assistenzärzt*Innen, in denen es um Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Medizinstudiums in Deutschland und Bosnien-Herzegowina, die hohe Arbeitsbelastung im Krankenhaus und den Personalmangel ging, der vor allem der Tatsache geschuldet ist, dass Viele nach Abschluss ihres Studiums unter anderem nach Deutschland zum Arbeiten gehen. Immer wieder hörte ich in diesem Zusammenhang auch die Frage, warum ich als Deutsche gerade in dieses Land gehen würde. Ich hatte mir schon im Vorhinein Gedanken darüber gemacht, was ich entgegnen könne, und antwortete meistens, dass ich unter anderem die Erfahrung eines anderen Gesundheitssystems spannend fände und außerdem nur so wenig über den Balkan und Bosnien-Herzegowina wisse. Trotzdem blieb in mir ein komisches Gefühl und ich blieb etwas ratlos zurück.
Meine freie Zeit nutzte ich, um Sarajevo und die umliegenden Orte zu erkunden. So besuchte ich viele Museen, in denen es um die Geschichte des Landes und die Jugoslawienkriege ging. Besonders bewegte mich die Fotoausstellung 11/07/95 von Tarik Samarah, die das Ziel hat, an die Genozide in Srebrenica, eine von der damaligen UN als „Sichere Zone“ bezeichnete Stadt im Osten des Landes, zu erinnern. Alles war schwarz, die Wände, der Boden, und weiter hinten im Raum lief ein Film, ab und zu waren Schüsse und Schreie zu hören. Nach und nach verlor ich immer mehr das Zeitgefühl und es hätte gut sein können, dass ich schon eine halbe Ewigkeit hier war. Es war ein merkwürdiges Gefühl, als ich nach der Ausstellung wieder auf die Straßen Sarajevos trat, die Sonne schien hell, Menschen liefen geschäftig auf und ab, in mir der Nachhall aller Geschichten, Bilder, Erinnerungen und Gesichter.
„Skakavac?“, rief ich der Menschengruppe zu, die mir entgegen kamen und zeigte in die Richtung, in der ich den Wasserfall vermutete. Die Art, wie sie lachend nickten und mir viel Erfolg wünschten, gab mir das Gefühl, dass es nicht oft vorkam, dass jemand diese Strecke in die Berge mit dem Fahrrad fuhr. Um mich herum war es still geworden, nur der Schotter unter meinen Rädern und mein Herzschlag waren zu hören. Der Weg schlängelte sich den Berg hinauf, immer wieder hielt ich an, um den atemberaubenden Ausblick zu bewundern. Endlich erreichte ich eine Holzhütte, in der mich feiernde Menschen und ein sehr freundlicher Wirt erwarteten. Als er mich fragte, wie ich hier her gekommen sei, da es ja mittlerweile schon dunkel wäre und ich ihm von meinem Aufstieg schilderte, rief er durch den ganzen Raum: „Das ist Alina und sie ist mit dem Fahrrad zu uns gefahren!“. Er nahm meine Bestellung auf und bot mir einen Schlafplatz für die Nacht an. Ich war berührt von seiner Gastfreundschaft und freute mich, bald schlafen zu gehen. Am nächsten Morgen wanderte ich zu dem Wasserfall. Es war ein schattiger Weg durch den Wald, Tau lag auf den Blättern und ab und an war ein Kuckuck zu hören. Irgendwie schön, dem Trubel der Stadt für eine kurze Zeit entkommen zu sein.
So verging die Zeit in Sarajevo wie im Fluge und eh ich mich versah, saß ich schon im Bus, der mich in den Norden des Landes nach Tuzla bringen würde. Ich freute mich darauf, die nächsten drei Wochen in dem Projekt „Snaga Žene“, was so viel wie „Frauen-Power“ bedeutet, zu verbringen. Diese Organisation widmet sich der psychotherapeutischen Unterstützung von Frauen, die während des Krieges in den 90er Jahren innerhalb des Landes flüchten und Gewalt erfahren mussten. Es werden Näh- und Sprachkurse, sowie weitere kreative Workshops angeboten. Zwei Mal in der Woche trifft sich eine Gruppe von Jugendlichen, die unter schwierigen familiären Situationen leiden, um mit einer Sozialarbeiterin über Themen wie Liebe, Freundschaft und Erwachsenwerden zu reden. Außerdem arbeitet eine Erzieherin jeden Tag mit Kindern zusammen, deren Familien sich keinen Platz in einem Kindergarten leisten können.
Ich verstand nicht viel, als ich das erste Mal an einer Gruppentherapiestunde teilnahm, doch wusste ich, dass jede Frau nacheinander davon erzählte, wie es ihr gerade ginge, was sie beschäftige und belaste. Manche stickten Blumen auf einen weißen Stoff, andere nähten eine Tischdecke. Am Ende umarmte mich eine der Frauen und gab mir einen Kuss. Die Therapeutin erklärte mir nach der Sitzung, dass viele dieser Frauen vergewaltigt wurden, ihren Mann oder ihre Kindern verloren haben und teilweise nicht genug Geld für ein Essen aufbringen können. Mich berührte sehr, wie ich von den Frauen aufgenommen wurde und dass sie mich teilhaben ließen an dem Prozess, in dem sie sich gerade befinden.
Eine meiner Hauptaufgaben war, Lavendel zu sieben, um aus den Blüten Tee und Lavendelkissen herzustellen, die auf Märkten verkauft werden. Der Ertrag geht schließlich an die Frauen, die den Lavendel auf den Feldern in den umliegenden Dörfern geerntet haben. Außerdem finanziert „Snaga Žene“ Familien aus den umliegenden Orten um Tuzla Gewächshäuser, sodass sie dort Obst und Gemüse anbauen können, um sich zu versorgen oder etwas von der Ernte zu verkaufen. Nachmittags arbeitete Branka, eine Ärztin, die damals „Snaga Žene“ mitbegründet hat und Präsidentin der Organisation ist, in ihrer Praxis, in der sie mir Vieles über die Sonografie des Abdomens erklärte und zeigte. Es war spannend für mich, über die Krankenhausfamulatur in Sarajevo hinaus einen Einblick in den Praxisalltag einer Hausärztin in Bosnien-Herzegowina zu erhalten. Gleichzeitig faszinierte mich die Art, wie sie mit den Patient*Innen umgeht und wie viel Energie sie bis zum Ende des Tages aufbrachte.
Die Häuser sahen alle gleich aus und doch hatte jedes etwas Individuelles. Lag es an den Menschen, die auf Plastikstühlen in ihrem Vorgarten saßen, an der bunten Kleidung auf der Wäscheleine oder den Spielsachen der Kinder, die herumlagen? Ich kam mir irgendwie überflüssig vor, wie ich so da stand und nichts so richtig verstand. Doch spürte ich, dass sich eine der Frauen aus Jezevac in der Diskussion, die die Bewohnerinnen der Siedlung führte, nicht verstanden fühlte. Später erklärte mir die Sozialarbeiterin, dass „Snaga Žene“ einer Familie ein Gewächshaus bauen möchte, damit diese trotz Arbeitslosigkeit des Vaters und finanzieller Probleme ihr eigenes Gemüse anbauen kann. Auch erzählte sie, dass es für die Kinder aus der Flüchtlingssiedlung, die zu Zeiten des Krieges erbaut und in denen viele Menschen seitdem leben (da sie aus verschiedenen Gründen nicht zurückkehren konnten oder wollten), sehr schwierig ist, Anschluss in der Schule zu finden und teilweise als „die Kinder von Jezevac“ bezeichnet werden. Als wir wieder im Auto auf den Weg zurück nach Tuzla sitzen, gehen mir sehr viele Dinge durch den Kopf, mir fällt es schwer, alle Gedanken zu fassen: Wer bin ich für die Menschen dort? Und inwiefern habe ich das Recht, über ihr Wohlbefinden zu urteilen? Wie könnte man es schaffen, dass diese Siedlung und ihre Bewohner*Innen nicht als Außenseiter gelten, sondern integriert werden?
So viele Fragen, Geschichten, Menschen, Bilder, Erinnerungen und Gespräche… Ich bin überaus froh, auf diese Art Bosnien und Herzegowina ein bisschen besser kennengelernt zu haben.
Das Sprichwort sagt, wenn man von dem Wasser der Hauptmoschee in Sarajevo trinkt, so wird man eines Tages in das Land zurückkehren. Ich hoffe, es wird sich bewahrheiten.
zurück