Türkei

von Gözde Sen

01.12.2012 Ich blicke um mich und sehe das weite Meer, sehe Fähren, Fischerboote und dichtbebaute Hügel. Ich erblicke Moscheen und entdecke in den alten Gassen Kirchen und Synagogen. Ich lausche dem Meeresrauschen,  den Möwen und  unterdrücke den Verkehrslärm. Ich schlendere durch den Bazar und kämpfe mich durch die Menschenmasse. Ich trinke türkischen Kaffee, frisch gepressten Granatapfelsaft und Ayran. Ich stille meinen Hunger mit Simit, Gözleme und frischem Obst. Ich fühle die Sonne auf meiner Haut und flüchte in den Schatten einer Dattelpalme. Ich begegne Traditionellem und Modernem, Armen und Reichen, Altem und Neuem, und tauche ein in ein Land voller Gegensätze. Gegensätze, die mal aufeinanderprallen, mal friedlich nebeneinander existieren und mal miteinander verschmelzen.

Es ist das Land, aus dem meine Eltern kommen und das für mich immer eine besondere Anziehungskraft hatte. Ich hatte das Glück drei Monate in Izmir, der drittgrößten Stadt der Türkei, zu verbringen. Sie ist bekannt als die modernste Stadt des Landes. Viele haben einen  westlich orientierten Lebensstil. Obwohl wir  uns mitten im Fastenmonat Ramadan befanden, waren die Kaffees und Restaurants lange vor Sonnenuntergang überfüllt. In nahezu jedem Stadtteil  findet man riesige Shoppingcenter. In den Studentenvierteln und im Stadtzentrum wird geplaudert, gesungen, getanzt, getrunken und gefeiert bis in die Morgenstunden -7-Tage die Woche. Es hieß oft „Wir leben hier wie in Europa“. Leider blicke ich auch um mich und sehe Müll auf den Straßen und Feldern, historische Gebäude die vom Verfall bedroht sind und Kinder die betteln. Ich begegne Menschen, die leidvoll von fehlender Meinungsfreiheit sprechen, Menschen, die nicht lesen und schreiben können und  Menschen, die ihre  Ziele und Hobbys nicht verwirklichen können. Ich sah, hörte und fühlte all dies während meinen  3 Wochen im Public Health, den  5 Wochen in der Gynäkologie an der Uniklinik der Dokuz-Eylül-Universität und den 2 Wochen in der Türkischen Menschenrechtsstiftung „TIHV“.

Public Health und Gynäkologie
Ich wurde herzlich willkommen geheißen von Dr. Bülent Kılıç und den anderen Mitarbeitern des Public Health der Dokuz-Eylül-Universität. Einige waren erleichtert ihre Englischkenntnisse nicht auspacken zu müssen. Der erste Tag verging mit Kaffeetrinken, Mittagessen, wieder Kaffeetrinken und Gesprächen über das Studiensystem und die  Arbeitsbedingung für Ärztein Deutschland und der Türkei. Es bestand sehr viel Interesse an Deutschland, viele Assistenzärzte oder Studenten wollen hier ihre Facharztausbildung  machen. Public Health umfasst in der Türkei u.a. die Bereiche Epidemiologie, Katastrophenmedizin, Prävention, Umwelt- und Arbeitsmedizin. Ein wichtiges Arbeitsprinzip ist die sogenannte „Community oriented primarycare“. Es besteht eine Zusammenarbeit mit den Health Centers / Toplumsalığımerkezi, einer Instanz zwischen den Family doctors und den Gesundheitsbehörden.  Alle Interns/ PJler sind sogar verpflichtet, 2 Monate des PJ im Public Health zu absolvieren. Ich nahm auch regelmäßig an den Vorlesungen und Ausflügen der Pjler und Assistenzärzte teil.
Die  Ärzte und die anderen Mitarbeiter, die ich im Public Health kennen lernte, sind politisch eher links orientiert und haben eine regierungskritische Einstellung. Sie habe viele Ideen und Ideale, doch leider stehen ihnen auch viele Hindernisse im Weg. Sie bemängeln die fehlenden strukturellen und finanziellen Möglichkeiten, die schlechte Zusammenarbeit mit den Gesundheitsbehörden und die Willkür in der Politik.

Im Health Center in Narlidere, einem Stadtteil von Izmir, lernte ich einiges über das türkische Gesundheitswesen. Die meiste Zeit aber verbrachte ich bei verschiedenen Family doctors. Zum einen im Zentrum von Narlidere und zum anderen in einem „gecekondu“Viertel namens 2.Inönümahallesi. Hierbei handelt es sich um eine Siedlung mit sehr einfachen, kleinen Unterkünften am Rande einer Großstadt. Wörtlich übersetzt bedeutet es so viel wie „nachts hingestellt“. Dass 6 bis 7 Kinder eng beieinander liegend in einem kleinen Zimmer  auf dem Boden schlafen müssen, sei normal. Der Großteil der Einwohner in 2. Inönü kommt aus dem Osten der Türkei, hat kurdische Wurzeln oder gehört zu den Roma. Die Menschen hier sind sehr arm und haben große Familien. Viele der Patienten hatten nur einen Grundschulabschluss und  manche waren Analphabeten.
3 Family doctors sind dort für die Versorgung von ca. 10.000 Patienten zuständig. Ich nahm an den Untersuchungen teil und versuchte mich an die türkisch-medizinische Terminologie zu gewöhnen. Oft kamen die Patienten auch nur, um sich ein Medikament verschreiben zu lassen oder um kurz mit den Ärzten zu plaudern und wurden dabei mit „Hallo meine Rose“, Küsschen links, Küsschen rechts begrüßt. Daneben waren  Impfungen und Schwangerenuntersuchungen auf der Tagesordnung, was aber meist von der Krankenschwester durchgeführt wurde. Viele der Patienten waren sehr ungeduldig und stürzten einfach ins Zimmer. Einmal waren wir auf geschätzten 15qm zu elft : 3 Frauen, die sich nicht kannten, 5 Kindern, die Krankenschwester, die Ärztin und ich. Ähnliches erlebte ich auch in der Gynäkologie an der Uniklinik. Zunächst habe ich eine Woche lang,  zusammen mit einem Intern, einen Assistenzarzt in der Poliklinik begleitet. Nicht selten standen gleich mehrere Patienten vor dem Arzt und wollten ihre Befunde, ihre Diagnose oder Therapiemöglichkeit erfahren. Auf Privatsphäre legten sie selbst nicht viel Wert. Mir fiel auf, dass mehrere  Frauen in Begleitung ihrer Ehemänner kamen , wobei sie selber schüchtern in einer Ecke oder draußen stehen blieben und die Männer begonnen haben, die Leiden ihrer Frauen zu schildern oder dass manche Frauen vor der gynäkologischen Untersuchung erst einmal ihre Ehemänner anrufen wollten. Ich durfte viele Untersuchungen und Sonographienselbst durchführen.
In den folgenden Wochen war ich auf der Station und habe an den Visiten teilgenommen, Drainagen gezogen, Wunden versorgt, CTGs angelegt und bei ambulanten OPs zugeschaut. In den Ambulanzen und auf der Station waren viele Interns, im Gyn-OP dagegen gar keine. Meistens stand ich daher mit am OP-Tisch. Sowohl die Assistenzärzte, also auch die Oberärzte waren bemüht mir etwas beizubringen. Bedauerlicherweise standen viele Bereiche, wie z.B. der Kreißsaal, so gut wie leer. Es waren viele Oberärzte abgetreten, nachdem es ihnen verboten wurde gleichzeitig in privaten Praxen und in staatlichen Einrichtungen zu arbeiten. So konnten nicht alle Abteilungen personell ausreichend gedeckt werden.
Insgesamt fand ich das Arzt-Patienten-Verhältnis nicht sehr gut. Man stand sich nicht auf einer Ebene gegenüber. Den Ärzten fehlte es an Empathie und sie arbeiteten zügig ihre Patienten ab. Es wurde sehr wenig oder gar nicht über die Krankheit und die Therapie aufgeklärt. Manchmal lag es am Desinteresse des Patienten und manchmal an der Faulheit des Arztes. Schockiert war ich, als ich überall in der Klinik Plakate mit Titeln wie  „Wir verurteilen Gewalt an Ärzten“ erblickte. Gelegentlich käme es zu Ausschreitung, selbst wenn der Arztberuf im Allgemeinen sehr angesehen ist. Einige der Ärzte und Studenten erzählten mir auch von ihren persönliche Konfrontationen mit Patienten und deren Angehörigen.

Besonders interessant war es, an einem Projekttag teilzunehmen, der vom Public Health und der Gynäkologie organisiert wurde. In einem Dorf außerhalb von Izmir besuchten wir in Kleingruppen mit jeweils einem Assistenzarzt junge Frauen und versuchten möglichst viel über ihre Lebensumstände und ihre Gesundheit zu erfahren und aufzuklären. Es wurden Themen wie Verhütungsmethoden, Brust abtasten  und chronische Erkrankungen angesprochen. Die Ergebnisse wurden in der großen Runde diskutiert und sollten an den zuständigen familydoctor weitergeleitet werden. Den Frauen selbst schien es aber wichtiger zu sein, dass wir mit ihnen Schwarztee trinken und von ihren Mandeln, Rosinen, Trauben und Walnüsse kosten. Dieses Projekt findet in dieser Region seit einigen Jahren regelmäßig statt. Viele der Frauen haben im Alter zwischen 16-19 Jahren geheiratet. In den älteren Generationen auch früher. Traditionell handelt es sich oft um Ehen zwischen Verwandten. „Keiner heiratet in das Dorf ein und keiner raus" rief  uns eine ältere Dame voller Stolz zu.

Türkische Menschenrechtsstiftung
Die Stiftung/TIHV gibt es seit 1990 und sie ist in 5 verschiedenen Städten vertreten. Sie widmet sich Menschen, die gefoltert  wurden, die inhaftiert wurden, die während Demonstrationen der Gewalt von  Sicherheitskräften  ausgesetzt waren und bieten ihnen  medizinische und psychische Unterstützung an. Sie haben ein großes Netz an Freiwilligen verschiedener medizinischen Fachrichtungen  und arbeiten eng mit Anwälten und Gerichtsmedizinern zusammen. Einige ihrer Projekte werden auch von der EU und der UN unterstützt.
Man geht von über 1,5 Millionen Folteropfern in der Türkei aus und betrachtet diesen Zustand daher als eine „Volkskrankheit“. Diese hohe Zahl ist v.a. auf die 3 Militärputsche und die seit Jahren andauernden Kämpfe im Osten der Türkeizurückzuführen. Bei den Personen, die sich an die Stiftung wenden, handelt es sich meist um politische Aktivisten - häufig sind linke Gruppierungen, Kurden, Studenten und Menschenrechtsverteidiger betroffen. Es war für mich eine einmalige Gelegenheit  Einblicke in politische und gesellschaftliche Umstände zu erhalten, die den meisten Menschen verborgen bleiben. Coşkun, der Vertreter, Aytül, die medizinischen Sekretärin und Mediha, dieÄrztin, sind sehr engagierte, sehr nette Mitarbeiter der Stiftung in Izmir. Ich habe mit ihnen lange und ausführliche Gespräche führen können, sie nahmen mich mit auf Demos und gaben mir sehr viel Infomaterial mit. Außerdem haben sie  Treffen mit Psychiatern und Mitgliedern des türkischen Menschenrechtsvereins „IHD“ ,des  Homo-/Bi- /Transsexuellenvereins „pembesiyahücgen“ und des Flüchtlingsvereins „Mülteci-Der“ organisiert.
Ich war täglich für wenige Stunden in der Stiftung. Zu dem Zeitpunkt  kamen viele Studenten, die während Protesten an der Uni mit der Polizei und anderem Sicherheitspersonal in gewaltreiche Auseinandersetzungen geraten waren und teilweise in Gewahrsam genommen wurden. Manche kamen humpelnd in zerrissener Kleidung, mit Schürfwunden, hatten ein blaues Auge, Gliederschmerzen oder einfach nur Angst. Ich konnte an dem Erstgespräch und auch bei einigen Untersuchungen durch die Ärztin teilnehmen. Die Stiftung in Izmir, hat seit ihrer Gründung über 4000 Patienten geholfen. Ich hatte die Möglichkeit die Patientenberichte und Befunde zu durchstöbern und habe dabei mit Wut und Trauer die abscheulichsten und unmenschlichste Dinge lesen müssen. Neben türkischen Staatsbürgern suchen auch Flüchtlinge  aus den Nachbarstaaten wie Syrien und Irak nach Unterstützung.

Unterkunft
Zu Beginn wohnte  ich in einem Wohnheim direkt am Meer, ganz in der Nähe von der Uniklinik. Es sei das schönste und beliebtest staatliche Wohnheim in der Türkei. Umgeben  ist es von vielen Cafés und Restaurants .Nahezu jeden Tag fiel ich mit Davul- und Zurnaklängen im Hintergrund in den Schlaf. Gewöhnungsbedürftig und manchmal anstrengend war es mit 4-6 Personen ein Zimmer zu teilen. Auf dem Gelände stehen mehrere kleine Gebäude, wobei zwischen Frauen- und Männerblöcken unterschieden wird. Auch wenn man schon geschlafen hat, musste man nachts zwischen 00:00 und 01:00 aufwachen, unterschreiben und damit seine Anwesenheit bestätigen. Als das Studienjahr  losging, war leider kein Platz mehr für Gaststudenten. Der Chauffeur eines Direktors dieser Wohnheime , der ein Bekannter von Ärzten im Public Health ist und mir das Zimmer anscheinend organisiert hatte, konnte da leider auch nichts mehr tun, sodass ich zu Freunden ausweichen musste.
Im Großen und Ganzen fand ich die Zeit recht spannend und habe das multikulturelle Ambiente sehr genossen: Ich habe vor allem viele türkische, usbekische, georgische und iranische Studentinnen verschiedener Studiengänge kennen gelernt und konnte mich mit einigen intensiv über ihre Heimat , über Deutschland und die Türkei austauschen. Ich habe vom Balkon aus Folkloregruppen aus Indonesien, Spanien, Georgien, Ecuador, Rumänien uva Ländern beim Proben zugeschaut und mit meinen Mitbewohnerinnen zu ihrer Musik getanzt.
Zeit für sich
An den  Wochenenden zog es mich gemeinsam mit Freunden an den Strand außerhalb der Stadt z.B. nach Karaburun, Mordoğan oder Foça, Wir zelteten oder schliefen unterm Sternenhimmel. Wir erkundeten malerische Orte wie das Weindorf Şirince oder das Windsurferparadies Alaçatı und gönnten uns eine Bootstour in Çeşme oder eine Massage in einem alten Hamam in Izmir. Auch historisch gibt es in und um Izmir einiges zu erkunden. Vielerorts war abends noch viel los, sodass wir oft noch etwas essen und trinken waren, auf Konzerten von regionalen Bands tanzten  oder unter  Palmen und  in alten griechischen Villen beim Salsa tanzen ein Hauch lateinamerikanisches Flair verspürten.

Innerhalb von wenigen Wochen habe ich viele verschiedene Eindrücke sammeln können. Ich bin eingetaucht in das Leben in der Türkei und das Auftauchen viel mir schwer. Es war natürlich von großem Vorteil, dass ich die Sprache fließend sprach und dadurch sehr viel mitnehmen, aber auch gleichzeitig geben konnte. Ich habe viel Zeit mit den Assistenzärzten, den Studenten, den Mitarbeitern der Stiftung und den Menschen denen ich privat begegnet bin verbracht und werde in nur wenigen Monaten zurückkehren.
Ich habe die Zeit vor, während und nach dem Aufenthalt in Izmir sehr genossen und freue mich auf ein Wiedersehen mit den Leuten in meinem f&e- Land und auf die Treffen mit den alten und neuen f&e Teilnehmer/innen.




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Anprechpartnerin

 

Anne Jurema
Referentin "Soziale Verantwortung"
Tel. 030/698074 - 17
Email: jurema[at]ippnw.de

Handzettel

Zitate

„Ich empfinde es als großes Glück, dass ich als Medizinstudent aus Nepal die Chance hatte, eine völlig andere Welt kennen zu lernen. Ich habe durch meinen Aufenthalt in Deutschland eine ganz neue Vorstellung von der Welt und von Menschen bekommen. Und ich bin glücklich, dass es sogar schon in meine Aktivitäten einfließt. Ich hoffe, dass alles, was ich gelernt habe, meinen Horizont öffnen wird und mir hilft, als Arzt in größeren Perspektiven zu denken“. (Medizinstudent Mohan Bhusal aus Nepal, 2012)

„Aber auch andere Ärzte beeindruckten mich sehr, wenn sie z.B. weit nach Feierabend, also außerhalb der ohnehin gering bezahlten Arbeitszeit, versuchten eine Lösung für die Kostenübernahme lebensnotwendiger Eingriffe, die sich die Patienten ohne Unterstützung nicht leisten könnten, zu finden. Es ist kaum möglich, die nötige Ankennung für so viel Berufsethos und großartige Leistungen mit ein paar Worten auszusprechen. Ich wünsche mir nur, dass mehr Menschen das Glück haben, solch wunderbare Ärzte kennenzulernen... (Medizinstudentin Christin Lorenz in Bosnien und Herzegowina, 2014).

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