01.12.2008 Vier Monate ist es jetzt fast schon her, dass ich dieses kontrastreiche Land im Südosten Europas verlassen habe. Zehn Wochen bin ich dort gewesen, einen Sommer, und doch hat diese kurze Zeit Spuren hinterlassen. Wenn ich mir ab und zu die Fotos anschaue, kommt es mir vor, als wäre es gestern gewesen, dass ich da war. Nie hätte ich vorher gedacht, welche Eindrücke und Einblicke man in dieser Zeit in ein Land haben kann. Der ganze Aufenthalt dort ist schwer in Worte zu fassen, und nach meiner Rückkehr fand ich es auch oft ermüdend, vielen Leuten Antworten auf die doch immer irgendwie gleichen Fragen zu geben. Richtig in Deutschland wieder angekommen mit dem Gefühl den Aufenthalt in Rumänien verarbeitet zu haben, bin ich erst durch das Nachbereitungswochenende im Dezember.
Um mich mental auf den Aufenthalt vorzubereiten wählte ich für die Hinfahrt die Zugverbindung aus, die mich in 27 Stunden an meinen Zielort, Bukarest, bringen sollte. Meine Idee war, während der Zugfahrt die Möglichkeit zu haben zu sehen, wie sich Landschaft, Städte und Menschen langsam verändern. Mein Zug sollte kurz nach Mitternacht, am 29.07.08 in Bucuresti, Gara de Nord einlaufen und ich sollte von Mitarbeitern von „Concordia“, der Organisation bei der ich für die zwei Monate wohnen durfte und die Hälfte der Zeit auch arbeitete, abgeholt werden. Als mich eine halbe Stunde vor Erreichen des Ziels der Schaffner darauf aufmerksam machte, dass wir bald da wären, nutze ich die Zeit mir durch die Dunkelheit die Vororte der Metropole anzuschauen, und ich war erstaunt wie viele Kinder zu der Zeit noch auf den Beinen waren und in kleinen Gruppen durch die sandigen Vorortstraßen zogen.
Als der Zug dann 15 Minuten zu früh den Nordbahnhof erreichte und ich ausstieg, merkte ich deutlich in einem anderen Land zu sein. Als erstes war um diese Uhrzeit noch eine drückende Hitze, dann waren solche Massen von Menschen auf dem Bahnhof versammelt, dass ich dachte: Wie sollen die, die mich abholen mich jemals finden? Und als ich schließlich Luft geholt hatte, wurde ich auch schon von einer Horde Taxifahrer umlagert, die mich für wenig Geld schnell wohin auch immer bringen wollten. Als ich denen verständlich gemacht hatte, dass ich auf jemanden warte und nirgendwo günstig hingefahren werden möchte, boten sie mir an die Person anzurufen. Leider hatte ich keine Telefonnummer und wusste auch nicht, wer mich abholte, nur DASS mich jemand abholt. Alles was ich hatte war eine Adresse. So zog ich also noch einige Minuten durch die Bahnhofshalle, immer in der Nähe des Gleises auf dem ich angekommen war, immer unter den Blicken der lauernden Taxifahrer, so dass ich langsam wirklich schon die Adresse rausholte, um mich eventuell dort hinfahren zu lassen. Plötzlich sprach mich aber jemand von der Seite an und fragte mich auf Deutsch: „Bist du Marie Baudisch?“ Mein erster Gedanke, „Krass, die schicken echt um die Uhrzeit Kinder um mich abzuholen!“ wurde sofort von der Erleichterung verdrängt, dass jemand da war um mich in seinem Land willkommen zu heißen. Nachdem wir auf dem Bahnsteig noch kurz nach Cristis älterem Bruder Ausschau gehalten hatten, der ebenfalls Ausschau nach mir gehalten hatte, ging die Fahrt mit dem Taxi durch das nächtliche Bukarest direkt ins Zentrum zu meiner Unterkunft für den ersten Monat.
Zentrale Lage, ruhige Nebenstraße, ein riesengroßes eigenes Zimmer in einem schönen alten Jugendstilhaus. Mächtig beeindruckt von dieser Unterkunft fiel ich relativ schnell nach Ankunft auch schon ins Bett. Den nächsten Tag nutzte ich um mit Cristi und seinem Bruder Joanuz, die mich beide in der Nacht zuvor am Bahnhof abgeholt hatten, die Stadt zu erkunden und um mich erstmal mit einer U-Bahn Monatskarte, Handykarte etc für die Zeit dort auszurüsten. Später am Tag setzte ich mich mit Catalin in Verbindung. Wir sind für den nächsten Abend zum Essen verabredet. Catalin ist Arzt (Gynäkologie) in einem Krankenhaus in Bukarest und kümmert sich schon seit Jahren um die f&eler, die nach Rumänien reisen. Das Essen am nächsten Abend ließ mich das erste Mal einen Blick auf die Seite des angenehmen Lebens der Stadt werfen, und ich kam in den Genuss erste rumänische Spezialitäten zu probieren.
Famulatur
Nach einem Wochenende, das ich wieder für Erkundungen und erste Ausflüge in die zahlreichen Parks der Stadt nutzte, ging am folgenden Montag meine Famulatur im Spitalul Filantropia los. Catalin hatte mich einige Wochen vor meinem Aufbruch nach Rumänien gefragt, ob ich die komplette Zeit dort verbringen möchte, und ich entschied mich dafür vier Wochen im selben Krankenhaus zu famulieren. Im Nachhinein hätte ich gerne noch andere Bereiche gesehen, denn obwohl die Ärzte dort sehr bemüht waren mir während der OPs viel zu zeigen, extra auf Englisch sprachen, um mir meine Fragen zu beantworten und ich im Krankenhaus jede Abteilung erkunden durfte, fehlte mir doch etwas das Praktische. Mir wurde erklärt, dass es schwierig wäre, da es so viele Assistenzärzte gebe, die auch darauf warteten, etwas tun zu dürfen. Mit einigen der Assistenzärzte freundete ich mich an und kam letztendlich doch noch dazu kleinere Untersuchungen machen zu dürfen. Besonders mit einer der Ärztinnen verstand ich mich so gut, dass ich mich auch außerhalb der Arbeitszeit mit ihr traf und sie mir eine kleine Stadtführung gab, wobei ich etwas mehr über die historischen Plätze der Stadt erfuhr. Da ich außerdem meist nur bis 13 oder 14 Uhr arbeitete, blieb genug Zeit nachmittags in Parks zu entspannen, mein Rumänisch, das zu dem Zeitpunkt aus einigen Sätzen bestand beim Einkaufen zu erproben und den Abend meist mit Cristi und anderen Bewohnern des Hauses am Piata Concordia zu verbringen. Je nachdem mit wem ich die Unterhaltung führte, waren die Gespräche auf Deutsch oder Englisch, wenn sich die Jugendlichen untereinander auf Rumänisch unterhielten, verstand ich nur einige Wortfetzen.
Kinder- und Jugendarbeit bei "Concordia"
Cristi, sein Bruder und einige andere der Jugendlichen sind schon damals als „Kinder“ zu „Concordia“ gekommen, der Organisation, die sich seit Anfang der 1990er Jahre nach der Revolution und dem Sturz Ceaucescus 1989 um Straßenkinder kümmert. Damals, als nach der Revolution die staatlichen Waisenhäuser aufgelöst wurden, flohen die Kinder massenhaft in die Hauptstadt und versuchten sich dort auf der Straße durchzuschlagen. Aus einem kleinen Projekt, begonnen von dem Jesuitenpater Georg Sporschill und ein paar ehrenamtlichen Helfern, gründete sich der Verein „Concordia“, der sich mittlerweile nicht nur um Kinder und Jugendliche in Bukarest kümmert, sondern auch in anderen Städten in Rumänien, Bulgarien und Moldawien. Insgesamt leben derzeit etwa 800 Kinder in Häusern des Vereins. Ziel ist es die Jugendlichen in ein möglichst selbstständiges, geregeltes Leben fernab der Straße zu führen. Das Haus, in dem ich den ersten Monat verbrachte, war damals die Zentrale der Organisation. Heute leben in diesem Haus rund 10 Jugendliche, die arbeiten oder studieren gehen.
Mit einigen der Jugendlichen kam ich so gut ins Gespräch, dass sie mir ihre Geschichte erzählten, warum sie von zu Hause wegliefen, oder wie sie auf andere Weise zu Concordia kamen. In der Zeit freundete ich mich mit besonders mit zweien der Jugendlichen an und verbrachte bis zum Ende meines Aufenthaltes viel Zeit mit ihnen. Viel zu schnell verging auf einmal die Zeit in der ich auch schon meine erste Unterkunft wechseln musste. Ins Sfantul Lazar, dem Haus von Concordia, das am Rande Bukarests liegt und Anlaufpunkt für alle Kinder und Jugendlichen ist, die direkt von der Straße kommen, kam ich an einem der Höhepunkte des Jahres an. Kaum eingezogen, machte ich mich auch schon mit den Jugendlichen des Hauses auf zum „vis de Vara“, dem Sommertraum, einem großen Treffen, das einmal im Jahr in Ploiest, einer Stadt, eine Stunde von Bukarest entfernt, stattfindet.
Auch hier befinden sich verschiedene Häuser von Concordia. Auf das Fest sind natürlich neben den Kindern und Jugendlichen alle Menschen eingeladen, die auf irgendeine Art und Weise etwas mit Concordia zu tun hatten oder haben. Der ganze Tag besteht aus einem bunten Programm voll Musik, Gesang, Tanz, Spiel und Spaß. Am meisten bedauerte ich an dem Tag, dass ich die ganzen Lieder, die scheinbar alle außer mir kannten, nicht mitsingen konnte. Nach dem Fest lebte ich mich aber auch schnell in die neue Umgebung ein. Ich kam zu einer Zeit, in der sich die alten Volontäre gerade verabschiedeten und von den neuen noch nicht alle da waren. Das Lazar besuchte ich schon zwei Wochen vor meinem Einzug das erste Mal und ich bekam sogleich als Neuling die geballte Aufmerksamkeit der Jugendlichen zu spüren. Nach dem Essen wurde ich von einer ganzen Horde umringt und ausgefragt, umarmt und geküsst. Diese Offenheit, Herzlichkeit und Zuneigung sollte mir noch des Öfteren zu Teil werden. Durch das feste Rahmenprogramm, das den Alltag bestimmte und in dem jeder feste Aufgaben hatte, aber besonders durch meine Mitbewohner in dem kleinen Zimmer, das ich mir für die nächsten fünf Wochen mit 3 Mädels teilte, fühlte ich mich sofort sehr wohl und integriert, auch wenn man sich an manche „Regeln“ erst gewöhnen musste, wie das zweimal täglich stattfindende Gebet.
Die Jugendlichen, die ins Lazar kommen, müssen neben dem Einhalten bestimmter Regeln (das Verbot von Drogenkonsum und Gewalt versteht sich von selbst und sind Gründe für den Rauswurf) auch gewisse Arbeiten im Haus übernehmen, insofern sie keine Arbeit außerhalb des Lazars finden. Doch auch bei Beachtung dieser Regeln kommen einige der Jugendlichen ab und zu in Phasen, in denen sie es in den Häusern nicht mehr aushalten und für unbestimmte Zeit zurück auf die Straße gehen. Jedoch scheint das unausgesprochene Gesetz zu herrschen, dass es sie früher oder später zurück ins Lazar zieht. Eine der wesentlichen Aufgaben bei Concordia ist „Streetwork“. Einige Voluntären, wenn sie der Sprache ausreichend mächtig sind, übernehmen jährlich diese Aufgabe. Die Straßenarbeit stellt gerade für die Jugendlichen eine Chance dar, die von anderen gezwungen werden zu betteln, sich zu prostituieren und keinen anderes Leben kennen als das von Missbrauch, Ausnutzung, Angst und das Leben auf der Straße, in Kanälen und Häusereingängen.
Das „Cabinet medicale“ und das Gesundheitssystem
Meine spezielle Aufgabe im Lazar war die Betreuung des „Cabinet medicale“ - eines kleinen Raumes, der mit der großzügigen Hausapotheke ausgestattet war und für deren Ordnung ich zuständig war, sowie die Versorgung kleinerer Leiden. Des weiteren begleitete ich einige Jugendliche in die städtischen Krankenhäuser und konnte so einen Blick sowohl in andere staatliche sowie in private Kliniken werfen, deren Kontrast größer nicht sein konnte. Während sich bei manchen schon die Haare sträubten, wenn man von einigen staatlichen Krankenhäusern berichtete, so stellten die privaten Kliniken den Luxushimmel für die dar, die es sich leisten konnten dort behandelt zu werden. Die Kluft zwischen Arm und Reich scheint in Rumänien noch größer als anderswo, die Korruption, gerade auch in Krankenhäusern, scheint allgegenwärtig. Einerseits zu verstehen bei monatlichem Gehalt eines Arztes von umgerechnet 500 € bei Mietpreisen vergleichbar mit denen in einer deutschen Großstadt und Lebensmittelpreisen nur unwesentlich unter westeuropäischem Niveau. Viele der Ärzte arbeiten zusätzlich abends in privaten Praxen. Von einigen der Jugendlichen erfuhr ich auch, dass sie selber oder Verwandte gar nicht oder nur unzureichend behandelt wurden, weil sie nicht „das nötige Kleingeld“ hatten. Zwar gibt es einige Ärzte, die sich der Korruption entgegen stellen, doch leider stehen sie ziemlich allein da.
Ein ganz anderes Thema, das den Alltag und das Miteinander in diesem Land bestimmt ist die „Problematik“ der „Zigeuner“ (ich schreibe bewusst Zigeuner und nicht „Roma“ wie es vielleicht für uns korrekter wäre, weil ich von allen Jugendlichen nur diesen Ausdruck hörte und einige nichts mit dem Begriff Roma anfangen konnten). Unterhält man sich mit Rumänen, so wird man relativ schnell darauf hingewiesen, sich doch von den „Zigeunern“ fern zu halten oder zumindest aufzupassen, wenn man sich in ihrer Nähe aufhalte, denn auch wenn man eigentlich nichts gegen sie habe, liegt es bei den meisten nun mal im Blut zu klauen, auch wenn es genug Ausnahmen gibt, die sich hervorragend an die Gesellschaft angepasst haben.
Ein weiterer riesiger Kontrast besteht zwischen der doch sehr hektischen in Bewegung scheinenden Großstadt und der Schönheit der angrenzenden Natur. Schon als ich das erste Mal durch die Karpaten fuhr um mir auf der anderen Seite in Transsylvanien die Stadt Brasov/Kronstadt und das berühmt berüchtigte Draculaschloss anzusehen, verliebte ich mich in die Berge und tatsächlich schaffte ich es am Ende meines Aufenthalts noch mal einen kleinen Ausflug dorthin zu unternehmen.
Die meiste Zeit an den Wochenenden und innerhalb der Woche verbrachte ich damit mich vollends auf die Kinder und Jugendlichen einzulassen. So bin ich immer noch sehr dankbar die Erfahrung gemacht zu haben, einige Stunden in das Leben auf der Straße eintauchen zu können. Ich sehe noch Szenen vor mir, wie ich einem schäbigen Haus, das von der Wasserversorgung abgetrennt wurde, neben einem Jugendlichen sitze und mich mit ihm unterhalte während er neben mir seinen Aurolac schnüffelt. In einer völlig anderen Szene mache ich mit einigen der Jugendlichen und Kinder aus dem Lazar und mit ein paar der anderen Volontäre einen „Ausflug“ in den riesengroßen Einkaufskomplex am Flughafen.
Zusammenfassung
Zusammenfassend würde ich sagen, dass mich der Aufenthalt für viele Probleme im eigenen Umkreis und Land sensibilisiert hat. In Rumänien schien einfach alles nur offensichtlicher. Meine Vorstellung vom Land der Gegensätze fand ich ebenfalls bestätigt. Ich konnte es beinahe auf jeden Bereich übertragen. Angefangen von der Architektur der Stadt - sehr typisch sind alte kleine Backsteinkirchen umgeben von sozialistischen Plattenbauten, über die Hektik, den Lärm, die drückende Hitze im Sommer, die einem manchmal schier den Atem nehmen will im Vergleich zur Ruhe, Klarheit der Berge. Über die streunenden Hunde, die von vielen gehasst und doch irgendwo geliebt werden bis hin zu den Menschen, die in der Stadt leben: die offensichtliche Armut vieler und den zur Schau getragenen Reichtum der Besserbetuchten. Manchmal kam ich mir vor, als lebte ich in zwei Welten. So war ich an den Wochenenden oft mit meinen neu gewonnenen Freunden unterwegs und genoss das Bukarester Nachtleben oder machte Ausflüge in die sehr hübschen Ortschaften Siebenbürgens, in denen man noch den Einfluss der Siebenbürger Sachsen sehen kann und man sich auf Deutsch hervorragend verständigen kann. Die andere Seite war der Alltag, die Woche über im Lazar, das feste Programm bestehend aus Gebet, Rumänischunterricht, einfachem Essen (ich selbst mag Mammaliga ja sehr gerne), Übernahme kleinerer Aufgaben und Mitgestaltung von Programmpunkten für die Jugendlichen waren die Tage sehr ausgefüllt. An diesem Ort, an dem trotz der Probleme diese überschwängliche Herzlichkeit zu Hause zu sein scheint, konnte man nicht einsam sein und nur schwer allein. Alle zieht es irgendwann an diesen Ort zurück.
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