Türkei

von Anh-Thy Nguyen

01.12.2010 Da ich aus Hamburg viele Menschen mit Verbindungen zur Türkei kennen gelernt habe und  auch mein Blockpraktikum in der Allgemeinarztpraxis in Altona gezeigt hat, dass ein großer Anteil der Patientinnen besser türkisch spricht und versteht als deutsch, fand ich die Möglichkeit sehr interessant die Türkei besser kennen lernen zu können.  Auch hatte ich das Gefühl mehr Einblick in dieses Land gewinnen zu wollen, weil ich jeden Tag so vielen Menschen begegnete, die dort mal gelebt hatten und eigentlich überhaupt nichts über die Region wusste. So blickte ich mit Spannung auf die kommenden zwei Monate.

Ankunft in Izmir:
Mein erster Tag in Izmir begann ziemlich früh. Ich kam schon vor sieben Uhr am Flughafen an und Bülent Kilic hat mich trotz der Uhrzeit mit einem Lächeln abgeholt. Er hat vor zehn Jahren die erste f&e-StudentIn betreut und kümmert sich seitdem jedes Jahr um die neue f&e-lerIn.
Da es so früh war und das Studentenwohnheim noch nicht geöffnet war, hat Bülent mich direkt in die türkische Frühstückskultur eingeführt. Es gab einen Simit (Sesam-Bagel) mit schwarzem Tee. Danach fuhren wir auf das Klinikumsgelände der Dokuz Eylül Üniversitesi, wo ich auch meine Famulatur antreten würde. Dort zeigte er mir seinen Arbeitsplatz im Public Health Department, wo er als Professor arbeitet. Zu der Zeit war er ziemlich beschäftigt mit einer großen internationalen Studie über den Zusammenhang sozialer Determinanten und schwerwiegenderen Herzerkrankungen.

Wohnen in Izmir:
Danach fuhren wir zum Studentenwohnheim, das wohl das beste Wohnheim der Türkei sein soll. Gelegen in einem Viertel, wo regelmäßig Hochzeitsfeiern und Picknicks stattfinden und direkt am Strand, bot es viele Möglichkeiten für schöne Spaziergänge mit Blick auf die Skyline des anderen Endes der Stadt.
Das Wohnheim war in den Sommerferien ziemlich leer. Hauptsächlich SprachschülerInnen und StudentInnen in den letzten Zügen ihrer Abschlussarbeiten waren noch da. Die türkischen StudentInnen fahren über die Ferien fast alle zu ihren Familien. Trotzdem gab es noch viele Möglichkeiten nette Leute aus aller Welt kennen zu lernen und mit ihnen in der Cafeteria  zu essen und Kaffee zu trinken. Besonders meine Zimmer-Mitbewohnerinnen haben mich sehr hilfsbereit in alles Neue eingeführt, und ich war froh, dass wir uns auch mit ein paar Brocken Englisch gut verständigen konnten.
Trotzdem fand ich die Zeit im Studentenwohnheim schon sehr anstrengend. Der große Komplex, in dem während des laufenden Semesters über 2000 Studierende wohnen, war eingezäunt und bewacht von Sicherheitsbeamten, die auch in den einzelnen Häusern saßen. Auch gab es eine Ausgangssperre ab 0:30Uhr. Zu dem Zeitpunkt mussten wir alle unten im Eingang des Hauses auf einer Liste unsere Anwesenheit unterschreiben und alle, die vorher schlafen wollten, mussten sich für die Uhrzeit einen Wecker stellen. Wenn wir mal außer Haus schlafen oder später zurück kommen wollten, musste das schriftlich beantragt werden. Gewohnt daran, überall und zu jeder Uhrzeit hingehen zu können, war das für mich schon sehr gewöhnungsbedürftig.

Famulatur in Izmir:
Bülent und ich hatten uns ein vielfältiges Programm ausgedacht, da ich ja auch einen Teil der Zeit in Kars, nahe der armenischen Grenze, verbringen würde und so nur drei Wochen im Dokuz Eylül Klinikum famulieren würde. Trotz der kurzen Zeit sollte ich möglichst viel kennen lernen.
Die erste Woche habe ich dann also auf der Neugeborenen Station verbracht, da ich dachte, dass da meine schlechten Türkischkenntnisse am wenigsten auffallen würden. Direkt am ersten Tag habe ich eine Gruppe sehr netter PJlerInnen kennen gelernt, die das meiste  für mich übersetzt haben und mit denen ich mich fortan zum Essen und Tee trinken getroffen habe. So habe ich auf der Station viele der Standarduntersuchungen mitmachen können und viele ganz kleine Babys auf dem Arm gehabt. Eine Assistenzärztin hat sich morgens auch extra viel Zeit für uns genommen, um uns die Krankheitsbilder der Neugeborenen vor der Visite zu erklären und Labore durch zusprechen.
Die zweite Woche habe ich dann auf der Notfallstation verbracht. Schon am ersten Tag habe ich gemerkt, wie gestresst alle ÄrztInnen waren, und deshalb war es kaum möglich mit ihnen über Krankengeschichten zu diskutieren. Dazu kam, dass die meisten nur sehr schlecht Englisch sprechen konnten.  Auch haben die meiste Zeit nur AssistenzärztInnen gearbeitet, die regelmäßig 36Stunden am Stück Dienst hatten. So waren sie oft total überarbeitet und müde und blieben noch auf der Station, wenn ich mich am zweiten Tag nachmittags von ihnen verabschiedete. Daher bin ich meist entweder den PJlerInnen gefolgt oder habe versucht bei einer Ärztin mitzulaufen, die etwas Englisch sprechen konnte, um wenigstens etwas zu verstehen. Zwei Tage lang war Emre, ein PJler,  dabei, der vor zwei Jahren als Gaststudent in Deutschland gewesen war. Er hat mich dann immer mitgenommen und mich einiges machen lassen, so dass ich z.B. Braunülen legen konnte und arterielle Blutabnahmen erledigen durfte. 
Krass waren einige Geschichten, die ich auf der Notfallstation mitbekommen habe. Wie z.B. die eines Ehepaares, das sich im Auto gestritten hatte. Die Frau war darauf einfach aus dem Fenster gesprungen und wurde daraufhin von ihrer ganzen Familie in die Notaufnahme begleitet, die auch dort - vor allen Leuten- dem Ehemann eine lautstarke Szene machte.

Die dritte Woche habe ich dann im Inönü-Distrikt verbracht. Es ist eines der einkommensschwächsten Viertel der 3-Millionenmetropole. Die meisten BewohnerInnen kommen aus dem Osten des Landes, viele gehören der kurdischen Minderheit an. Da die Hausarztversorgung in der Türkei noch in den Kinderschuhen steckt, kommen regelmäßig viele PatientInnen mit banalen Beschwerden zur Notaufnahme. Das Gesundheitszentrum im Inönü-Distrikt ist daher Teil eines gesundheitspolitischen Anlaufs zu einem vermehrt auf eine Hausarztversorgung gestützten System.
Die Woche war ich jeden Tag in einer anderer Zweigstelle des Gesundheitszentrums, welche mal wie eine Hausarztpraxis agierten, mal ein eigenes kleines Gesundheitszentrum darstellten.
Besonders interessant war der letzte Tag der Woche, an dem ich das geriatrische Zentrum besuchen durfte. Dieser riesige Komplex beinhaltet gleichzeitig Altersheim und geriatrische Klinik. Es ist eines der größten seiner Art in Europa, wie mir die Ärztin erzählte, die mich den ganzen Vormittag herumführte und mir einzelne Stationen und Patientinnen vorstellte. Neben den Stationen und großem Reha-Bereich mit einem beeindruckend großen Bewegungsbad gab es viele Häuser, in denen die älteren Patientinnen betreut wohnen konnten. Diese haben wir in den Komplexen gemeinsam besucht und ich hatte ein wenig Zeit, um mit ihnen über ihre Lebensbedingungen dort sprechen zu können, was sehr interessant war.

Famulatur in Kars:
Kurz nach dem Vorbereitungswochenende hatte Ulla mir eine Mail von Mustafa weitergeleitet, der vor einigen Jahren als Gaststudent in Deutschland war und mich nun einlud zu ihm nach Kars zu kommen, um bei ihm auf der Gynäkologie zu famulieren. Erfreut über die Idee auch den Osten der Türkei erkunden zu können, habe ich sofort zugesagt.
Nach meiner Famulaturzeit in Izmir war ich sehr gespannt auf die kommende Zeit im östlichen Kars. Viele Leute aus Izmir haben sehr überrascht und verwundert gewirkt, als ich ihnen erzählt habe, dass ich nach Kars fahren würde. Aus vielen Gesprächen wurde mir klar, dass ganz viele türkische „WestlerInnen“ niemals im Osten waren und dennoch geprägt von Erzählungen und negativ gefärbten Meinungen über die Region und die Menschen dort waren.
Mustafa holte mich also an einem Samstag ab und gab mir eine Tour durch die Stadt. Kars ist sehr klein aber vielfältig in seinen Architekturstilen, die das Stadtbild prägen. Einflüsse aus russischer, armenischer, griechischer und georgischer Kulturen haben viele Spaziergänge sehr interessant gemacht.
Da gerade Ramadan (Fastenmonat) war, aß Mustafa nichts bis zum Sonnenuntergang, wie auch fast alle anderen in der Stadt. Zumindest habe ich außer Kindern nie jemanden tagsüber auf der Strasse essen oder trinken sehen. Dies stellte schon einen ersten größeren Unterschied zu Izmir dar, wo die meisten Menschen das Fasten nicht ernsthaft einhielten. Daher achtete ich auch darauf, in der Öffentlichkeit tagsüber nichts zu essen und flüchtete mich regelmäßig in der Mittagspause in meine kleine Wohnung, um etwas gegen meinen Hunger und Durst zu tun.
In dem Provinzkrankenhaus war ich hauptsächlich mit Mustafa unterwegs, der vor einem halben Jahr dort als Assistenzarzt auf der Gynäkologie angefangen hatte. Morgens gingen wir auf Visite mit den Oberärzten, wechselten danach Verbände und gingen dann hinüber zur Poliklinik, wo meist schon über 20 Frauen auf uns warteten. Die Atmosphäre war oft schon stressig. Die Räumlichkeiten gaben es nicht her, eine Anamnese in ruhiger und intimer Atmosphäre zu erstellen, da die Sekretärinnen mit im Raum saßen und oft schon die nächste Patientin bei ihnen stand, um sich anzumelden. Auch musste Mustafa alle Patientinnen meist alleine behandeln, so dass alles ein wenig schneller laufen musste als gewollt. Trotzdem hat Mustafa oft die Anamnese übersetzt und mir die grundlegenden Untersuchungstechniken beigebracht, wodurch ich in den zwei Wochen z.B. gelernt habe zu schallen und IUPs zu entnehmen.
Krass waren die Unterschiede zum deutschen Krankenhausalltag, auf Station wie auch in der Poliklinik. Es war z.B. eher Aufgabe der Familie pflegerische Tätigkeiten zu übernehmen. Viele Angehörige verbrachten oft den ganzen Krankenhausaufenthalt gemeinsam mit den Patientinnen auf dem Zimmer.
In der Poliklinik war ich manchmal schockiert davon, wie wenig Privatsphäre den Patientinnen während Anamnese und Untersuchung zugesprochen wurde. Die Tür des Zimmers stand ständig offen und es kam nicht selten vor, dass mehrere Patientinnen schon im Zimmer standen, während eine Patientin ihre Krankengeschichte erzählte.

Im Großen und Ganzen war ich sehr dankbar dafür, die Möglichkeit zu haben nach Kars zu kommen und einen gänzlich anderen Teil der Türkei kennen lernen zu können. Das Klima war nach der großen Hitze Izmirs sehr angenehm frisch und die Natur in der Gegend war viel grüner und manchmal wie unberührt. Auch die Leute in der Stadt waren total freundlich und neugierig. Auf der Strasse wurde ich regelmäßig von kleinen Kindern verfolgt, die ihre ersten Englischkenntnisse an mir ausprobierten. Melek und Zahire, die beide als Krankenschwestern in demselben Krankenhaus arbeiteten und meine Nachbarinnen waren, luden mich fast jeden Abend zu sich zum Essen oder zum Tee ein. Zwar hatten wir keine wirklich gemeinsame Sprache, aber wir hatten trotzdem viel Spaß dabei z.B. auf den Raketenschuss zu warten, der uns die Zeit angab, ab wann wir bei Sonnenuntergang endlich wieder essen durften.

In der Menschenrechtsstiftung:
Zurück in Izmir bin ich dann zu Freunden meiner Mitbewohnerin gezogen, die in Alsancak, also im Zentrum Izmirs in einer sehr gemütlichen Wohnung leben. Diese war auch noch sehr praktisch gelegen, da die Menschenrechtsstiftung nur zehn Minuten zu Fuß entfernt war. Da es in der Wohnung keine Klimaanlage gab, haben wir fast jede Nacht auf dem Dach unter Sternenhimmel geschlafen, was wunderschön und erfrischend war.
In der Menschenrechtsstiftung TIHV ( Türkiye İnsan Hakları Vakfı) wurde ich total lieb empfangen. Alle haben sich Zeit genommen, um sich vorzustellen und Ossi, der perfekt deutsch spricht, hat alles sofort übersetzt. So haben wir am ersten Tag erst einmal über die Organisation allgemein und ihre Geschichte gesprochen. Sie wurde 1990 gegründet und ist auf fünf Büros im ganzen Land verteilt. Ihre Hauptaufgaben sind die Behandlung von Folteropfern und die Dokumentation der Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen.
Leider konnte ich aus Intimitätsgründen verständlicherweise keine direkt Betroffenen bei der Behandlung begleiten oder dabei zuschauen, aber einige konnte ich kennen lernen während meiner Zeit im Büro. Einige kamen zu einer Folgebehandlung und holten sich über das Büro dafür einen Termin. Andere kamen einfach nur zu Besuch und haben über sich erzählt. Dabei wurde oft klar, wie warmherzig und familiär die MitarbeiterInnen nicht nur untereinander, sondern auch mit den Betroffenen umgegangen sind.
Bei Tee oder einem leckeren türkischen Kaffee habe ich dann die folgenden Tage und Wochen mit den meisten der MenschenrechtlerInnen darüber sprechen dürfen, wie sie zur Stiftung gefunden hatten und was zur Zeit ihre Aufgaben sind. Dies war dann auch meist mit den Geschichten ihrer sehr eindrucksvollen Lebenswege und Erfahrungen verbunden. So waren einige zuvor selbst  oder engste Verwandte wegen ihrer politischen Überzeugungen von Folter betroffen gewesen und/oder hatten langjährige Gefängnisaufenthalte hinter sich. Auch hatte ich die Gelegenheit ein Gespräch mit Dr. Veli Lök zu führen, einer der Gründer der Stiftung und Entwickler einiger wichtiger Methoden zur Aufdeckung länger zurückliegender Folterverfahren.
Am 1.September fand dann auch eine Friedensdemonstration statt, zu der wir zusammen gingen, was auch total interessant war. Denn ganz im Unterschied zu den Demos in Deutschland waren dort hauptsächlich ältere Menschen anwesend. Ossi erklärte mir, dass es in der Türkei an politischem Nachwuchs mangele, da politische studentische Bewegungen eher restriktiv behandelt würden und somit die politische Szene gerade in Izmir sehr übersichtlich sei.
Die Zeit in der Stiftung war für mich besonders schön und wichtig, da ich von den Leuten dort sehr viel über das Land und die Menschen erfahren habe. Viele Gespräche haben einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen und mir das Gefühl gegeben, die Türkei mehr als nur oberflächlich berührt zu haben. Dafür einen allerliebsten Dank an das TIHV Büro!

Reisen:
Das Land ist so riesig groß und so abwechslungsreich, dass ich erst gar nicht wusste, was ich mir genau anschauen wollte. Schon die Strecke nach Kars hätte mit dem Bus über 20 Stunden gedauert, so dass ich mich für die folgenden Trips meist dafür entschieden habe im Westen des Landes zu bleiben.
Da die Bahnstrecken weniger ausgebaut sind , fahren Busse zu allen Zielen und da die Busunternehmen in ständiger Konkurrenz miteinander stehen, ist der Service während einer Busfahrt vergleichbar mit dem in einem Transatlantikflug. Neben Keksen und Getränken, die serviert werden, gibt es auch Eiscreme und es gibt Filme zu sehen.
So bin ich während der zwei Monate mehrmals unterwegs gewesen, z.B. in Kabak, einem Dorf an der Südwestküste. Gelegen in einer Schlucht die von Olivenbäumen bewachsen ist und direkt am Meer, war dies ein perfekter Ort zum Entspannen und Schnorcheln. Auch war es total schön so abgeschieden von Verkehr und Lärm zu sein, nachdem Izmir als 3-Millionenstadt doch manchmal sehr voll und laut sein konnte.
Während der Bayram-Tage bin ich dann nach Kappadokien gereist. Ich hatte mich dazu entschieden, weil die meisten der Freunde, die ich kennen gelernt hatte, zu ihren Familien fahren würden, um mit ihnen zu feiern. Kappadokiens Landschaft ist total besonders mit den unzähligen Komplexen von Felsformationen, die auch zum Weltkulturerbe ernannt worden sind. Auch habe ich dort uralte unterirdische Städte und Höhlenkirchen besichtigt, die von der Vielfalt der ursprünglichen Kulturen und spannenden Geschichte der Türkei zeugen.
Am Ende meiner Zeit - nach dem Sozialpraktikum- war ich dann am Bafa Gölü südlich von Izmir, wo man wunderbar wandern kann. Auch sind wir besonders wegen der Felsen dorthin gefahren, die die komplette Landschaft ausfüllen, um zu bouldern.

Fazit:
Auch wenn ich ab und zu sehr grundlegende und gravierende Meinungsunterschiede über verschiedene Themen zwischen mir und Menschen vor Ort erkannt habe, war es doch und  auch deswegen eine sehr gute Erfahrung länger in der Türkei gewesen zu sein. Denn gerade dann ist es schön Menschen wie in der Stiftung kennen zu lernen, die dir zeigen, wie viel in einem manchmal so repressiven Umfeld möglich sein kann.
Auch hat es mich beeindruckt zu sehen, wie gastfreundlich die Leute selbst auf der Strasse waren. Habe ich jemanden nach dem Weg gefragt, wurde ich oft bis zu meinem Ziel geführt. Die Vielfältigkeit des Landes und der Leute lassen erahnen, dass ich nur einen Bruchteil davon berühren konnte. 

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