Türkei

von Britt Schoenrock

„Liebe Britt, das f&e-Team hat am vergangenen Samstagabend entschieden, dass wir Dich im Sommer 2016 bei "famulieren & engagieren" sehr gerne dabei haben wollen, und zwar in der Türkei.“ – Moment, Türkei?! Izmir?! Okay, Google, alle News zu der aktuellen Situation in der Türkei, bitte… das war Ende April 2016, Erdogan und die EU waren in hitzigen Verhandlungen über das Flüchtlingsabkommen.

Nach der ersten Schockstarre, die mit dieser Email verbunden war, habe ich freudig alle Verwandten und Freunde angerufen, um zu erzählen, dass ich im Sommer in die Türkei fliegen werde. Viele konnten meine Begeisterung nicht ganz teilen und schienen sich eher Sorgen zu machen. Häufig kam auch die Frage: „Musst du dann dort ein Kopftuch tragen?“
Durch meinen Vorgänger hatte ich schnell ein paar Kontakte in Izmir, die mir bei der Wohnungssuche halfen und auch die Koordination und Organisation mit dem Ansprechpartner Bülent Kilic in Izmir lief reibungslos per Mail.

15.07.2016 Whatsapp- Nachricht von meinem Bruder um 23:17 Uhr: „Guck mal Nachrichten. Militärputsch in Türkei. Kontrolle über Regierung, Flughafen besetzt. Keine Ein- und Ausreise. Erdogan ruft seine Anhänger zum Widerstand auf.“

16.07.2016 04:17 Uhr Erdogan spricht zu seinem Volk und der Putschversuch gilt als gescheitert.
Nach langer Diskussion mit meiner Familie und vielen Gesprächen mit meinen Kontakten in Izmir, stieg ich am 7. August ins Flugzeug nach Izmir.

 

Unterkunft & Famulatur


In Izmir habe ich mit zwei Medizinstudentinnen etwa 15min von dem DokuzEylülÜniversitetHastane entfernt in einer WG gewohnt. Die Wohnungen dort sind fast alle für drei Bewohner ausgelegt mit einem großen Wohnzimmer. Da wir so nahe an der Uni gewohnt haben, diente unser Wohnzimmer oft als Gemeinschaftsschlafsaal. Die Uniklinik liegt im südlich gelegenen Stadtteil Balcova, wo auch die meisten Medizinstudenten ihre Wohnungen haben.
Die vierwöchige Famulatur absolvierte ich auf der Nephrologie, wo zu der Zeit drei PJlerinnen waren, die alle Englisch konnten und mir viel übersetzt haben, da ich mit meinem basic-Sprachkurs auf Station doch sehr überfordert war. Die Ärzte und der Professor waren alle sehr bemüht und darauf bedacht mir etwas beizubringen und so wurde auch ich jeden Morgen bei der Visite mit Medikamente abgefragt. Die medizinische Ausbildung an dem Krankenhaus ist sehr gut und ähnlich dem Studiengang in Berlin praktisch orientiert.
Dennoch läuft in einem türkischen Krankenhaus alles ein wenig langsamer ab, als in einem deutschen. Konsilanfragen brauchen manchmal eine Woche und der Termin zur Koloskopie in drei Monaten kann nur durch eine private Spende an den Arzt beschleunigt werden. Des  Weiteren gibt es keine Pflegekräfte auf den Stationen. Krankenschwestern nehmen Blut ab, stellen Medikamente und kümmern sich um die Dialyse, aber die Pflege übernimmt die Familie.
Außerdem gibt es in der Türkei noch keine Palliativstationen, sodass auf unserer Station oftmals Krebskranke Patienten lagen, die man aufgrund ihrer schlechten Nierenfunktion nicht entlassen konnte, aber die Ursache auch nicht heilen konnte.


Die Ausstattung auf den Stationen ist zwar nicht auf dem neuesten Stand, funktioniert aber noch prächtig. Und so lernt man noch eine Aszitespunktion ohne Ultraschallkontrolle.
Meine letzte Woche in Izmir verbrachte ich in dem Department of Public Health, dem Department des organisatorischen Ansprechpartner, Hoca Kilic. Dort habe ich einen Tag in die arbeitsmedizinische Abteilung reingeschnuppert, einen Tag in der noch neuen Abteilung für Berufskrankheiten verbracht und einen Tag habe ich eine ambulante Klinik für Flüchtlinge in Konak besucht.
Neben den Erfahrungen in dem türkischen Gesundheitssystem habe ich viele wundervolle Menschen kennen gelernt. Sei es auf Station, in der Mensa oder auf dem Markt- überall trifft man auf die legendäre türkische Gastfreundschaft. Ich wurde immer herzlich aufgenommen, integriert und in die türkischen Weisheiten des Kaffeesatzlesens eingewiesen.
Es waren fünf unvergessliche Wochen, die ich in der Türkei verbracht habe,dank der Menschen, die ich dort kennen lernen durfte und die mir sehr ans Herz gewachsen sind!


Chios


Da die politische Lage in der Türkei zu der Zeit ein wenig instabil war und meine Türkischkenntnisse unzureichend waren, hatte ich Schwierigkeiten dort ein soziales Projekt zu finden. Daher bin ich mit der Fähre nach Chios übergesetzt, um auf der griechischen Insel bei der Organisation CESRT (Chios Eastern Shore Response Team) mitzuarbeiten.
Die Organisation wurde von einer Inselbewohnerin im Sommer 2015 gegründet, als immer mehr Refugeesnach Chiosübersetzten. Die Ägaeis ist zwischen dem türkischen Festland (Cesme) und Chios nur 7km breit. Daher bietet sich Chioswie Lesbos oder Samos an, um von der Türkei in die EU zu gelangen, besonders seit die Balkanroute seit Anfang diesen Jahres „dicht“ ist.
Wie der Name bereits impliziert, konzentrierte sich die Arbeit der Organisation, die komplett auf Spendengeldern und Freiwilligenarbeit basiert, auf die ankommenden Boote an dem süd-östlichen Küstenabschnitt der Insel. Dazu gehört nächtliche Patrouille an der Küstenstraße und im Falle eines ankommenden Bootes Erstversorgung mit Decken, Wasser, Snacks und trockener Kleidung.


Seit dem EU-Türkei-Deal im März 2016 kommen deutlich weniger Boote auf Chios an, allerdings bleiben die Refugees deutlich länger, sodass die Camps dauerhaft überfüllt sind.
Auf Chios gab es zu dem Zeitpunkt, als ich dort ankam, drei Camps: Vial (1500 Bew.) wird vom Militär geführt und unsere Organisation hatte keinen Zugang zu dem Camp, Souda (1500 Bew.)und Dipethe(300 Bew.) liegen direkt in Chiosstadt.
Die Camps sind nicht für eine dauerhafte Unterbringung geeignet und dennoch stecken viele Menschen seit sechs Monaten dort fest und kommen nicht weiter. Um die Campbewohner, wovon viele Frauen und Kinder sind, zu beschäftigen, bietet CESRT Englisch- und Deutschunterricht im Park, Spielnachmittage und Bastelaktivitäten für Kinder, sowie eine Boutique an, in der gespendete Kleidung ausgegeben wird.


In den zwei Wochen, die ich auf Chios war, habe ich gelernt, wie privilegiert ich als Deutsche bin und wie glücklich ich mich schätzen kann in Frieden aufgewachsen zu sein. Ich habe auf Seiten der Campbewohner, wie auf Seiten der anderen Freiwilligen bewundernswerte Charaktere kennen gelernt. Und wenn nur ein paar mehr Menschen deren Stärke, Freundlichkeit und Uneigennützigkeit hätten, wäre die Erde ein besserer Ort.
Wie groß muss das Grauen sein, das eine Mutter dazu bewegt sich mit ihrem 14-Wochen alten Säugling mit 30 anderen Menschen in ein Schlauchboot zu setzen?  
Wie groß muss die Heimatliebe eines Mannes sein, dass er sich erst auf die Flucht begibt, nachdem seine Nachbarschaft zerbombt wurde?
Wie stark muss ein 16-Jähriger sein, um sich alleine auf den Weg in ein fremdes Land zu machen und trotz der Erfahrungen, die er auf der Reise gemacht hat, einem mit einem Lächeln begegnet?
„Reisen ist das Entdecken, dass alle Unrecht haben mit dem, was sie über andere Länder denken.“ (ALDOUS HUXLEY)

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