Palästina

von Christiane Schultheiß

01.12.2011 Nie zuvor hatte ich vor einer Reise oder einem Auslandsaufenthalt das große Bedürfnis mich mit Geschichte oder Hintergründen meines Zielortes zu beschäftigen. Als mich die Nachricht von der IPPNW erreichte, dass ich ausgewählt wurde mit f&e nach Palästina zu reisen, war es anders. Ich wusste so wenig über Palästina und Israel, über den Konflikt, über die Hintergründe, die so tief hineinreichen in Geschichte, Religion, Politik, Wirtschaft, den Alltag der Menschen, eigentlich jeden Lebensbereich. Also fing ich an zu lesen, mich auf Palästina vorzubereiten, ließ mir ein paar Floskeln auf Arabisch beibringen und hoffte somit wenigstens ein kleines bisschen Rüstzeug zu haben, um zu verstehen, warum die Dinge so sind, wie sie sind auf diesem kleinen Flecken Erde im sogenannten Nahen Osten.

Famulatur
Die ersten vier Wochen meines Palästina-Aufenthaltes durfte ich bei meiner Famulatur im Caritas Baby Hospital in Bethlehem verbringen. Das Kinderkrankenhaus wurde von einem Schweizer gegründet und wird seither größtenteils aus europäischen Spenden finanziert. Einrichtung und Ausstattung sind deshalb auf recht hohem Niveau und auf den ersten Blick fällt kaum ein Unterschied zu einer westlichen Klinik auf. Bei genauerem Hinsehen und Kennenlernen der Strukturen werden die Probleme dann aber bald schon deutlich: Es mangelt an gut ausgebildeten Fachkräften und auch wenn verschiedene diagnostische Möglichkeiten angeboten werden können (z.B. Hüftsono, Herzecho, Röntgen), so ist bei aufwändigeren Maßnahmen schnell die Grenze erreicht und Untersuchungen oder Behandlungen können nur mit Schwierigkeiten wie langen Wartezeiten, Transfer nach Israel, Spezialanträgen, etc. durchgeführt werden.
Sehr traurig, aber aus medizinischer Sicht interessant waren die bei uns sehr seltenen Krankheitsbilder, die ich dort sehen konnte. Durch die hohe Rate an Verwandtenehen, gibt es in den Palästinensischen Gebieten viele Erbkrankheiten und manch ein Arzt konnte anhand der vorliegenden genetischen Störung vorhersagen, aus welchem Dorf ein Kind stammt. Ich hatte viel Zeit und Gelegenheit diese Krankheitsbilder kennen zu lernen: bei den Visiten, beim selbstständigen Nachlesen, wofür es fast immer Zeit gab, beim Untersuchen der Kinder. Die angegliederte outpatient-clinics, wo ambulante Betreuung stattfindet, bot die Möglichkeit viele akute Infektionen oder Kinderkrankheiten zu sehen und ebenfalls viele Kinder zu untersuchen. Andere praktische Fähigkeiten habe ich dagegen kaum gelernt oder gemacht.
Während meiner Famulatur und den ersten beiden Wochen meines Sozialprojektes wohnte ich im Zentrum Bethlehems in einem der wunderschönen alten Steinhäuser bei einem palästinensischen Ehepaar. So hatte ich die Möglichkeit bequem alle zentralen Orte der Stadt zu Fuß zu erreichen, andere „volunteers“ kennen zu lernen und ein bisschen palästinensische Lebensart bei leckerem Essen probieren zu dürfen.

Sozialprojekte: GTC und ToN
Im Anschluss an die Famulatur war ich für zwei Wochen im GTC, kurz für „Guidance and Training Center for the Child and Family“, einer NGO, die psychologische Betreuung und Beratung anbietet. Leider war mein Start dort durch den zuende gehenden Ramadan und die begleitenden Festlichkeiten von viel Leerlauf und langen Wartezeiten geprägt. Das Team aus Sozialarbeitern, Psychologen, Psychiatern war teils beurlaubt und einige der Patienten erschienen nicht zu ihren Sitzungen. Zusätzlich empfand ich im GTC die Sprachbarriere als sehr einschränkend. Schon im medizinischen Bereich während der Famulatur hatte ich gemerkt, wie schnell man ohne suffiziente Sprachkenntnisse immer wieder an seine Grenzen stößt. Im Feld von Psychologie, Psychotherapie und Gesprächstherapien war dieses „Manko“ noch viel massiver einschränkend. Mein aktiver Beitrag beschränkte sich auf ein Minimum, meist beobachtete ich Therapiesitzungen, die mir hinterher in einer Zusammenfassung übersetzt wurden oder hatte viel Zeit mich selbst zu belesen und zu recherchieren. Am meisten mitnehmen konnte ich aus einigen Sitzungen mit Kindern;  Spieltherapien oder spezielles Training für Schulkinder erschlossen sich mir auch mit den fehlenden Sprachkenntnissen etwas einfacher.
Schon im Vorfeld des Palästina-Aufenthaltes war ich durch meine Vorgängerin Ida auf das Projekt „Tent of Nations“ (ToN) aufmerksam geworden und es war die Idee entstanden die Zeit im GTC auf zwei Wochen zu verkürzen und mich dafür noch zwei Wochen im ToN einzubringen. Bei zwei Besuchen während der Wochenenden in meiner Famulaturzeit lernte ich diesen Ort und die dort lebenden Menschen mit ihren Ideen und ihrer Philosophie kennen, was mich schnell begeisterte und mir die Entscheidung leicht machte die letzten beiden Wochen meines Sozialprojektes dorthin zu verlegen.
Schon seit vielen Jahren versucht dort eine palästinensische Familie, im Kern zwei Brüder mit ihren Familien unter dem Motto „we refuse to be enemies“ das Land, das seit Jahrzehnten im Familienbesitz ist vor israelischem Siedlungsbau zu schützen. Umringt von fünf Siedlungen liegt die „educational and environmental farm“ auf einem Hügel ca. 10 km südlich von Bethlehem, nicht weit von der Straße nach Hebron entfernt. Da dieser Ort wegen einer israelischen Straßensperre trotzdem schwer zu erreichen ist, zog ich für diese beiden Wochen um und konnte mich somit voll auf das Leben im ToN einlassen, sehr anders als im modernen Krankenhaus und städtischen Bethlehem: Wasser ist noch kostbarer als in der Stadt, die Versorgung erfolgt mit im Winter gesammelten Regenwasser; Strom wird aus Solarpanelen gewonnen und gegen 23 Uhr ist der Akku leer und alles dunkel; Toiletten sind komplett wasserfrei, sogenannte Komposttoiletten; es gibt keine festen Behausungen, nur einige hüttenähnliche Gebäude und in den Boden gegrabene Keller. Die Gruppen oder Freiwilligen, die dorthin kommen, um zu helfen oder die Hintergründe zur Situation zu erfahren, schlafen in großen Zelten. Auf die einfachen Lebensumstände im ToN habe ich mich gerne eingelassen, die Ressourcenknappheit hat auch mein eigenes Bewusstsein für deren Nutzung wieder geschärft. Es ist ein Ort mit großer Naturverbundenheit: Die Küche ist draußen, gegessen wird unter freiem Himmel und zwischendurch bin ich gerne durch die Anpflanzungen gestreift und habe z.B. bei der Feigenernte geholfen.
Einige der Freiwilligen sind für mehrere Monate oder auch bis zu einem Jahr auf der Farm und helfen dabei den Alltag zu bewältigen: Versorgung der kleinen Tierfarm, Betreuung von Gruppen, Organisation von Sommercamps mit bis zu 100 Kindern, Landwirtschaft und Verwaltung. Andere kommen nur für einige Tage, um beispielsweise bei der Ernte von Mandeln, Oliven oder Trauben zu helfen. Die Atmosphäre ist sehr offen und international, ich habe während der vierzehn Tage meines Aufenthaltes junge Menschen verschiedener Nationen kennen gelernt.
Meine Aufgabe war es mit Spendengeldern aus Deutschland die vorhandene Erste-Hilfe-Ausstattung aufzubessern, zu erneuern, neu zu ordnen. Neben der Organisation von Neuanschaffungen gab ich täglich kleine Erste-Hilfe-Lektionen für die Langzeit-Freiwilligen, um zu gewährleisten, dass besonders während der Sommercamps mit den Kindern, aber auch sonst im ToN trotz der abgeschiedenen Lage eine ausreichende medizinische (Notfall)-Versorgung und das notwendige Basiswissen vorhanden sind.
Die Vormittage verbrachte ich im nahegelegenen palästinensischen Dorf Nahhalin. Das dortige Women’s Empowerment Project ist aus dem ToN heraus entstanden. Die jungen Frauen des Dorfes sind eingeladen an vier Tagen pro Woche zum kostenlosen Unterricht zu kommen, wo sie z.B. Englisch oder den Umgang mit Computern lernen können. Eine Stunde pro Tag wurde mir für Erste-Hilfe und andere medizinische Themen eingeräumt. Nach anfänglichen Zweifeln bezüglich meiner Qualifikation für diese Aufgabe, habe ich mich schnell daran gewöhnt und die Stunden mit den jungen Frauen haben mir viel Spaß gemacht.

Reisen
Im ersten Teil meiner Wochenenden oder freien Tage war ich neben zahlreichen Besuchen im nahegelegenen und faszinierenden Jerusalem vor allem in der Westbank unterwegs, hatte den Wunsch noch mehr palästinensische Städte kennen zu lernen. Mit der Nähe zu Jerusalem und dem doch im Vergleich zu anderen Westbank-Städten hohen Anteil an christlichen Palästinensern ist die Atmosphäre in Bethlehem spürbar anders als an anderen Orten.
In meiner letzten freien Woche wollte ich vor allem das Leben auf der anderen Seite der Mauer besser kennen lernen und reiste einige Tage in Israel umher. Egal ob in den palästinensischen Gebieten oder in Israel, überall ist der Konflikt, der die Menschen und deren Leben so tiefgreifend prägt zu spüren, mal mehr und mal weniger. Manchmal war es anstrengend, denn es gibt wirklich kaum einen Ort, der einen nicht diesen Zwiespalt spüren lässt.

Sicherheit
Eine wichtige, vor allem von Freunden und Familie zuhause häufig gestellte Frage ist die nach der Sicherheit. Die allgegenwärtige Angst vor Anschlägen auf israelischer Seite ist oft zu spüren, meine Ein- und Ausreiseformalitäten ließen sich im Gegensatz zu anderen Reisenden glücklicherweise recht schnell und reibungslos erledigen. Die Durchleuchtung oder Durchsuchung von Taschen, Sicherheitsschranken und Wachpersonal gehören in Israel zum täglichen Bild – egal ob vor dem Museum oder beim Betreten des Supermarktes. Den Höhepunkt finden solche Kontrollen an den Checkpoints beim Passieren der Mauer bzw. Sperranlage zwischen palästinensischem Gebiet und Israel. Als offensichtlicher Ausländer und mit deutschem Pass stellten diese Kontrollen zum Zeitpunkt meines Aufenthaltes kein Problem dar.
In der palästinensischen Gesellschaft wurde ich natürlich ebenfalls auf den ersten Blick als Ausländer erkannt und sofort mit arabischer Lebensfreude und Herzlichkeit begrüßt oder eingeladen. Auch während politisch brisanter Zeiten während des Antrags der Palästinenser auf UN-Vollmitgliedschaft als Staat Palästina war die Lage stets stabil, vereinzelte Befürchtungen von Ausschreitungen erwiesen sich als unbegründet und ich konnte mich überall frei bewegen. Einschränkungen ergaben sich allenfalls daraus, dass es in einer überwiegend muslimischen Gesellschaft völlig ungewöhnlich ist eine alleinreisende Frau zu sehen und das richtige Maß von Anpassung, Zurückhaltung und Wahrung der eigenen Identität gefunden werden musste.

Ich möchte mich herzlich bedanken bei allen, die diese wunderbare Erfahrung für mich ermöglicht haben, allen voran natürlich der IPPNW für die finanzielle und organisatorische Unterstützung, besonders Ida Persson, die ich vor der Reise mit Fragen löchern durfte und während und nach der Reise viele Gedanken und Erlebnisse mit mir teilte.
Ich komme zurück von einer so spannenden Erfahrung, habe mit vielen Menschen gesprochen, Orte gesehen, (Lebens-)Geschichten gehört, landschaftliche Schönheit erlebt. Manchmal glaubte ich einige Dinge klarer sehen zu können, aber umso mehr ich mich mit dieser Region beschäftige, umso mehr neue Fragen stellen sich mir und dieser tiefschürfende Konflikt erscheint mir mittlerweile noch verworrener, vielschichtiger und komplexer als jemals zuvor. Diese Reise wird noch länger in mir nachwirken, das ist sicher!

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Anprechpartnerin

 

Anne Jurema
Referentin "Soziale Verantwortung"
Tel. 030/698074 - 17
Email: jurema[at]ippnw.de

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Zitate

„Ich empfinde es als großes Glück, dass ich als Medizinstudent aus Nepal die Chance hatte, eine völlig andere Welt kennen zu lernen. Ich habe durch meinen Aufenthalt in Deutschland eine ganz neue Vorstellung von der Welt und von Menschen bekommen. Und ich bin glücklich, dass es sogar schon in meine Aktivitäten einfließt. Ich hoffe, dass alles, was ich gelernt habe, meinen Horizont öffnen wird und mir hilft, als Arzt in größeren Perspektiven zu denken“. (Medizinstudent Mohan Bhusal aus Nepal, 2012)

„Aber auch andere Ärzte beeindruckten mich sehr, wenn sie z.B. weit nach Feierabend, also außerhalb der ohnehin gering bezahlten Arbeitszeit, versuchten eine Lösung für die Kostenübernahme lebensnotwendiger Eingriffe, die sich die Patienten ohne Unterstützung nicht leisten könnten, zu finden. Es ist kaum möglich, die nötige Ankennung für so viel Berufsethos und großartige Leistungen mit ein paar Worten auszusprechen. Ich wünsche mir nur, dass mehr Menschen das Glück haben, solch wunderbare Ärzte kennenzulernen... (Medizinstudentin Christin Lorenz in Bosnien und Herzegowina, 2014).

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