Bosnien und Herzegowina

von Verena

Es gibt einen Park in Sarajevo, der das Wohnviertel in dem ich vier Wochen verbracht habe mit der Innenstadt verbindet. Dieser Park ist gesäumt von Grabsteinen, kreuz und quer ragen sie wie schiefe Zähne aus der Erde, als hätten sie den Kampf gegen die Witterung verloren. Sie sind so eingebettet in das Geschehen, dass ich sie nicht bemerke, bis meine Mitbewohnerin mich darauf aufmerksam macht. Sie erzählt mir auch die Geschichte des Mannes der als Statue am Ende des Parks steht, als ich mich eines Abends erschrecke, weil ich ihn kurz mit einem lebendigen Menschen verwechsle. Ein paar Wochen später werde ich ihn in einem Video sehen, er ruft seinen Sohn, der sich im Wald versteckt hat, er solle hinunter kommen. Es sei sicher und sie würden Brot bekommen. In der nächsten Sequenz spricht seine Frau, die ihn auf dem Band identifiziert hat. Dieses Video ist das Letzte, was sie von ihrem Mann gesehen hat. Hinter seinem Mahnmal leuchtet die neue Shopping Mall.


Von meiner Wohnung kann ich zu Fuß zu dem Krankenhaus laufen, in dem ich einen Monat lang arbeite. Ich darf die Morgenbesprechung verpassen, weil sie auf bosnisch ist und so begegne ich manchmal dem Nachbarsjungen in Treppenhaus, der schon wach ist und darauf besteht, dass ich mich auf seinen gelben Plastikstuhl setze, den er vor der Haustür platziert hat. Der Stuhl ist für Dreijährige konzipiert und ich versuche ihm das zu erklären, ihn scheint das nicht zu stören, irgendwann läuft er lachend weg. Es gibt ein Alter, in dem man immer eine gemeinsame Sprache hat. Ich mag die kleinen engen Gassen, die alten Sandsteingebäude, die vielen Einschusslöcher ein stummes Zeugnis der längsten Belagerung in Europa seit Ende des zweiten Weltkrieges. Mein Weg führt vorbei an einem anderen Park mit seltsamen Skulpturen. Irgendwo dahinter liegt das Kino Bosnia mit seiner unendlichen Auswahl an Rakia und den verrauchten Montagabenden mit den alten bosnischen Liebesliedern. Mit etwas Glück findet man jemanden, der simultan übersetzt. Ich laufe vorbei an kleinen Bäckereien, die Burek und Pide verkaufen, an dem Kiosk mit dem Automatenkaffee, der erstaunlich gut ist, dann weiter eine Straße hinauf, die sich wie eine Wendeltreppe nach oben schlängelt. Das Universitätsklinikum von Sarajevo ist das größte des Landes mit medizinischer Maximalversorgung. Die meiste Zeit werde ich in der Notaufnahme verbringen, ein Teil davon ist frisch renoviert, insgesamt sind das Geld und die Ressourcen knapp und die neue Klinikdirektorin hat Einsparungen angeordnet. Ökonomisch gesehen ist Bosnien ein armes Land, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei fast 50%, letztes Jahr haben 170.000 Menschen unter 35 das Land verlassen um im Ausland zu arbeiten. Das sei so viel wie die Bevölkerung von Banja Luka, der Hauptstadt der Republika Sprska, wie mir jemand bei einem Kaffee erzählt.

 

Ich habe ein bisschen bosnisch gelernt, aber viele Menschen sprechen deutsch mit mir. Manche haben es gelernt als sie als Geflüchtete hier waren, andere lernen es gerade um später im deutschsprachigen Ausland arbeiten zu können. Ich unterhalte mich viel mit den Mitarbeiter*innen bei einem Kaffee oder einer Zigarette, angeboten wird mir immer etwas, hierarchische Ausschlusskriterien sind hier aufgeweicht. Einige sind irritiert. Du kommst aus Deutschland, was zum Teufel machst du in Bosnien? Zuhause haben mir die meisten viel Spaß in Serbien gewünscht. Seit 1992 ist Bosnien-Herzegowina unabhängig, ehemals Jugoslawien, ehemals Österreich-Ungarn, ehemals osmanisches Reich. Ein Vielvökerstaat, Bosniak*innen, Serb*innen und Kroat*innen, unter Tito sagen die meisten, sei es friedlich gewesen. Tito ist tot seit 1980, in den 90er Jahren folgte der Unabhängigkeit der sogenannte Bosnienkrieg, heute gibt es drei Präsidenten und einen Vorsitz der alle acht Monate rotiert. Die Regierung sei korrupt und ineffizient, die Bevölkerung gespalten, in manchen Städten gibt es faktische Teilungen. Nach einem Zensus 2013 stellen muslimische Bosniak*innen noch immer den Großteil der Bevölkerung, die Bosnier*innen sagen, sie seien Europäer*innen. In vielen Köpfen heutzutage geht das nicht mehr zusammen.


Sarajevo liegt wie in einem Kessel, es fängt das Wetter ein wie ein Frosch die Fliegen und so ist der Sommer durchzogen von Hitze und Gewittern, die Kühle ist angenehm bei den Kletterpartien in den umliegenden Hügeln. Die gelbe Festung ist ein Aussichtspunkt von dem aus man die gesamt Stadt überblicken kann. Alle die mich besuchen schleife ich hier hinauf, die Aussicht macht den Steilhang wett. Der Abstieg führt fast immer in ein kleines Teehaus am Fuße des Hügels, der Besitzer spricht fast jede europäische Sprache, nach dem zweiten Besuch gehöre ich für ihn zur Familie. Ich erinnere mich wieder, wie sich ankommen anfühlt.


Hinter der Innenstadt, nach ein paar Stationen mit der Straßenbahn, liegen die sozialistischen Wohnblocks, das Maskottchen der olympischen Winterspiele von 1984 grinst überlebensgroß von einer Hauswand. Für 20 Euro kann man eine Tour zu dem Tunnel machen, der Sarajevo während der Belagerung mit der Außenwelt verband. Gegraben unter dem Flughafen hindurch, fast 5 Jahre lang der einzig wirkliche Zugang zu Hilfsgütern. Ein Rätsel, wie die Menschen ihn so lange versteckt halten konnten. Dort bekomme ich auch eine Einführung in die verschiedenen Typen von Landminen, noch immer gibt es Sperrgebiete, für eine flächendeckende Entschärfung fehlt das Geld. Viele Menschen fragen mich, ob ich finde, das Bosnien ein armes Land sei, die sichtbaren Indikationen sind nicht so ausgeprägt wie man es erwarten würde, viele sagen, man würde immer eher zurück zur Familie gehen als auf der Straße zu leben. Ich erspare mir die Romantisierung von sozialer und ökonomischer Ungleichheit.


Ein Wochenende verbringe ich in Mostar, der Stadt mit der berühmten Brücke, von der Menschen als Touristenattraktion hinunter in den Fluss springen. Auf der Fahrt dorthin wird mir bewusst, wie schön das Land ist. Mostar liegt in Herzegowina mit mediterranem Klima, an einem Fluss in Blagaj haben ein paar Leute aus Brettern eine Bar gezimmert, dort kann man gut einen Tag verbringen ohne es zu merken. In der Stadt sind die Kriegsspuren deutlicher, hier wurde viel weniger wieder aufgebaut und renoviert als in Sarajevo. Die Brücke markiert die Teilung der Stadt, es gibt einen bosniakisch-muslimischen und einen kroatisch-katholischen Teil, über die Brücke laufen meist nur Tourist*innen. Als wir von der Innenstadt zurück zu unserem Auto laufen, mache ich eines der vielen Häuserwandfotos dieses Sommers. Jemand hat eine Rose auf die Fassade eines alten Hotels gemalt, das gerade abgerissen wird. Darüber steht „War ist not over.“


Im September steige ich in einen Bus nach Tuzla, eine Industriestadt etwa 150 km nördlich von Sarajevo, berühmt für die Badesalzseen mitten in der Innenstadt, berühmt auch für Arbeiter*innenaufstände unterstützt von Studierenden 2014. Ein Projekt für einen Monat zu finden ist nicht einfach, am Ende steht schlicht die Erkenntnis dass man das mehr für sich selbst tut als wirklich eine Hilfe zu sein, der alte Konflikt der Freiwilligenarbeit. Die NGO die ich drei Wochen begleite heißt übersetzt so viel wie „Kraft der Frau“ und wurde Ende der 90er Jahre gegründet um Frauen zu helfen, die Opfer von Kriegsvergewaltigungen geworden waren. Die offiziellen Zahlen varriieren zwischen 50.000 und 250.000, obwohl Frauen mittlerweile sogar eine staatliche Opferrente beantragen können, ist das Thema weitestgehend tabuisiert. Das Budget für die Opferrente erzählt mir die Ärztin, würde jeden Monat neu bestimmt, manchmal gibt es keines. Neben Traumaarbeit geht es auch um Rechts-und Sozialberatung, um Hilfe zur Selbsthilfe, um religiöse Aussöhnung. Ich werde überall mit hingenommen, es gibt Frauengruppen in verschiedenen Städten, nicht alle dort sind selbst Opfer, manchmal auch nur Rentner*innen aus der Nachbarschaft, die gerne Gesellschaft haben. Für die Frauen ist auch das stabilisierend. Ein paar mal fahren wir in sogenannte Flüchtlingslager in denen ganze Familien bereits in der dritten Generation leben. Faktisch gleichen sie eher Siedlungen, Strom und Wasser sind kostenlos, die Regierung und ausländische Geldgeber finanzieren. Maßgeblich die Niederlande, es sind vor allem Binnengeflüchtete aus Ostbosnien, der Name Srebrenica hängt wie ein Damoklesschwert in der Luft. Ich frage warum die Menschen 20 Jahre nach Kriegsende noch immer in gewisser Weise isoliert leben, man erklärt mir, dass es in ihren Heimatregionen keine Infrastruktur mehr gebe, viele seien aus kleinen Dörfern und wer will schon  zurück wenn von neun Familien acht tot sind. Das Gegenteil von gut ist manchmal gut gemeint.


Zwei Wochen nach meiner Ankunft stehe ich auf dem Hof einer ehemaligen Batterienfabrik in Potocari, ungefähr fünf Kilometer von Srebrencia entfernt. Auf der anderen Straßenseite steht das Memorial mit über 8000 weißen Grabsteinen, links daneben ein Maisfeld, dorthin wurden viele für die Exekutionen gebracht. Ich höre dem Kurator zu der seine Geschichte erzählt, er war einer derjenigen der den Marsch durch die Berge nach Tuzla überlebt hat, auf einem der Videos ist er als junger Mann kurz zu sehen. Er sagt das, dass der Krieg immer bei einem bleibt. Die Angst nicht sicher zu sein, dass alle Institutionen, die vornehmlich dafür gegründet wurden versagen, hier ist sie schon Realität geworden. Ein paar Wochen zuvor war ich in einer Ausstellung über Srebrenica, das alles erwischt mich erst eine Zeit später als ich an einem Tresen im Krankenhaus stehe, wie eine Flutwelle schlägt es über mir zusammen. Die andere Kuratorin fragt mich, warum ich nicht ans Meer fahre, sondern meine Freizeit in einer Gedenkstätte für einen Genozid verbringe, das habe sie noch nie verstanden. Meine Mitbewohnerin sagt dazu war tourism. Ich antworte dass ich keine Ahnung hätte, vielleicht weil ich aus Deutschland sei, da sei Völkermord kein unbekanntes Thema. Dass das polemisch und bitter sarkastisch ist, weiß ich. Manchmal hilft einem das über den Tag.
Nach sieben Wochen sitze ich wieder in einem Bus, der mich in 24 Stunden und über vier Grenzen hinweg zurück nach Hause bringt. Wenn man auf dem Balkan unterwegs ist, lohnt es sich, es zu besuchen.


Ein paar Stunden bevor ich diesen Text schreibe ist jemand mit einem Lastwagen in einen Weihnachtsmarkt gerast und ich frage mich, wann die ersten „Je suis Berlin“ Bekundungen über  meinen Bildschirm flimmern werden. Oder warum eigentlich niemand Istanbul oder Aleppo ist. Am Ende verläuft sie immer noch da, die Grenze, zwischen oben und unten. Der Krieg ist nicht vorbei.

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