Rumänien

von Christina Evers

01.12.2012

Sonnenblumenfelder bis zum Horizont, Pferdewagen mit Nummern-
schildern, Brezeln mit Schokolade und Hirten auf sattgrünen, verträumten Hügeln, die auf Baumblättern Lieder pfeifen -
Hunderte streunende Straßenhunde, Häuserfassaden voller überdimensionaler Werbeplakate, Kinder, die Autolack schnüffeln, und Schmiergeld in den weißen Kitteltaschen der Ärzte -
Viele Bilder entstehen in meinem Kopf, wenn ich an die Zeit in Rumänien zurückdenke, eine Zeit, in der ich viel lernen konnte über ein Land, das uns geografisch so nah ist und in unseren Köpfen trotzdem so weit weg erscheint. Erst dort habe ich begonnen zu begreifen, wie sehr Deutschland und Rumänien eigentlich miteinander verknüpft sind und was sie für eine eng verbundene, gemeinsame Geschichte teilen.

Meine Reise nach Rumänien begann mit einer 28-stündigen Busfahrt von Frankfurt nach Sibiu (Hermannstadt) in Transsilvanien. Nachdem ich in den Bus eingestiegen war, schien ich schon in Rumänien angekommen zu sein, denn von da an sprachen weder Busfahrer oder  Fahrgäste noch die Verkäuferin am ersten Zwischenstopp in Mannheim Deutsch mit mir. Dennoch genoss ich die lange Fahrt, die mir Zeit ließ, die ersten rumänischen Wörter zu lernen und mich auf zwei spannende Monate zu freuen.

Landleben in Transsilvanien
Mein Sozialprojekt befand sich in „Hosman/ Holzmengen“, einem kleinen Dorf mit ca. 300-700 Einwohnern, genau weiß man es nicht, denn sie wurden nie gezählt oder registriert. Eingebettet zwischen grünen Hügeln, Wäldern und vielen Feldern liegt der Ort vor der gewaltigen Bergkette der Karpaten, die sich in der Ferne abzeichnet. Gemeinsam mit anderen Freiwilligen aus Österreich wohnte ich auf einem alten Bauernhof, wo wir als einzige im Dorf eine Toilette und fließend Wasser hatten. Dort soll ein Sozialzentrum mit Kleiderkammer, Bildungs- und Musikangeboten und Arbeitsmöglichkeiten entstehen, welches von der Organisation „Concordia“ aufgebaut und von der katholischen Kirche unterstützt wird. Zu meiner Zeit wurden erste Schritte unternommen, ein solches Zentrum zu gestalten. Wir haben begonnen, Kontakte im Dorf aufzubauen, Kinderprogramm anzubieten und Musikangebote zu schaffen. Die Zielgruppe setzt sich vor allem aus den am Dorfrand lebenden „Zigeunern“ zusammen. Ich benutze hier bewusst das Wort „Zigeuner“, da Roma und Zigeuner dort unterschiedliche Gruppen darstellen. In meiner letzten Woche organisierten wir ein großes Konzert für alle Dorfbewohner um „Concordia“ vorzustellen und im Dorf bekannt zu machen.
Der Tagesablauf im Projekt sah während der Woche immer ähnlich aus. Morgens um 6:00 Uhr wurde der Tag mit Jogging oder Gartenarbeit begonnen, woran sich um 7:30 Uhr eine Andacht in der Scheunenkapelle und das Frühstück anschlossen. Das mag sich etwas verrückt anhören, tatsächlich war es aber für mich (fast immer) unglaublich schön, den Tag mit dem Sonnenaufgang anzufangen. Um 8:30 fand Rumänisch-Unterricht statt oder man fuhr in das neu entstandene „Sat curat“-Projekt in ein Nachbardorf. „Sat curat“ bedeutet übersetzt „sauberes Dorf“. Da es auf dem Land üblich ist, seinen Müll auf offener Straße zu entsorgen, sind die Straßen verdreckt und in den Kanälen, die an den Häusern vorbeiführen, sammelt sich der Abfall.
Viele Menschen auf den Dörfern, besonders die arme Bevölkerung, haben keine feste Arbeit. Sie suchen sich Gelegenheitsarbeiten, um von Tag zu Tag zu überleben. Ziel unseres Projektes war es, den Frauen, besonders den Zigeunerinnen, die am meisten von Arbeitslosigkeit betroffen sind, eine kontinuierliche, verlässliche Arbeit zu ermöglichen. Vormittags kommen sie für ein bis zwei Stunden zum gemeinsamen Müllaufsammeln und erhalten als Gegenleistung Lebensmittel. Es mag sich ein bisschen langweilig anhören, aber es ist ein wirklich tolles Projekt! Denn die Frauen erlangen ein Stück Unabhängigkeit und haben eine beständige Möglichkeit, für sich und ihre Familien zu sorgen. Zusätzlich lernt man sich gegenseitig kennen und kann Vertrauen aufbauen für mögliche weitere Projekte. Obwohl die Frauen selbst nicht viel besitzen, sind sie trotzdem stolz, Gästen ihre „vier Wände“ zu zeigen und sogar eine Tasse Tauchsieder-Cafe zu servieren. Für mich war es manchmal frustrierend, sich nicht gut genug verständigen zu können, aber dann auch schön zu erleben, wie man nach und nach immer besser miteinander kommunizieren konnte, und manchmal brauchte es auch gar nicht so viele Worte.
Die Lebensweise der Menschen dort kennen zu lernen, war für mich unglaublich spannend. 5-köpfige Familien, die in kleinen Lehmhütten mit selbstgebautem Ofen und einem kleinen Stück Garten leben und trotzdem mit dem, was sie haben, zufrieden sind. Die Merkmale, an denen man auf dem Dorf Arm von „Reich“ unterscheidet, sind so ganz anders als hier in Deutschland. Wer ein dichtes Dach über dem Kopf und einen kleinen Garten hat, ist nicht sehr reich, gehört aber auch nicht zu den ganz Armen. Wirklich arm sind diejenigen, die am Rande des Dorfes leben, in kaputten Hütten und ohne Garten, sodass sie sich nicht einmal zum Teil selbst versorgen können. Besitzt man einen Pferdewagen, gehört man zu der reicheren Bevölkerung. Die ganz Reichen haben einen Traktor, dies ist aber eher die Ausnahme. Auch wenn das Leben der Menschen so scheint, als seien sie „arm“, habe ich es nie als wirkliche Armut empfunden. Es war ein einfaches, bescheidenes, ländliches Leben, viel mehr mit der  Natur verbunden, als wir es kennen. Man hatte eben nicht so viel, aber vielleicht ist alles, über das wir verfügen, auch gar nicht unbedingt notwendig?
Nach dem Mittagessen wurde dann das Kinderprogramm vorbereitet, z.B. Malen, Schminken, Basteln, Spielen oder Englisch lernen. Zu meiner Zeit waren in Hosman Schulferien, sodass die Kinder den ganzen Tag lang nichts zu tun hatten. Besonders die Zigeunerkinder gehen aber auch während der Schulzeit nur unregelmäßig zum Unterricht. Die Schule im Dorf geht ungefähr bis zur 8. Klasse. Hat man diese absolviert, ist für die meisten die Schulbildung beendet. Denn weiterführende Schulen gibt es nur in dem 30 Minuten entfernten Sibiu und viele Kinder müssen zu Hause mitarbeiten. Darüber hinaus möchten einige Eltern ihre Kinder nicht in die Stadt schicken, aus Angst, dass sie dort mit Drogen oder anderem in Berührung kommen. Deshalb hat ein Großteil der Bevölkerung nur eine mäßige Ausbildung.

Auch die medizinische Versorgung auf dem Land ist mangelhaft. In Hosman kam zwei Mal in der Woche ein Arzt, der vor allem Medikamente verschrieb. Vorsorgeuntersuchungen, z.B. in der Schwangerschaft, finden nicht statt, es sei denn man hat ein Auto und kann nach Sibiu fahren. Wenn die Wehen einsetzen, wird der Krankenwagen gerufen und man hofft, dass er pünktlich eintrifft. In dieser Hinsicht, was Schulbildung und ärztliche Versorgung angeht, trifft der Begriff „Armut“ also doch zu.
Später am Nachmittag gab es dann Trommelunterricht. Weitere Musikangebote sollen im Laufe der Zeit folgen. Am Wochenende hatten wir Freiwilligen Zeit für uns, für Ausflüge mit der Gruppe, Wanderungen in den Karpaten oder eine Stadtbesichtigung in Sibiu/ Hermannstadt.

Zwischen Botox und Straßenkindern
Nach meiner Zeit in Hosman fuhr ich nach Bukarest, um meine Famulatur zu absolvieren. Der Arzt, bei dem ich eigentlich famulieren wollte, hatte sich nie bei mir gemeldet, sodass ich über eine Österreicherin, die mit in Hosman gewesen war, Kontakt zu einer Hautarztpraxis bekommen hatte. Nach einem einzigen Anruf erhielt ich die Zusage, dass ich so lange wie ich wollte in der Praxis bleiben könnte. Gleichzeitig ergab sich über einen anderen Kontakt, dass ich in einem Heim für Jugendliche von der Straße unterkommen konnte (das „Lazar“), welches ebenfalls zu der Organisation „Concordia“ gehörte. Hier hatten auch schon andere f&e-Freiwillige vor mir, in der Zeit ihres Sozialprojektes, gearbeitet. Ich fand das sehr gut, da ich so neben meiner Famulatur noch ein weiteres Sozialprojekt unmittelbar kennen lernte. Trotzdem hatte ich manchmal große Probleme mit dem Unterschied zwischen Wohnen und Arbeiten. Die Hautarztpraxis war eine Privatpraxis, in die unter anderem auch Frauen kamen, die sich mit Botox ihre (nicht-vorhandenen) Falten wegspritzen ließen. Wenn ich dann „nach Hause“ kam, wohnte ich mit jungen Menschen zusammen, die zum größten Teil kaum noch Zähne im Mund hatten, dafür aber alles mögliche andere, wie Hepatitis, HIV, Syphilis, Läuse und Milben. Darüber hinaus waren die Jugendlichen unglaublich einnehmend. Ich habe es  genossen, so viel aus ihrem Leben zu erfahren, aber manchmal war es auch sehr anstrengend, nach einem langen Tag jedem Einzelnen gerecht zu werden. Sie waren sehr offen, lebendig, wild und streitlustig und sehnten sich so nach Aufmerksamkeit, dass mir wenig Zeit für mich selbst blieb. Obwohl es mir manchmal schwer fiel, alles gleichzeitig zu verarbeiten und für alle Zeit zu finden, hat mich das Leben im Lazar unglaublich beeindruckt.
Eines meiner berührendsten Erlebnisse im Zusammenhang mit dem Lazar war der Besuch am Nordbahnhof. Dort gibt es einen kleinen Park, der völlig verdreckt ist und in dem Hunde und Kinder hausen. Fast alle sind dort drogenabhängig. Ich wusste schon von den Jugendlichen im Heim, dass Drogen ein großes Problem für die meisten darstellen, aber wie schlimm es wirklich ist, konnte ich mir nicht vorstellen. Erst dort am Bahnhof habe ich einen kleinen Einblick in die tatsächliche Realität des Straßenlebens bekommen: achtjährige Jungs, die Autolack aus Plastiktüten schnüffeln, Gruppen von Jugendlichen, die sich gerade irgendwas in ihre Arme spritzen, offene Wunden, deren Schmerzen mit Drogen betäubt werden und überall auf dem Boden liegende Spritzen. Drogen und Sucht haben an diesem Ort für mich nochmal eine ganz andere Dimension bekommen. Wie unterschiedlich ein Leben verläuft, je nachdem wo man geboren wird und welche Lebensumstände einen erwarten, ist mir bewusst, aber wirklich begreifenkann ich es kaum.

Durch meine Famulatur hatte ich die Möglichkeit, mehr über das rumänische Gesundheitssystem zu erfahren. Dadurch, dass ich in einer Privatpraxis war, konnte ich wenig selbst machen, die Ärzte waren aber sehr nett und engagiert, mir viel zu erklären. Sie haben sich immer darum bemüht, dass ich viel über Rumänien erfahre. Trotz Sprachbarriere verstand ich recht gut und sonst wurde mir alles noch einmal auf Englisch erklärt. Über sie  lernte ich einen weiteren Arzt kennen, den ich für ein paar Tage bei seiner Arbeit in einem staatlichen Krankenhaus begleiten konnte. Alles zu erzählen, was ich dort erlebte, würde den Rahmen sprengen, aber durch ein paar Beispiele möchte ich eine Idee davon vermitteln, wie es dort aussah. Mit Krankenhäusern wird „Geld gemacht“. „Ohne Geld geht man nicht in ein Krankenhaus“, lautete das Zitat des Dermatologen. Obwohl es eine Krankenversicherung gibt, bezahlt diese fast nichts. Für Medikamente, Material und Untersuchungen muss der Patient selbst aufkommen. Auf einer Station mit 50 Patienten gibt es drei Schwestern/Pfleger. Angehörige kümmern sich um die Wäsche, die Hygiene und meistens auch noch um das Essen. Trotzdem machte es insgesamt einen recht sauberen Eindruck. Die Ärzte sind in der Regel sehr gut ausgebildet und verdienen im Krankenhaus ca. 400 Euro monatlich. Davon kann man auch in Rumänien nicht leben. In ihren Kitteltaschen finden sich oft Geldscheine, die ihnen von Patienten zugesteckt werden. Obwohl alle davon wissen, ist es dennoch ein geheimer und entwürdigender Vorgang unter der Hand. Der Arzt, den ich begleitete, war mir gegenüber diesbezüglich sehr offen. Von vielen wird aber diese Praxis verheimlicht. Er berichtete mir, dass neben dieser „kleinen“ Korruption in Krankenhäusern noch viel mehr Geld mit „großer“ Korruption verdient wird. Wenn z.B. Materialien bestellt werden, kosten sie den Patienten oft das Doppelte oder Dreifache des eigentlichen Preises, weil in der Verwaltungskette jemand (oder mehrere) sitzt, der sich daran bereichert. So war ich insgesamt  überrascht, dass die medizinische Versorgung trotz alledem recht gut funktionierte. Ich kann hier natürlich nur von meinen eigenen Erfahrungen in diesem einen Krankenhaus berichten, wie es an anderer Stelle aussieht, kann ich nicht beurteilen.

Meine Zeit in Bukarest war insgesamt geprägt durch Kontraste. Vom Land- hin zum Stadtleben, das Heim und die Privatpraxis und auch Bukarest selbst. Neben Alt steht Neu, neben Modern befindet sich Antik und neben den schönsten Plätzen und Gebäuden sind riesige Baustellen. Es war spannend, an jeder Ecke etwas Neues zu entdecken und die Stadt in einem ständigen Wandel zu erleben.
Die freundliche und offene Art der Rumänen lässt mich das Land in sehr guter Erinnerung behalten. Sowohl die Dorfbewohner, die Österreicher und die Zigeunerfrauen und –kinder in Hosman als auch die Straßenkinder in Bukarest und die engagierten Ärzte haben meine Zeit dort zu einer unvergesslichen, bereichernden Erfahrung gemacht!

Darüber hinaus habe durch die e-mails und die Treffen mit den anderen f&e-lern den Eindruck, gleich mehrere Länder auf einmal ein Stück weit kennen gelernt zu haben. Vielen Dank an alle, die diese Erfahrung geprägt und möglich gemacht haben!
Und? Würde ich noch einmal nach Rumänien gehen? Auf diese Frage gibt es nur eine klare Antwort: „Oh ja!!!“

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