38 Jahre Tschernobyl

Warum Tschernobyl auch heute noch aktuell ist

Rede von IPPNW-Mitglied Dr. Jörg Schmid zum 38. Jahrestag der Atomkatastrophe von Tschernobyl

Heute vor 38 Jahren, am 26.4.1986, explodierte der Reaktor Nr. 4 des ukrainischen AKWs in Tschernobyl, nahe der Grenze zu Weissrussland. Die anschließende radioaktive Wolke betraf weite Teile Europas und brachte uns allen die Gefährlichkeit und Unbeherrschbarkeit der Atomenergie ins Bewusstsein. Wir versammeln uns alljährlich vor dem Tor des AKWs in Neckarwestheim, um die Erinnerung an diese Katastrophe wachzuhalten und den unzähligen Opfern zu gedenken, die bis heute unter den Langzeitfolgen der radioaktiven Verstrahlung leiden. Vor einem Jahr haben wir die endgültige Stilllegung der Reaktoren in Deutschland erzwungen – auf diesen Erfolg unseres jahrzehntelangen Protestes können wir stolz sein. Andere müssen aber weiter Tag für Tag im Angesicht der Drohung eines atomaren Unfalls ihren Alltag leben.

Schon in Friedenszeiten ist Atomenergie eine Hochrisikotechnologie – dafür steht zuvorderst die atomare Katastrophe in Tschernobyl, neben Fukushima, Harrisburg oder Majak. Der Krieg in der Ukraine zeigt die Gefahren dieser Technologie wie unter einem Brennglas auf und wir erleben gerade, wie sich dieses atomare Risiko durch einen Krieg dramatisch erhöht. Zum Schutz der Zivilbevölkerung fallen Atomkraftwerke nach der Genfer Konvention (Artikel 56, Absatz 1) unter einen besonderen Schutz und dürfen nicht angegriffen werden. Aber, ich zitiere aus Absatz 2,„wenn sie elektrischen Strom zur regelmäßigen, bedeutenden und unmittelbaren Unterstützung von Kriegshandlungen liefern und wenn ein solcher Angriff das einzige praktisch mögliche Mittel ist, um diese Unterstützung zu beenden“, dürfen sie eben doch angegriffen werden – mit ähnlichen Folgen wie der Abwurf einer Atombombe.

Russische Truppen hatten gleich zu Beginn des Ukraine-Krieges im Februar 2022 die Atomruine von Tschernobyl eingenommen und die Sperrzone besetzt. Satellitenbildern zufolge hatten russische Soldaten ohne jede Schutzausrüstung in der radioaktiv-verseuchten Sperrzone Schützengräben ausgehoben. Das Aufwirbeln von radioaktivem Staub durch die Militäraktion führte zu deutlich erhöhten Strahlenwerten in der Umgebung. Einen Monat lang hatten russische Truppen Tschernobyl besetzt gehalten, die Sicherheitslage der abgeschalteten Anlage war mehrfach prekär.

Energiepoltisch hat die Ukraine aus Tschernobyl nichts gelernt und sie hält bis heute an der Atomenergie fest. Unter Präsident Selenski wurden bereits zwei Verträge mit US-Firmen über einen AKW-Neubau bzw. Weiterbau unterzeichnet, zuletzt auch Vereinbarungen über sogenannte Modulare Kleinreaktoren. In der Ukraine stehen derzeit noch 15 Reaktorblöcke an vier verschiedenen AKW-Standorten. In Vorkriegszeiten deckten diese etwas mehr als 50 % des Strombedarfs. Aktuell sind weniger als die Hälfte der Reaktoren in Betrieb – eines davon ist Saporischschja, das bereits zu Beginn des Krieges in einem umkämpften Gebiet am Dneper lag. Seit März 2022 ist es durch russische Truppen besetzt. Saporischschja ist mit sechs Reaktorblöcken und einer Leistung von insgesamt 5700 MW das größte Atomkraftwerk in Europa. Seit jetzt 14 Tagen sind alle Reaktoren im sogenannten cold shutdown, so die jüngste Mitteilung der IAEO. Alle Reaktoren sind jetzt heruntergefahren – sie benötigen dadurch weniger Kühlung und es gibt einen zeitlichen Puffer von mehreren Tagen, in der die Kühlung auch ganz ausgesetzt sein kann – das ist wichtig, weil in den letzten Monaten immer wieder durch Bombeneinschläge die externe Stromzufuhr unterbrochen war. Nicht nur die Reaktoren brauchen anhaltende Kühlung, auch der Teil der 855 Tonnen an abgebrannten Brennelementen, der noch in verschiedenen Abklingbecken lagert. Diese Brennelemente sind wegen ihrer anhaltenden Zerfallswärme auch auf externe Kühlung angewiesen, um eine atomare Selbstentzündung zu verhindern.

Welches Szenario haben wir eigentlich zu erwarten, sollte das riesige atomare Inventar am Standort Saporischschja explodieren? Diese Frage untersuchte im August 2023 das renommierte Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften der Universität Wien – eine Auftragsarbeit seitens der IPPNW. Bei nur einem einzigen havarierten Reaktor, so die Studie, ist die großflächige Verstrahlung der Ukraine, Russlands, Moldaus, Georgiens bis in die Türkei hinein zu erwarten – aber auch osteuropäische Länder wie Polen, Rumänien, Slowakei, Tschechien wären unmittelbar betroffen. Was wäre, wenn noch weitere Reaktoren und/oder die Abklingbecken zerstört würden, möchte ich mir nicht ausmalen. Radioaktivität, und das ist die Lehre aus Tschernobyl, kennt weder Grenzen noch Nationen. In einem Krieg werden Atomkraftwerke zu Zielscheiben. Sie werden angegriffen, um die Energie-Infrastruktur des Gegners zu treffen. Aber sie können auch als Rachetat im Sinne der verbrannten Erde zerstört werden, je nach Kriegslage. Diese Drohung macht jedes AKW zum Faustfand, ganze Regionen werden dadurch in Geiselhaft genommen.

Tschernobyl darf sich nicht wiederholen, nicht in Saporischschja oder anderswo! Deshalb fordern wir eine internationale Vereinbarung über die sofortige Einrichtung einer Schutzzone um das AKW Saporischschja und eine entsprechende Neufassung der Genfer Konvention. Ein AKW anzugreifen, muss als Kriegsverbrechen geächtet werden! Übergeordnet muss ein sofortiger Waffenstillstand in der Ukraine das Ziel aller diplomatischen Bemühungen sein. Wir müssen für eine atomfreie Welt eintreten, den weltweiten Ausstieg aus der Atomenergie und eine Ende der Atombewaffnung fordern. Und wir können auf atomare und fossile Energie verzichten – die erneuerbaren Energien sind die verfügbare Alternative!

Unser heutiges Erinnern an Tschernobyl ist gegen das Vergessen gerichtet. Wir erinnern an die Verstorbenen, die Entwurzelten und an alle betroffenen Menschen in den verstrahlten Gebieten überall auf der Welt.

Dr. Jörg Schmid, April 2024

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Ansprechpartner*in


Patrick Schukalla
Referent Atomausstieg, Energiewende und Klima
Email: schukalla[at]ippnw.de

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