Famulieren und engagieren: In ersten Linie verband ich das ganze Projekt im März des letzten Jahres schon länger mit der IPPNW. Die Projektberichte der letzten Jahre hatte ich ausführlich durchstöbert und immer wieder darüber nachgedacht, mich zu bewerben. Schlussendlich tat ich es dann aber doch erst 2015. Und es war eine unglaubliche Erfahrung!
Auf der Suche nach einer Möglichkeit, eine Famulatur auch mit einem guten Stück eigenem Engagement zu verbinden, fand ich das Konzept von Famulieren & Engagieren in der IPPNW sehr durchdacht: Eine persönliche Auswahl, ein bunter Ländermix und Vor- sowie Nachbereitungswochenenden klangen nach einem ausgezeichneten Plan – und sind es auch!
Meine eigentlichen Wunschländer waren Nepal und Japan (ich kannte auch schon Kommiliton/innen, die dort gewesen sind). Als dann auch noch die Zusage für Nepal kam, war ich ganz aus dem Häuschen! Leider überschattete das direkt der Zusage folgende Erdbeben im April die erfreuliche Nachricht...glücklicherweise blieben die Beteiligten am Austauschprojekt aber in engem Kontakt zur IPPNW und unversehrt. Wir entschieden uns allerdings dafür, den Austausch nach Nepal nicht durchzuführen, da es für die Helfer/innen vor Ort zuerst einmal einen großen zusätzlichen Aufwand bedeutet hätte, mich einzuarbeiten. Obwohl ich den Drang verspürte, gerade dann nach Nepal zu reisen, war mir klar, dass ich wahrscheinlich keine Hilfe, sondern eher Belastung sein würde.
In diesem Moment ergab sich durch die Absage einer anderen F&E-lerin der freie Platz für den Austausch nach Indien, dem ich begeistert zusagen konnte.
Da mir Philipp aus dem letzten Jahr F&E in Indien sagte, ich solle lieber besonders offen als vermeintlich gut belesen über Indien sein, tat ich das und beschränkte meine Neugier auf dieses vielfältige Land auf den Reiseführer und ein paar Dokus. Der Rest war dann eine sehr angenehme gemeinsame Organisation mit meiner Gastfamilie, den Kurveys.
Die Anreise
Da ich auf die andere Seite des Kontinents musste: mit dem Flugzeug. Es gibt zwar auch spannende Möglichkeiten mit Zug und / oder dem Schiff nach Indien zu reisen. Für den Geldbeutel oder das Zeitmanagement ist das aber leider dann doch meistens nicht drin. Bei den Vorbereitungen zur Reise ist zu sagen, dass man möglichst früh das Visum beantragen sollte, denn man weiß nie, was möglicherweise noch fehlt, geändert werden muss oder sonstwie der (doch recht britisch anmutenden) indischen Bürokratie nicht genügt. Da der Gastort Nagpur nicht sehr berühmt ist, dafür aber zentral in Indien liegt, gehen viele günstige Inlandsflüge und Züge dorthin. Man muss sich also keinerlei Sorgen um die Erreichbarkeit machen.
Die Gastfamilie & die Stadt Nagpur
Untergebracht war ich bei der unglaublich gastfreundlichen Familie Kurvey. Die Familie betreut das F&E-Programm nun schon viele Jahre in Indien und freut sich jedes Mal über neue Gesichter. Hauptsächlich hatte ich Gesellschaft von Herrn Kurvey, seines Zeichens ehemaliger Geschichtsprofessor, da seine Ehefrau, Gynäkologin mit eigener Praxis unter der Wohnung, gerade bei der Tochter in Großbritannien war.
In der Stadt Nagpur war die Wohnung im Ostteil. Allgemein gilt dieser als der weniger gut betuchte, denn das komplette Regierungsviertel liegt im Westen der Stadt. Alle anderen Freiwilligen, die ich traf, waren ebenfalls im Westen untergebracht. Die haben allerdings auch nichts im Ostteil kennen gelernt. Man merkte den Unterschied in der Bebauung und vor allem der Straßenqualität (ein ständiger Kritikpunkt Dr. Kurveys) deutlich. Denn vor allem Bestechung ist an der Tagesordnung, auch bei der Auswahl der Materialien zum Straßenbau. Und wenn dann, wie auch dieses Mal, der Monsun zuschlägt, dann stehen die günstigen Straßen ohne Ablauf schon einmal 3 Meter unter Wasser. Allerdings bekommt man in diesem Stadtteil deutlich mehr des durchschnittlichen indischen Lebens mit, denn kaum ein Ausländer hält sich hier auf. Also genoss ich die Möglichkeit, diverse Male tolle Ausflüge zu Bekannten und sogar der Orangenplantage der Kurveys mitzuerleben.
Die Famulatur
Meine Famulatur wollte ich unbedingt in einem Krankenhaus des öffentlichen Gesundheitswesens absolvieren, da ich wusste, dass die private Versorgung unserem europäischen Standard sehr ähnlich, aber nur für privilegierte Bürger verfügbar sein würde. Also schaffte Dr. Kurvey es, mich im „Governmental Medical College“, der Universität in Nagpur, unterzubringen.
Was ich dort für 4 Wochen erleben durfte, war wirklich eindrücklich. Vorab: Am meisten beeindruckte mich, wie die ansässigen Ärzt*innen mit den geringen technischen Mitteln, aber unglaublich großer Erfahrung, die Patient*innen klinisch kompetent versorgten. Im Bezug auf theoretisches Wissen waren die internistischen Ärzt*innen außergewöhnlich gebildet, so dass man mit Recht behaupten kann, wandelnde „Harrisons“ vor sich gesehen zu haben.
Ich begann meine Arbeit in der internistischen Abteilung und wurde sehr nett aufgenommen. Es war für mich sogar etwas eigenartig, fast als Assistenzarzt behandelt zu werden, denn die PJler in Indien führen eher den halben Tag Hilfstätigkeiten aus. Dafür hatte ich die einmalige Chance, sehr viel von den Oberärzt*innen zu lernen und einige der besten Bed-Side-Teachings zu bekommen, die ich je erlebt hatte. Das Spektrum der Erkrankungen war breit, jedoch dominierten in der Inneren besonders neurologische Fälle. Denn die meisten kommen nicht in eine sogenannte „Super-Specialty“-Klinik, sondern erst einmal in die Abteilung der Inneren Medizin. Ich konnte also allerhand Erkrankungen sehen, wobei auch hereditäre Erkrankungsbilder wie die Friedreich-Ataxie vorkamen. Außerhalb des neurologischen Spektrums kam allerdings ein besonderer Schwerpunkt der Infektiologie zu. Hier kam von Malaria bis Dengue an tropischen Krankheiten alles vor. Generell wusste die Ärzteschaft auch gut damit umzugehen, jedoch wurde ich einige Male gefragt, warum ich das Risiko einer Ansteckung (Aedes aegypti sticht ja immerhin auch tagsüber) denn eingehen würde. Insbesondere bekamen die Nachfragen eine besondere Aktualität, als dann nach meiner Famulatur in Delhi in Dengue-Fieber-Ausbruch begann. Negieren konnte man eine erhöhte Ansteckungsgefahr nicht, doch ließen wir alle Vorsicht walten: Auch in der Hitze lange Ärmel, jeden Tag mindestens zweimaliges Waschen und niemals das Moskitonetz über dem Bett vergessen, auch wenn es 35°C in der Nacht ist!
Nach der morgendlichen Visite und den Untersuchungen gab es dann fast jeden Nachmittag ein zwei- bis dreistündiges Seminar, das von den Assistenzärzt*innen gehalten wurde. Dort wurden spannende Patientenfälle sowie Forschungsergebnisse präsentiert. Das alles geschah auf hohem medizinischen Niveau, jedoch für Studierende aus Deutschland eventuell etwas ungewohnt: Denn die Patient*innen lagen die meiste Zeit während der Präsentation auf einer Liege und sprachen selbst nicht. Lediglich die Pathologien und Untersuchungsvorgänge wurden von den jungen Ärzt*innen an ihnen präsentiert. Trotzdem schien das die Patient*innen nicht zu stören, denn sie erhielten gleichzeitig die beste Behandlung durch die kompetente Diskussion ihres (meist komplexen) Falles.
Am Ende meiner zweiwöchigen Zeit in der Inneren Medizin ging ich dann auch noch auf die Intensivstation. Dort bot sich mir dann noch einmal ein ganz anderes Bild der Versorgung. Es gab zwar eine „Schleuse“ (ein Gittertor), allerdings sonst nicht viel, um die Räume zu klimatisieren oder irgendwie von der Außenwelt abgeschottet zu halten. Eigentlich war der größte Unterschied, dass über jedem Bett ein moderner Medizinischer Monitor hing, wo die Vitalwerte überwacht werden konnten. Leider wurde (und konnte) dort nicht wirklich auf die Ruhe der Patient*innen geachtet werden, so dass an jeder Ecke etwas piepte und Alarme auf der chronisch überfüllten Station surrten. Bemerkenswert war, dass die meisten Behandelten auf der Intensivstation entweder Opfer von Schlangenbissen waren...oder leider einer Intoxikation mit organischen Phosphaten, meist mit Absicht der Selbsttötung. Denn die finanzielle Lage der Landwirte in Indien war im Sommer 2015 laut meinen Nachfragen katastrophal: Ein viel zu heißer Frühling und ausbleibende Ernten plus Schulden aus den letzten Jahren. Da wussten viele leider keinen Ausweg mehr...denn eine ausreichende staatliche Fürsorge gibt es nicht. Dabei betrugen die Schulden bei vielen lediglich ein paar tausend Rupien, wobei tausend Rupien gerade einmal circa 14 € sind.
Danach wechselte ich auf die allgemeinchirurgische Station und in die Dermatologie, jeweils für eine Woche. In der Chirurgie wurden hauptsächlich Routineeingriffe wie Cholezystektomien laparoskopisch durchgeführt. Allerdings gab es auch hier Mammakarzinomschirurgie, die jedoch meist nicht brusterhaltend durchgeführt wurde. Am eindrücklichsten war in der Chirurgie der unterschiedliche Umgang mit Hygiene im Vergleich zu Deutschland. Denn die strikten Regeln des chirurgischen Waschens, Hände Desinfizierens und anschließendem Anlegen steriler Einmalbekleidung wurden hier etwas lockerer interpretiert. Auch die Instrumente wurden nicht immer steril gehandhabt. Ähnliche Berichte habe ich dann auch von anderen Freiwilligen in den Krankenhäusern vernommen und fragte scheu einen Assistenzarzt: „Naja, die Hygiene ist hier nicht die beste, aber wir verschreiben dann gute Antibiotika.“ Es schien die postoperative Infektionsrate auch nicht deutlich erhöht. Das mochte aber wohl an der erwähnten Standardbreitbandantibiose gelegen haben.
In der Dermatologie waren im August hauptsächlich Pilzerkrankungen und Psoriasis zu diagnostizieren. Erstere vor allem wegen der Monsunzeit, in der dauerhaft feuchte Luftverhältnisse herrschen. Interessanterweise war auch Vitiligo ein größeres Problem und in einem indischen Dermatologiebuch waren haarklein verschiedenste Verfahren der Hauttransplantation bei Vitiligo geschildert. Schönheit spielt in Indien ebenfalls eine große Rolle. Und mit „kostenlosen Proben“ wurde durch die Hersteller auch nicht gegeizt. In einer Woche sah ich vier verschiedene Pharmavertreter in der Dermatologie.
Leider bleib mir nicht mehr Zeit, um noch andere Fachabteilungen zu erkunden, doch war die Zeit im „GMC“ eine unglaublich lehrreiche. Ich wurde herzlich aufgenommen und hoffe, die Kontakte auch für die nächste Generation F&E aufrecht erhalten zu können!
Das Sozialprojekt
Auch wie viele andere aus der F&E-Gruppe 2015 beschäftigte ich mich mit der Situation von Flüchtenden auf der Welt. Anders, als jedoch unsere Balkangruppe, war ich nicht so unmittelbar involviert. In meinem Projekt, das ich vor der Reise nach Indien über eine Internetrecherche gefunden hatte, ging es vornehmlich um Unterricht. Und zwar für tibetische Flüchtlinge, die im tibetischen Teil von China verfolgt werden. Dabei wird seit der „kommunistischen“ Revolution die buddhistische Religion unterdrückt und willkürlich Strafen verhängt. Tragischerweise protestieren viele Tibeter*innen nicht nur in Demonstrationen, sondern auch mit öffentlichem Selbstmord per Selbstentzündung.
Um die Situation und Beweggründe der Menschen kennen zu lernen, die ihre Heimat verlassen, reiste ich im zweiten Teil meines Aufenthaltes also nach Dharamsala bzw. McLeod Ganj, wo auch der Dalai Lama, das geistliche Oberhaupt der tibetischen Buddhisten, im Exil lebt und die Exilregierung von Tibet ihren Sitz hat. Ich arbeitete bei der Organisation „Lha Charitable Trust“ und gab Deutschunterricht sowie English Conversation Classes. Erstaunt war ich dabei vor allem von der Lernbereitschaft der Schüler*innen, die man selbst von deutschen Studierenden nicht so gewohnt ist. Und obwohl ich wenig Unterrichtserfahrung für das Fach Deutsch vorweisen konnte, waren sie begeistert über jede kleine Sache, die sie erlernen konnten. Eine Schülerin hat sogar in Deutschland ein Masterstudium aufgenommen, mit dem sie nachher die Situation für Tibeter*innen verbessern will. Was mich indes am meisten beeindruckte, waren die verschiedenen Geschichten der Geflüchteten, die teilweise unglaublich waren. Man stelle sich ganze Familien vor, die, um nicht entdeckt zu werden, nachts über die 6000er der Himalaya in eisiger Kälte und mit leidlicher Bekleidung dutzende Kilometer vor chinesischen Grenztruppen fliehen. Auf der anderen Seite konnte ich mir viel über buddhistische Philosophie und die verzwickte politische Situation Tibets aneignen. Denn auch die Tibeter im Exil sind sich nicht alle einig, wie man für eine Zukunft ihres Landes kämpfen sollte. Schlussendlich war ich sehr dankbar, so viel von den anderen Helfer*innen und Schüler*innen gelernt zu haben und auch etwas (kleines) gegeben zu haben.
Die „Flüchtlingskrise“
Nicht im Mindesten so akut sichtbar angespannt wie wahrscheinlich in den Balkanländern, spürte man auch in Indien die durchaus große Beschäftigung mit der sogenannten „Flüchtlingskrise“ in der EU. Nicht selten wurde ich gefragt, ob ich es nicht auch verrückt finden würde, „alle ins Land zu lassen“. Und ob Deutschland nun nicht „große Probleme bekommen“ würde. Vielerorts waren diese äußerst kritischen Haltungen auch offensichtlich mit einer Abneigung Moslems gegenüber verbunden. Denn zwischen Hindus und Moslems besteht immer noch eine große Kluft in Indien. Wenn in den großen (halbwegs seriösen) Tageszeitungen wirklich andauernd von Unruhen und Straftaten berichtet wird, kann man sich vorstellen, wo die radikalen Einstellungen ihren Ursprung haben. Denn die meisten Inder halten viel auf sich und bilden sich jeden Tag über die aktuellen Geschehnisse in der Zeitung fort.)
Die Zeit mit F&E war eine der eindrücklichsten, die ich bis jetzt erleben durfte. Es war vor allem ein Auslandsaufenthalt, in dem ich nicht nur nehmen, sondern auch etwas Kleines zurückgeben durfte. Auch wenn man sicherlich nicht die Welt verändert, kann man mit der gewonnenen größeren Offenheit unterschiedliche Sichtweisen besser verstehen und gleichzeitig auch besser Anderen nachvollziehen helfen, was man selbst denkt. Das, was Indien mich am meisten gelehrt hat ist wohl, was ich selbst denke und woher ich komme.
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