01.12.2012 „Anna, wie ist es dir bei uns gegangen? Mit welchen Erwartungen bist du gekommen? Und was denkst du jetzt über unser Land?" fragte mich nach einem kurzen Blick in meinen Reisepass der Zollbeamte im Flughafen von Prishtina freundlich und in perfektem Deutsch. Gekommen war ich mit einigem Angelesenen, vagen Kindheitserinnerungen an Diskussionen meiner Eltern über eine deutsche Beteiligung am Kosovokrieg und dem Versuch, mir im Vorhinein zunächst einmal gar kein Bild zu machen. Auf die Rückreise machte ich mich mit vielen Eindrücken und Erfahrungen im Kopfgepäck und dem Gefühl, dass meine zwei f&e-Monate erst der Anfang waren eines Annäherungsprozesses.
Bevor ich jedoch in Kosovo ankam, hatte ich die tolle Gelegenheit an der zehntägigen Summer School der Peace Academy in Sarajevo teilzunehmen. Dieses jährlich stattfindende Angebot der unabhängigen Peace Academy Foundation richtet sich hauptsächlich an in der Friedensarbeit im breiten Verständnis tätige Menschen aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens. Einige Plätze sind aber auch für Externe reserviert, und so konnten Franziska, die mit f&e nach Serbien reiste, und ich am Kurs „strategic peacebuilding“ teilnehmen. Zwar fühlten wir uns beide manchmal im Hinblick auf unsere Vorerfahrungen und Erwartungen nicht ganz in den Kurs passend, er ermöglichte uns aber viele spannende Einblicke. Vor allem die Möglichkeit, viele aktive und interessante Menschen aus den verschiedenen Balkanländern kennen zu lernen und mit ihnen einige unterschiedliche Blickwinkel, war für mich sehr bereichernd.
Im Anschluss daran ging die Busreise weiter – nach Sarajevo war ich von Deutschland aus mit den komfortablen Eurolines gekommen, von dort aus ging es ein bisschen klappriger auf eine dafür wunderschöne Strecke durch zerklüftete, wildgrüne Berge, vorbei an Wasserfällen und manchmal ganz schön nah am Abgrund. Nach einem Zwischenhalt in Montenegros Hauptstadt Podgorica kam ich sehr früh am Morgen in Prishtina an, wo ich von Ilirjana, der jungen IPPNW- Ärztin bei der ich während der zwei Monate wohnen konnte, sehr fürsorglich und herzlich empfangen wurde. Nun konnte es also richtig losgehen. Doch dann gab es nochmal eine kleine Überraschung: Ilirjana, ihr Mann Ilir und deren kleiner Sohn Joni luden mich ein, mit ihnen über's Wochenende an die albanische Küste zu fahren.
Famulatur in Prishtina
So begann ich meine Famulatur mit leichtem Sonnenbrand und noch Strandsand in den Schuhen. In der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe der Uniklinik Prishtina war Dr. Memli mein Ansprechpartner, der mich auf den Stationen vorstellte und mir immer bei Fragen weiterhalf. Insgesamt wurde ich sehr freundlich aufgenommen und durfte auf allen Stationen hospitieren, auch ein paar Tage in der Neonatologie, was ich sehr spannend fand und wo bewundernswerte Arbeit geleistet wurde. Trotz unzureichender Ausstattung – z.B. gab es zu wenige Inkubatorbettchen, das Sufactant wird von einer US-amerikanischen Klinik gespendet – hatte ich den Eindruck dass die bestmögliche Versorgung der Babies gewährleistet wurde. Die meiste Zeit war ich aber auf der geburtshilflichen Station. Genauso wie den kosovarischen StundentInnen wurden mir kaum eigene Aufgaben überlassen – zuschauen konnte man immer, erklärt wurde oft etwas dazu, und manchmal durfte man bei den schwangeren Frauen den Fundusstand tasten oder bei einem Kaiserschnitt assistieren. Befremdlich fand ich zunächst die oft frequentierte Raucherecke am Ende des Stationsflures – geraucht wird aber immer und überall wie die Schlote. Geburten konnte ich so viele miterleben wie wahrscheinlich im gesamten Rest meines Lebens nicht mehr, manchmal waren es bis zu vierzig pro Tag. So jung der Staat, so jung ist auch sein Volk, über fünfzig Prozent der Menschen sind unter fünfundzwanzig Jahren alt, entsprechend hoch die Geburtenrate. Aus Freiburg war ich es gewohnt, dass gerade in diesem Bereich viel Wert auf ein hohes Maß an Privatsphäre der Patientinnen gelegt wird. Umso schwieriger war es für mich damit umzugehen, dass darauf deutlich weniger geachtet wurde. Zum einen lag das sicher an den begrenzten räumlichen und personellen Kapazitäten der Station. Teilweise ergab sich für mich auch der Eindruck, dass ÄrztInnen und Pflegepersonal durch die vielen kleinen und großen Mängel des Gesundheitssystems mit den Jahren ernüchtert und in ihrem Engagement für die PatientInnen ausgebremst wurden. In den neunziger Jahren wurden unter der Herrschaft Belgrads viele ÄrztInnen und ProfessorInnen aus dem Gesundheitssystem und von den Universitäten verdrängt, und es entwickelte sich eine privat und kirchlich getragene Gesundheitsfürsorge. Somit musste das System nach dem Krieg neu aufgebaut werden, eine Krankenversicherung soll schon seit einiger Zeit entwickelt und eingeführt werden, existiert aber bisher noch nicht. Die Bezahlung in Gesundheitsberufen ist meist zu schlecht um eine Familie zu unterhalten, deswegen arbeiten die meisten ÄrztInnen sowohl im öffentlichen als auch im sehr viel einträglicheren privaten Sektor. Die Spaltung in den teuren privaten Sektor mit deutlich höheren Standards und Arbeitsmoral und den öffentlichen Sektor ist sehr präsent. Zum Arbeiten oder zur Facharztausbildung nach Deutschland zu gehen ist der Wunsch von vielen – mit Sprachniveau B2 als Voraussetzung lassen sich einige spezielle Vermittlungsagenturen finden, teilweise von unter Personalmangel leidenden deutschen Kleinstadtkliniken bezahlt.
Durch den von Ilirjana vermittelten Kontakt zu einer Krankenschwester, Rema, in Mitrovica bekam ich die Chance, den primären Gesundheitssektor kennen zu lernen. Mehrere Tage konnte ich im Gesundheitszentrum in Mitrovica verbringen, wo ich von Rema alles genau gezeigt, erklärt und beigebracht bekam. Ihre Energie und Begeisterung für ihren Beruf haben mich sehr beeindruckt und mir gezeigt, wie viel man mit persönlichem Einsatz auf die Beine stellen und aufrecht erhalten kann. Hierbei ist noch die besondere Situation der Stadt Mitrovica zu erwähnen, die Stadt im Norden des Kosovo ist seit Ende des Krieges durch einen Fluss in zwei Hälften geteilt, die eine hauptsächlich serbisch und die andere hauptsächlich kosovoalbanisch bewohnt. Die Hauptbrücke über den Fluss ist seit einiger Zeit symbolisch verbarrikadiert und die Stadt immer wieder Ausgangspunkt von Unruhen. Dort war für mich der Konflikt um die Nichtanerkennung des Unabhängigkeitsstatus des Kosovo durch Serbien deutlich spürbar. Für das Klinikpersonal ergaben sich dadurch, wie mir erzählt wurde, schon einige schwierige Situationen. Vor einem Jahr explodierte im Haus einer albanischen Familie auf der serbischen Seite ein Sprengsatz und Personen wurden verletzt. Für die fragliche Siedlung ist das kosovarische Gesundheitssystem zuständig. Für den Rettungsdienst war unklar, ob die Fahrt auf die andere Seite des Flusses gefahrlos machbar ist, polizeilicher Schutz hätte erst zeitintensiv beantragt werden müssen. Am Ende konnten die Verletzten zwischenfalllos abgeholt werden, die Unsicherheit für das Gesundheitspersonal bleibt aber bestehen.
Sozialprojekt
Mit dem August neigte sich auch meine Famulatur dem Ende zu, und übrigens auch das große Sommerloch, während dessen in Prishtina, wie mir schon angekündigt worden war, tatsächlich nicht viel los ist. Mein Sozialprojekt war ein Praktikum bei GAP Institute for Advanced Studies, diesen Kontakt hatte mir Ilirjana vermittelt und empfohlen. Das unabhängige Institut ist eine der wenigen Institutionen der Zivilgesellschaft, die keiner internationalen Organisation unterstehen oder angehören, und genießt ein recht hohes Ansehen in der Gesellschaft. Geforscht und veröffentlicht wird in unterschiedlichsten Bereichen des öffentlichen Interesses. Während meines Praktikums gab es zwei größere Projekte. Zum einen wurden systematisch die Geldzuwendungen an die einzelnen Gemeinden des Landes mit deren Ausgaben abgeglichen und veröffentlicht, im Bemühen um mehr Transparenz und weniger Korruption. Das andere Projekt beschäftigte sich mit der Energiepolitik des Landes, hier konnte ich auch mitarbeiten. Die Energieversorgung in Kosovo wird aktuell hauptsächlich von zwei Braunkohlekraftwerken unweit Prishtinas getragen, die eine Quelle enormer Umweltverschmutzung und Gesundheitsgefährdung der Menschen in den umliegenden Gebieten darstellen. Erwiesenermaßen ist dort die Rate an Haut- und Atemwegserkrankungen deutlich höher als im Rest des Landes. Selbst Prishtina ist meist von einer Smogkuppel bedeckt, die die Sicht auf die nahen Berge unmöglich macht. Die unzureichende Energieversorgung stellt ein bedeutendes Hindernis für die wirtschaftliche Entwicklung und das Wohlergehen der Gesellschaft dar. Durch den Braunkohleabbau selbst sind außerdem die Dörfer am Rande der Abbaugebiete/Flöze ständig von der Umsiedlung bedroht. Trotzdem soll ein neues Braunkohlekraftwerk gebaut und zugleich privatisiert werden – und das möglicherweise mit der Finanzierung der Weltbank, die damit gegen die eigenen Nachhaltigkeitsgrundsätze verstoßen würde. Nicht zuletzt würde damit die Annäherung an die Energierichtlinien der EU in weite Ferne rücken – dabei wird die Annäherung an die EU als eine der wichtigsten Zukunftsperspektiven des Landes empfunden. In diesem Bereich wurde vom GAP Institut viel Forschung und politische Arbeit betrieben, meine Aufgabe war es, die Richtlinien, Standards und Gesetzte der EU zu erneuerbaren Energien als Argumentationsgrundlage zusammenzutragen und zu analysieren. Die Zeit im GAP Institute und der Austausch mit den dort Arbeitenden hat mir wichtige Einblicke gewährt in die Interessen und Funktionsweisen der kosovarischen Zivilgesellschaft, in die aktuellen Probleme und politischen Entwicklungen des Landes. Dieser Hintergrund hat mir sehr geholfen, ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie das Land und seine Gesellschaft tickt, wieso gewisse Dinge funktionieren, andere wiederum nicht. Auch die Verknüpfung mit dem Energiethema fand ich im Hinblick auf den Einsatz der IPPNW Deutschland gegen Atomkraft und für erneuerbare Energien sehr interessant, da ich diese Vorkenntnisse gut einbringen konnte. Toll fand ich, dass ich wirklich eine eigene Aufgabe hatte, konkret eingebunden wurde und zur Arbeit beitragen konnte.
Land und Leute
In Prishtina ließ sich nach dem Kosovokonflikt eine enorme Anzahl an internationalen Organisationen nieder, viele davon sind immer noch da. Auch NATO und EU verbleiben in ihrem Beobachterstatus, diese Präsenz ist auch immer wieder spürbar. Zur Ausrufung der Unabhängigkeit 2008 wurde im Stadtzentrum Prishtinas dem neuen Staat ein Denkmal in Form des Schriftzugs „Newborn“ in großen Buchstaben errichtet, die Straßencafés der Stadt sind immer voll mit jungen Leuten, die Verständigung ist Dank ihrer exzellenten Fremdsprachkenntnisse kaum ein Problem, viel Dynamik und Potenzial ist spürbar. Andererseits ist es eines der am meisten isolierten Länder Europas, nur ein Beispiel sind die strikten Visabestimmungen, die Arbeitslosigkeit unter den Jungen unter fünfundzwanzig beläuft sich auf über siebzig Prozent. Zu hoffen bleibt, dass diese junge Gesellschaft ihre Zukunftsperspektiven im eigenen Land finden und wahrnehmen kann. Ungewohnt war es, allein auf Grund meines Deutschseins oft sehr positiv aufgenommen zu werden. Nicht nur das aktuell sehr gute Deutschlandbild, sondern auch die teilweise idealisierte Perzeption geschichtlicher Ereignisse, wie etwa des Zweiten Weltkrieges oder der Beteiligung Deutschlands am Kosovokonflikt, tragen dazu bei. Wie sehr die Geschichte Deutschlands mit der Kosovos verbunden ist, war mir nicht klar gewesen. Dies war immer wieder ein Anstoß, mich mit meinem eigenen Land auseinander zu setzten. Kennengelernt habe ich außerdem das Phänomen der „Schatzis“, in Deutschland lebende Kosovoalbaner, die in den Sommermonaten Urlaub in ihren Heimatorten machen und den KosovarInnen mit ihren prolligen Goldketten und tiefergelegten Autos auf die Nerven gehen.
Prishtina ist auf den ersten Blick gewiss keine schöne Stadt, eher dreckig, anstrengend und kaum ein Fleckchen Grün. Doch es lässt sich einiges entdecken, dass sich die tollen Orte nicht so offensichtlich präsentieren macht es umso spannender. Ich mag diese Stadt und ihren eigenwilligen Charakter, und wenn es im August allzu heiß und staubig wurde, konnte man sich in den großen Park Gërmia mit dem wahrscheinlich größten Freibad der Welt zurückziehen.
Schön war auch, dass es so einfach war, mit Leuten ins Gespräch zu kommen. Noch nie wurde ich so oft auf einen Kaffee, den obligatorischen Macchiato, eingeladen, dabei wurde mit viel Offenheit alles mögliche erzählt. Und das oft in perfektem Deutsch, viele hatten einige Jahre in deutschsprachigen Ländern gearbeitet, waren während des Kosovokrieges dorthin geflüchtet, sehen dort eine Zukunftsperspektive oder haben einfach als Kind die Sprache durch deutsche Fernsehsender gelernt. Ich habe zwar einen Albanischsprachkurs belegt, kam aber außer mit Ilirjanas kleinem Sohn Joni selten in die Situation, die Sprachkenntnisse anzuwenden. Meistens wechselten meine GesprächspartnerInnen gleich auf Deutsch oder Englisch. Trotzdem war es natürlich toll, immer wieder ein bisschen mehr zu verstehen.
Gewohnt habe ich während meiner Zeit in Prishtina in einem eigenen Zimmer im Haus von Ilirjanas Familie. Obwohl beide sehr viel arbeiten, waren mir Ilirjana und Ilir eine große Unterstützung, oft halfen sie mir, mich in politischen und geschichtlichen Fragen zurechtzufinden, ohne mich von ihren eigenen Ansichten überzeugen zu wollen. Oft wurde mir klar, dass ich eigentlich noch kaum was von den Hintergründen und Konflikten Ex-Jugoslawiens verstanden hatte. Das immer noch stark gegenwärtige ethnienzentrierte Denken und in Kosovo das stolze Albanertum mit dem Traum eines Großalbaniens ist für mich schwer zu verstehen. Auch bei der Organisation der Famulatur und des Sozialprojekts hat mir Ilirjana sehr geholfen, und mir viele Kontakte vermittelt. Dass sie selber vor einigen Jahren mit famulieren&engagieren in Deutschland war, macht ihr das Programm sehr vertraut. Ein paar der Studierenden der noch sehr jungen IPPNW Gruppe in Prishtina konnte ich trotz der Sommerpause kennen lernen. Besonders der Austausch mit Fjolla, die im September in Göttingen famuliert hat, war für mich auch nach meiner Rückkehr sehr spannend. Genau diese Plattform für Begegnungen und Austausch stellt für mich die Einzigartigkeit des f&e Programms dar.
Reisen in der Region
Eines der schönsten Dinge waren die guten Möglichkeiten in Kosovo und seinen Nachbarländern zu reisen. Mal abgesehen von den Verwirrungen um Ein- und Ausreisestempel an der serbisch-kosovarischen Grenze, weswegen ich diese vorsichtshalber meistens vermieden habe. Ein Besuch bei Franzi in Belgrad war eine wunderschöne Abwechslung und wichtige Möglichkeit, sich auszutauschen und zumindest ein bisschen „die andere Seite“ kennen zu lernen. Sowohl Franzi als auch Julia, die in Bosnien war, kamen mich in Prishtina besuchen, die Gespräche mit den beiden waren für mich ein ganz wichtiger Teil meiner Erfahrungen. Mit den vielen Bussen kommt man für wenig Geld fast überall hin. Ein besonderes Erlebnis war der Besuch bei einer Freundin in Skopje, wo ich zur traditionell mazedonischen Hochzeit ihrer Cousine eingeladen wurde. Um die Natur Kosovos zu erkunden habe ich leider erst recht am Ende meines Aufenthalts Hiking Njeri kennen gelernt. Die Wandergruppe aus Prishtina macht es sich zur Aufgabe, das Bergwandern in Kosovo populärer zu machen, mit ihnen kommt man nicht nur in wunderschöne naturbelassenen Ecken des Landes sondern lernt auch unheimlich nette Menschen kennen.
Zurück in Deutschland kamen neue Aspekte hinzu. Die Problematik der Abschiebung von Roma in Kosovo wird hier ja zumindest in bestimmten Kreisen stark thematisiert. Hier wurde mir nochmals bewusst, wie unterschiedlich die Auffassung und das Bewusstsein für dieses Thema in den beiden Ländern ist. Die Erfahrungen dieses Sommers sind also noch lange nicht abgeschlossen und ich bin sehr dankbar, dass sie mir ermöglicht wurden.
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